TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/26 W110 2174817-1

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Veröffentlicht am 26.03.2021
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Entscheidungsdatum

26.03.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W110 2174817-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark vom 03.10.2017, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger der paschtunischen Volksgruppe, stellte am 16.02.2016 nach illegaler Einreise in das österreichische Staatsgebiet den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung gab der Beschwerdeführer u.a. als Fluchtgrund an, dass er gemeinsam mit seiner Familie Afghanistan acht Jahre zuvor verlassen habe, weil die Taliban gewollt hätten, dass sie ihnen helfen. Sein Vater habe die Zusammenarbeit mit den Taliban verweigert und die Familie sei deswegen bedroht worden.

3. Im Zuge seiner Einvernahme vor der belangten Behörde am 02.10.2017 brachte der Beschwerdeführer vor, dass er mit seiner Familie Afghanistan ungefähr 10 Jahre zuvor verlassen habe, weil die Taliban gewollt hätten, dass die Söhne der Familie mit ihnen zusammenarbeiten. Sein Vater sei dagegen gewesen.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers sowohl gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I 100/2005 zuletzt geändert durch BGBl. I 145/2017 (im Folgenden: AsylG 2005), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I 87/2012 idF BGBl. I 53/2019 (im Folgenden: BFA-VG), wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I 100/2005 idF BGBl. I 110/2019 (im Folgenden: FPG), erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt III und IV.). Nach Wiedergabe der Einvernahmeprotokolle stellte die belangte Behörde die Verfahrensidentität, Staatsangehörigkeit und Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers fest. Eine konkrete individuelle Verfolgung des Beschwerdeführers konnte die belangte Behörde nicht feststellen.

5. Mit Verfahrensanordnung vom 03.10.2017 stellte die belangte Behörde gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG dem Beschwerdeführer von Amts wegen einen Rechtsberater zur Seite.

6. Gegen diesen Bescheid richtete sich die vorliegende, rechtzeitig eingebrachte und zulässige Beschwerde wegen einer unschlüssigen Beweiswürdigung und rechtlicher Beurteilung infolge eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens. Der Beschwerdeführer legte gemeinsam mit der Beschwerde auch Beweismittel zu seinem Fluchtvorbringen und zur allgemeinen Sicherheits- und Versorgunglage in Afghanistan vor.

7. Mit Schriftsatz vom 11.12.2018 legte der Beschwerdeführer Urkunden zu seiner integrativen Tätigkeit in Österreich vor.

8. In seiner Stellungnahme vom 09.02.2021 äußerte sich der Beschwerdeführer insbesondere zu den Gründen, aus welchen ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zugemutet werden könne und legte entsprechende Beweismittel vor. Weiters legte er Unterlagen zur Bescheinigung seiner Integration vor.

9. Am 15.02.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer mit einer Vertreterin sowie einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu teilnahm. In der Verhandlung wurden alle entscheidungsrelevanten (Sachverhalts-) Aspekte eingehend erörtert.

10. Beweis wurde erhoben durch Einvernahme des Beschwerdeführers, durch Einsichtnahme in den Inhalt des Verwaltungsaktes, in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen sowie in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Fassung vom 16.12.2020.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Folgender Sachverhalt steht fest:

1.1. Zur Situation in Afghanistan:

1.1.1. Allgemeines:

Ende Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen, das den Abzug der US-Truppen binnen 14 Monaten vorsieht. Auch die übrigen NATO-Truppen sollen abgezogen werden. Im Gegenzug verpflichteten sich die Taliban, terroristischen Gruppierungen, wie etwa al-Qaida, keine Zuflucht zu gewähren und binnen zehn Tagen nach Vertragsunterzeichnung Friedensgespräche mit einer afghanischen Regierungsdelegation aufzunehmen. Die Taliban zögerten den Einstieg in die Verhandlungen aufgrund der politischen Krise rundum die Präsidentschaftswahlen hinaus, warfen der Regierung vor, ihren Teil der von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre. Schließlich starteten im September 2020 die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar, ohne dass die Gewalt nachgelassen hätte. Da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, machen die Gespräche keine Fortschritte (LIB 16.12.2020, S. 18f.).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan sowie Islamic Movement of Uzbekistan, und stellt nicht nur für die beiden Länder, sondern für die gesamte Region eine Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität dar (LIB 16.12.2020, S. 26).

1.1.2. Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil: Die afghanische Regierung behielt die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die afghanische Armee aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen (um Provinzhauptstädte herum stationierte) Koalitionstruppen – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation".

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020 – 30.9.2020 wurden 5.939 zivile Opfer verzeichnet. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Jedoch nahmen die Taliban-Attacken im Juni 2020 deutlich zu. Die Zahl ziviler Opfer stieg im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden.

Die UNAMA registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht. Es gab 2019 eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (LIB 16.12.2020, S. 22ff.).

Ein anderes Problem ist die Straßen-Kriminalität in den großen Städten Afghanistans: Im vergangenen Jahr wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet (LIB 16.12.2020, S. 36).

1.1.2.1. Situation in Kabul (Stadt/Provinz)

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans mit rund 4,5 Mio. Einwohnern. Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Jede ethnische, sprachliche bzw. religiöse Gruppe hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, wodurch eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden ist, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls.

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes, inklusive der Ring Road, welche die fünf größten Städte Afghanistans miteinander verbindet. Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher, weil dort Aufständische Teile der Straße kontrollieren, wobei sich Kontrollen der Aufständischen gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten. Der Highway Kabul-Jalalabad ist eine wichtige Handelsroute, die oft als „eine der gefährlichsten Straßen der Welt“ gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind. 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, steht unter der Kontrolle der Taliban, wobei die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen haben. In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand November 2020 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (LIB 16.12.2020, S. 33ff.).

Die afghanische Regierung behielt die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen: So erfolgten Angriffe auf schiitische Feiernde und auf einen Sikhtempel in März 2020 sowie auf Bildungseinrichtungen, wie die Universität, oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020, für die allesamt der Islamische Staat die Verantwortung übernahm. Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich, was bei Angriffen in Kabul des Öfteren vorkommt (LIB 16.12.2020, S. 36).

Im Jahr 2019 wurden 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul dokumentiert, was einem Rückgang von 16% gegenüber 2018 entspricht. Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und gezielten Tötungen. Im letzten Quartal des Jahres 2019 sowie in den ersten Monaten des Jahres 2020 wurden in der Hauptstadt weniger Anschläge verübt. Seit dem zweiten Quartal 2020 hat die Gewalt wieder zugenommen. Neben Angriffen auf militärische Einrichtungen bzw. Sicherheitskräfte finden sowohl in Kabul-Stadt wie auch in den Distrikten der Provinz Straßenblockaden und Angriffe auf Highways durch bewaffnete Gruppierungen statt (LIB 16.12.2020, S. 37).

1.1.2.2. Situation in Herat

Herat gehört zu den „bessergestellten“ und „sichereren Provinzen“ Afghanistans und weist historisch im Vergleich zu anderen Teilen des Landes wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf (LIB 16.12.2020, S. 302).

Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktebene unterscheidet sich voneinander: Während einige Distrikte als unsicher gelten, weil die Kontrolle zwischen der Regierung und den Taliban umkämpft ist, kam es in Herat-Stadt in den letzten Jahren vor allem zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, jedoch nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen gebracht hätten. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, die in letzter Zeit in der Stadt Herat gemeldet wurden, fielen meist in zwei Kategorien: gezielte Tötungen und Angriffe auf Polizeikräfte. Darüber hinaus fanden im Juli und September 2020 sowie Oktober 2019 Angriffe statt, die sich gegen Schiiten richteten. Je weiter man sich von der Stadt Herat, die im Januar 2019 als „sehr sicher“ galt, und von ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban. Pushtkoh und Zerko befanden sich im Februar 2020 vollständig in ihrer Hand, während die Kontrolle der Regierung in Obe auf das Distriktzentrum beschränkt ist. In Shindand befindet sich angeblich das „Taliban-Hauptquartier“ von Herat. Die Taliban kontrollierten Ende November 2020 jedoch keinen Distrikt von Herat vollständig. Mehrere Distrikte wie Adraskan, Ghoryan, Gulran, Kushk, Kushk-i-Kuhna, Obe und Shindand sind umstritten, während die Distrikte um die Stadt Herat unter der Kontrolle der Regierung stehen (LIB 16.12.2020, S. 99).

Im Jahr 2019 wurden 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat gezählt. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper, gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen. Im Jahr 2020 wurden mehrere Fälle von zivilen Opfern aufgrund von Luftangriffen gemeldet. Es kam in mehreren Distrikten der Provinz Herat zu Kämpfen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban sowie zu Angriffen der Taliban auf Regierungseinrichtungen (LIB 16.12.2020, S. 100f.).

1.1.2.3. Situation in Mazar-e Sharif

Balkh, deren Hauptstadt Mazar-e Sharif ist, zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen. Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Kontrolle der Taliban stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten.

Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oft Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem (LIB 16.12.2020, S. 59).

Im Jahr 2019 wurden 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh gezählt. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und gezielten Tötungen. Im Zeitraum 1.1.-30.9.2020 wurden 553 zivile Opfer (198 Tote, 355 Verletzte) in der Provinz dokumentiert, was mehr als eine Verdopplung gegenüber derselben Periode im Vorjahr ist. Im ersten Halbjahr 2020 war hinsichtlich der Opferzahlen die Zivilbevölkerung in den Provinzen Balkh und Kabul am stärksten vom Konflikt in Afghanistan betroffen. Der UN-Generalsekretär zählte Balkh in seinen quartalsweise erscheinenden Berichten über die Sicherheitslage in Afghanistan im März und Juni 2020 zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes, und auch im September galt Balkh als eine der Provinzen mit den schwersten Taliban-Angriffen im Land. Es kam zu direkten Kämpfen und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren oder Sicherheitsposten (LIB 16.12.2020, S. 60f.).

1.1.3. Versorgungslage in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif:

Die Wirtschaft der Provinz Kabul hat einen weitgehend städtischen Charakter, wobei die Bevölkerung in Beschäftigungsfeldern, wie dem Handel, Dienstleistungen oder einfachen Berufen, tätig ist. Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung. Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten. Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Der durchschnittliche Verdienst eines ungelernten Tagelöhners in Afghanistan variiert zwischen 100 AFN und 400 AFN pro Tag (LIB 16.12.2020, S. 301f.)

Das rasante Wachstum der Stadt verstärkte Probleme wie unangemessene Unterkünfte, unzureichende sanitäre Einrichtungen, Landraub und fehlende Eigentumsurkunden, Armut, Verkehr, Umweltverschmutzung und Kriminalität. Der erhöhte Wasserverbrauch in Kabul angesichts des Wachstums der informellen Siedlungen ist eine potenzielle Quelle für Spannungen. Die Kaufkraft verschlechterte sich in Kabul, wobei von einem Rückgang der Kaufkraft von Gelegenheitsarbeitern um 31% ausgegangen wird (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 30.9.2020, S. 20f.).

Was die Nahrungsmittelversorgung betrifft, bewertet das FEWS NET die Versorgungslage in Herat und in Mazar-e Sharif mit Phase 2 (Phase 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“), wonach die Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage sind, sich wesentliche, nicht-nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden.

Die COVID-19-Pandemie und der damit einhergehende Lockdown hatten katastrophale Auswirkungen auf die Lebensgrundlage der afghanischen Bürger: Aufgrund des Lockdowns verloren rund sechs Mio. Menschen Arbeit und Einkommen (siehe dazu auch weiter unten unter 1.1.7.5). Die Inflation der Preise bei Grundnahrungsmitteln wie Öl und Kartoffeln verschärfte die wirtschaftliche Notlage eines erheblichen Teils der afghanischen Bevölkerung (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Masar-e Sharif vom 16.10.2020).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat (wie in den anderen Städten Afghanistans auch) für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar: Viele Menschen der städtischen Population leben in Slums oder inadäquaten Unterkünften, doch besteht in Herat grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70 %) und zu Abwasseranlagen (30 %). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO Guidance 2019, S. 133).

1.1.4. Ethnische Minderheiten und Religion:

Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Nichtsdestotrotz besteht soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 16.7.2020, S. 8).

1.1.5. Menschenrechtslage:

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen (u. a. von Frauen wegen „moralischer Straftaten“) und sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Weitere Probleme sind Gewalt gegenüber Journalisten, Verleumdungsklagen, durchdringende Korruption und fehlende Verantwortlichkeit und Untersuchung bei Fällen von Gewalt gegen Frauen. Diskriminierung von Behinderten, ethnischen Minderheiten sowie aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht und sexueller Orientierung besteht weiterhin mit geringem Zuschreiben von Verantwortlichkeit (LIB 16.12.2020, S. 235).

Ob eine Person bedroht ist, kann nur unter Berücksichtigung regionaler und lokaler Gegebenheiten und unter Einbeziehung sämtlicher individueller Aspekte des Einzelfalls, wie Ethnie, Konfession, Geschlecht, Familienstand und Herkunft, beurteilt werden (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 16.7.2020, S. 6).

Personen, die aus Afghanistan fliehen, können einem Verfolgungsrisiko aus Gründen ausgesetzt sein, die mit einem fortwährenden Konflikt in Afghanistan oder mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die nicht in direkter Verbindung zum Konflikt stehen, zusammenhängen oder auf Grund einer Kombination aus beiden Gründen. Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab (Bericht des deutschen Außenamtes vom 16.7.2020, S. 18).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister. Das Personenstands- und Urkundenwesen ist kaum entwickelt. Die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Wegen Verwendung von Wohnungen zur Vorbereitung terroristischer oder krimineller Taten in der Vergangenheit müssen insbesondere in Kabul und in Mazar-e Sharif unter Umständen (z.B. in Stadtzentren) gewisse Melde- und Ausweisvorgaben beim Mieten einer Wohnung oder eines Hauses erfüllt werden. Gemäß gesetzlichen Vorgaben haben Mieter und Vermieter beim Mietvertragsabschluss ihre Identität mit einem Ausweis nachzuweisen, was jedoch nicht immer eingehalten wird. In Gebieten ohne hohes Sicherheitsrisiko ist es oftmals möglich, ohne Identitätsnachweis oder Registrierung bei der Polizei eine Wohnung zu mieten. Dies hängt allerdings auch vom Vertrauen des Vermieters in den potentiellen Mieter ab (LIB 16.12.2020, S. 296). Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 16.7.2020, S. 18).

1.1.6. Rekrutierung durch die Taliban:

Das Konfliktschema in Afghanistan hat sich seit der Übergangsperiode 2014 verändert: Die Taliban konzentrieren sich seither auf den Aufbau einer professionelleren militärischen Organisation. Das hat Folgen für die Rekrutierung, sowohl im Hinblick auf das Profil der rekrutierten Personen, als auch im Hinblick auf ihre Ausbildung. Religion und die Idee des Dschihad spielen bei der Rekrutierung weiterhin eine bedeutsame Rolle, ebenso die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Es sind Fälle von Zwangsrekrutierung dokumentiert, sie bilden allerdings die Ausnahme. Die Rekrutierung durch die Taliban ist nicht durch Zwang, Drohungen und Gewalt gekennzeichnet. Das Profil der rekrutierten Personen hat sich insofern verändert, als es sich nun um Personal handelt, das im direkten Konflikt mit dem Feind stehen wird. Das lässt vermuten, dass die Taliban sich aktiver als bisher bemühen, Personal mit militärischem Hintergrund und/oder militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Mitglieder werden auf der Grundlage ihrer Beziehung, ihres Rufes und ihrer Position von den Kommandanten persönlich rekrutiert. Ohne Zustimmung der Familie, insbesondere des Familienoberhaupts, wird für gewöhnlich nicht rekrutiert. Diejenigen zwischen 15 und 18 Jahren, die den Taliban eingegliedert werden, werden vermutlich nur nach Einsatzfähigkeit und Qualifikationen beurteilt, d.h. man wird mobilisiert, wenn man als tauglich befunden wird (Landinfobericht 2017 zur Rekrutierung durch die Taliban, S. 20 - 27).

Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden. Die Rekrutierer bedienen sich dabei skrupelloser Herangehensweisen. Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren weiterhin Kinder, um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen zu verwenden, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln sowie als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung (UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 7f.).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge – arbeitslose – Männer aus ländlichen Gemeinden, die eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnische Paschtunen sind. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch paschtunisch ist, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB 16.12.2020, S. 27).

Die Rekrutierung durch die Taliban läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura ist für die Rekrutierung verantwortlich. In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen. Die Taliban haben keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (LIB 16.12.2020, S. 231). Männer im wehrfähigem Alter und Kinder im Kontext von Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung können je nach den spezifischen Umständen des Falls Risikoprofilen entsprechen (UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 59f).

Zwangsrekrutierungsversuche der Taliban, nämlich junge Leute zu zwingen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, bleiben lokal beschränkt, wenn es keine Feindschaft zwischen den Taliban und den betroffenen Personen gibt. D.h. in Bezug auf Personen, die vor den Taliban in die Großstädte flüchteten, ist deren Verfolgung für die Taliban uninteressant, weil diese Aktion kostspielig und für die Taliban mit großem Risiko verbunden ist (Auszug aus einem Sachverständigen-Gutachten zu W172 2161730-1/25E und W172 2161730-2/12E).

1.1.7. Rückkehr:

1.1.7.1 Rückkehrmöglichkeiten

In Afghanistan gibt es insgesamt vier internationale Flughäfen (in Kabul, Herat, Mazar e-Sharif und Kandahar); alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnet die afghanische Luftfahrtindustrie einen Anstieg in der Zahl ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung (LIB 13.11.2019, S. 15 und 209).

1.1.7.2 Rückkehrsituation

Von 1.1.2020 bis 12.9.2020 sind 527.546 undokumentierter Afghanen aus Iran (523.196) und Pakistan (4.350) nach Afghanistan zurückgekehrt. Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (LIB vom 16.12.2020, S. 321).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen: Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit, sich darauf einzustellen, ist Hilfe von Hilfsorganisationen nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind.

1.1.7.3 Soziale Verhältnisse für Rückkehrer

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte.

Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein: Über sie können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird. UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB vom 16.12.2020, S. 322).

Rückkehrer aus Europa und anderen Regionen der Welt werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Gleichzeitig hängt ihnen insbesondere innerhalb ihrer Familien oftmals der Makel des Scheiterns an. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (Bericht des deutschen Außenamtes vom 16.7.2020, S. 25). Es gibt Fälle zwangsrückgeführter Afghanen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt wurden, „verwestlicht“ und damit unislamisch zu sein, und die verdächtigt wurden, ein Spion zu sein. Auch wird geglaubt, Rückkehrer aus Europa wären reich und würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB 16.12.2020, S. 323). Dass afghanische Rückkehrer aufgrund einer wahrgenommenen „Verwestlichung“ mit Misstrauen konfrontiert sind, betrifft nicht alle Rückkehrer, da es so viele Afghanen gibt, die einmal Flüchtlinge gewesen sind. Es kommt aber mit gewisser Regelmäßigkeit vor und betrifft insbesondere schiitische Hazara, die bereits von vielen nicht als „echte Muslime“ angesehen werden (ACCORD-Anfragebeantwortung vom 15.6.2020, S. 17).

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig. Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren (LIB 16.12.2020, S. 323f.).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (ca. € 0,35) bis 100 Afghani (ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO Guidance 2019 S. 133).

1.1.7.4 Gesundheitsversorgung

Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet kaum bis gar nicht statt. Insbesondere im Zuge der Covid-19-Pandemie zeigten sich Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das bei Vorsorge (Schutzausstattung), Diagnose (Tests) sowie medizinischer Versorgung von Erkrankten akute Defizite aufwies (Bericht des deutschen Außenamtes vom 16.12.2020, S. 23).

Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Die Voraussetzung zur kostenfreien Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis bzw. Tazkira. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinz-Level ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet, und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort KrankenpflegerInnen anstelle von ÄrztInnen, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinz-Level oder höher vorgenommen werden; auf Distriktsebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Auch dies gilt allerdings nicht für das gesamte Land, da in Distrikten mit guter Sicherheitslage in der Regel mehr und bessere Leistungen angeboten werden können als in unsicheren Gegenden. Zahlreiche Afghanen begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (LIB 16.12.2020, S. 310f.).

Innerhalb der afghanischen Bevölkerung leiden viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat mentale Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt, doch der Fortschritt ist schleppend und die Leistungen außerhalb Kabuls dürftig. In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden – genauso wie Kranke und Alte – gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung sicherstellen. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik. Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in manchen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Menschen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und unter anderem bei folgenden Organisationen behandelt werden: bei International Psychosocial Organisation (IPSO) Kabul, Medica Afghanistan und PARSA Afghanistan (LIB 16.12.2020, S. 318 f.).

1.1.7.5 COVID-19-Pandemie in Afghanistan

Laut WHO sind am 10.2.2021 in Afghanistan 18 neuinfizierte Personen, insgesamt 55.402 COVID-19-infizierte Personen und 2.418 aufgrund dieses Virus verstorbene Personen offiziell bestätigt worden (covid19.who.int). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat.

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020). (LIB 16.12.2020, S. 12).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat, wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe, wie Öl, deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark.

Verfügbare Indikatoren zeigen Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen weiter verschärft. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB 16.12.2020, S. 13f.).

Exkurs: UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und EASO-Country Guidance vom Dezember 2020 zu internen Schutzalternativen in afghanischen Städten:

UNHCR stellt fest, dass gerade Zivilisten, die in städtischen Gebieten ihren tagtäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer dieser Gewalt zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe, sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.

UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist (UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018).

Afghanische Staatsangehörige, die über einen längeren Zeitraum außerhalb des Landes gelebt haben, verfügen möglicherweise nicht über die zur Deckung grundlegender existenzieller Bedürfnisse erforderlichen Ortskenntnisse, die durch ein bestehendes Unterstützungsnetzwerk vermittelt werden könnten. Zu berücksichtigen ist der persönliche Hintergrund des Rückkehrers, einschließlich seine Bildungs- und Berufserfahrung und seine Verbindungen sowie seine Erfahrung, allein außerhalb Afghanistans zu leben. Für Rückkehrer, die über einen sehr langen Zeitraum außerhalb Afghanistans gelebt haben oder gar dort geboren wurden, ist eine innerstaatliche Schutzalternative möglicherweise nicht begründbar, wenn sie nicht über ein Unterstützungsnetzwerk verfügen, das ihnen den Zugang zu Grundnahrungsmitteln erleichtert (EASO Country Guidance Afghanistan 2020, S. 176).

1.2. Zur Person des Beschwerdeführers:

1.2.1. Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch genannten Namen und ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er wurde in der Provinz Kapisa geboren, gehört der paschtunischen Volksgruppe an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Paschtu.

Im Alter von rund fünf Jahren reiste der Beschwerdeführer ca. im Jahr 2001 gemeinsam mit seiner Familie in den Iran aus. Dort konnte er keine Schule besuchen. Der Beschwerdeführer hat im Iran als Bauarbeiter gearbeitet. In Österreich hat er den Pflichtschulabschluss absolviert und zwischenzeitlich mit Dienstleistungschecks gearbeitet, mangels Beschäftigungsbewilligung jedoch keine weitere Berufstätigkeit ausüben können.

Seine Eltern, seine beiden Schwestern und drei seiner Brüder leben nach wie vor in XXXX , im Iran. Die Eltern des Beschwerdeführers sind krank, weswegen einer seiner Brüder die Familie des Beschwerdeführers finanziell versorgt. Ein weiterer (jüngerer) Bruder des Beschwerdeführers lebt ebenfalls in Österreich und ist Beschwerdeführer im Verfahren zu W2174813-1.

Der Beschwerdeführer steht mit allenfalls noch in Afghanistan lebenden Verwandten nicht in Kontakt. Sein Großvater und zwei Onkeln väterlicherseits lebten vor der Ausreise des Beschwerdeführers im Jahr 2001 in der Stadt Tagab in der Provinz Kapisa. Ob sie noch am Leben sind und – wenn ja – wo sie leben, ist unbekannt.

Im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan wäre der Beschwerdeführer keiner wie immer gearteten individuellen konkreten Verfolgung ausgesetzt. Der Beschwerdeführer würde daher im Entscheidungszeitpunkt auch nicht von den Taliban oder anderen Personen in Afghanistan verfolgt.

Der Beschwerdeführer ist gesund und unbescholten.

Der Beschwerdeführer kann nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in bestimmte Landesteile, wie insbesondere die Städte Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif, verwiesen werden. Dem Beschwerdeführer wäre es im Fall einer Niederlassung in diesen Städten nicht möglich, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, so wie es auch seine Landsleute führen können. Im Fall einer dortigen Ansiedlung liefe er Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung, nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

2. Diese Feststellungen gründen auf folgender Beweiswürdigung:

2.1. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen beruhen auf den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten. Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation basiert auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen und gewährleistet einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Afghanistan. Ein entsprechender Beweiswert dieser Informationen ergibt sich für das Bundesverwaltungsgericht schon daraus, dass aufgrund von § 5 Abs. 2 BFA-Einrichtungsgesetz vorgesehen ist, dass die gesammelten Tatsachen länderspezifisch zusammenzufassen, nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten (als allgemeine Analyse) und in allgemeiner Form zu dokumentieren sind. Die Dokumentation ist weiters in Bezug auf Fakten, die nicht oder nicht mehr den Tatsachen entsprechen, zu berichtigen. Eine allenfalls auf diese Tatsachen aufbauende Analyse ist schließlich richtig zu stellen. Sofern dem LIB Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass die Informationen über die Lage im Herkunftsstaat regelmäßig aktualisiert werden und jene Informationen, die nicht durch neue Berichte ersetzt werden, mangels einer maßgeblichen Änderung der Sachlage nach wie vor relevant für die Lagebeurteilung im Herkunftsstaat sind. Für das Bundesverwaltungsgericht bestand kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Ihre Richtigkeit wurde auch von den Verfahrensparteien nicht bestritten. Für das Bundesverwaltungsgericht bestand kein Grund, an der Richtigkeit der Länderberichte, die sowohl von staatlichen Stellen, wie dem deutschen Außenamt, als auch von renommierten Nichtregierungsorganisationen stammen, zu zweifeln.

2.2. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Fluchtgründen:

2.2.1. Die Feststellungen zur Nationalität, Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Ausbildung, seiner Erwerbstätigkeit im Iran sowie zu seinen familiären Verhältnissen gründen auf den insoweit unbedenklichen Angaben des Beschwerdeführers sowohl in der Einvernahme vor der belangten Behörde als auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Dies gilt gleichfalls für die Feststellungen hinsichtlich seiner gesundheitlichen Verfassung (siehe S. 6f. der Verhandlungsniederschrift [in Folge: „VHS“] und AS 272).

Was den Zeitpunkt der Ausreise aus Afghanistan anbelangt, wird nicht übersehen, dass der Beschwerdeführer im behördlichen Verfahren angegeben hatte, etwa im Jahr 2008 Afghanistan (mit seinen Eltern) verlassen zu haben, was er erst spät, nämlich in der Beschwerdeverhandlung korrigierte (VHS S. 4f.). In der Beschwerdeverhandlung wurden die Gründe dafür, dass der Beschwerdeführer unterschiedliche Angaben über den Ausreisezeitpunkt gemacht hat, intensiv hinterfragt (VHS S. 5). Wenn auch der Verdacht auf der Hand liegen muss, dass der Beschwerdeführer mit dieser Richtigstellung in der Beschwerdeverhandlung die Erfolgsaussichten seines Antrags hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erhöhen wollte, wird den korrigierten Angaben deshalb Glaubwürdigkeit zuerkannt, weil der Ausreisezeitpunkt im Jahr 2001 zusammen mit den vorgebrachten Ausreisegründen sowie mit dem aufgrund der Kriegswirren verloren gegangenen Kontakt zu den Verwandten vor Ort ein durchaus stimmiges Bild vermittelt: Die als Anlass zur Ausreise geschilderte Aufforderung der Taliban, dass sich die Söhne der Familie ihnen anzuschließen hätten, erscheint vor allem für Gebiete realistisch, die von den Taliban uneingeschränkt kontrolliert werden, was insbesondere in der Zeit der Taliban-Herrschaft der Fall war (zu den aktuelleren Rekrutierungsmethoden der Taliban siehe oben 1.1.6.).

Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit gründet auf einem von Amts wegen eingeholten Strafregisterauszug.

2.2.2. Eine konkrete individuelle und aktuelle Verfolgung des Beschwerdeführers konnte aus folgenden Erwägungen nicht den Feststellungen zugrunde gelegt werden:

Die geschilderten Rekrutierungsversuche der Taliban gegenüber den älteren Brüdern des Beschwerdeführers blieben im gesamten Verfahren vage und beruhten ausschließlich auf Hören-Sagen, weil der Beschwerdeführer aufgrund seines jungen Alters im Fluchtzeitpunkt über keine eigenständigen diesbezüglichen Wahrnehmungen verfügte (vgl. AS 276). Mangels entsprechender Substantiierung der behaupteten Konfliktsituation und angesichts des Umstands, dass der Rekrutierungsversuch schon rund 20 Jahre zurückliegt und (wenn nicht weitere besondere Umstände hinzutreten) auch als regional beschränkt zu qualifizieren wäre, konnte eine aktuelle individuelle konkrete Verfolgung des Beschwerdeführers nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden.

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer mit Verwandten – sofern sie noch in Afghanistan an einem unbekannten Aufenthaltsort leben – nicht in Kontakt steht, stützt sich auf seine eigene Aussage, die insofern unverändert geblieben ist (VHS S. 6; AS 272) und im Lichte des lange zurückliegenden Ausreisezeitpunkts in einer besonderen Phase des afghanischen Bürgerkriegs plausibel erscheint.

2.2.3. Die Feststellung darüber, dass es dem Beschwerdeführer nicht möglich wäre, in einer der oben erwähnten Großstädte Afghanistans Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten wie andere Afghanen zu führen, beruht auf folgenden Überlegungen:

Der Beschwerdeführer ist gesund und ohne ersichtliche Einschränkungen seiner Erwerbsfähigkeit. Er hat zwar Afghanistan im Kindesalter verlassen und ist im Iran aufgewachsen, doch ist ihm der afghanische Kulturkreis zumindest teilweise vertraut, weil er in einer afghanisch geprägten Familie im Iran sozialisiert ist.

Gemäß den Länderfeststellungen ist jedoch die Rückkehr für Afghanen, die entweder schon lange im Ausland lebten oder sich überhaupt noch nie zuvor in Afghanistan aufgehalten haben, mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden, sodass diese Personen zum Aufbau einer Existenz auf ein familiäres oder soziales Netzwerk vor Ort angewiesen sind. Der Beschwerdeführer verfügt über ein solches Netzwerk nicht. Der in Österreich befindliche jüngere Bruder, der allenfalls mit dem Beschwerdeführer nach Afghanistan zurückkehren könnte, würde dieses soziale Netz nicht ersetzen, zumal er selbst noch nie in Afghanistan (außer im Kleinkindalter) gelebt hat. Daher konnte in Anbetracht seines Alters und der fehlenden ausreichenden Berufserfahrung nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass der Beschwerdeführer im Entscheidungszeitpunkt bei einer Abschiebung nach Afghanistan seinen Unterhalt selbst bestreiten können würde. Es konnte somit nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückführung nach Afghanistan nicht in eine aussichtslose Lage geraten würde (siehe im Übrigen dazu weiter unten 3.2.2).

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids:

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates oder wegen Schutzes in einem EWR-Staat oder in der Schweiz zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (i.d.F. des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) – deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – ist ein Flüchtling, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist somit die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 u.v.a.).

Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht gemäß § 3 AsylG 2005 setzt positiv getroffene Feststellungen der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, 95/01/0627). Nach ständiger Rechtsprechung stellt im Asylverfahren das Vorbringen des Asylwerbers die zentrale Entscheidungsgrundlage dar. Dabei genügen aber nicht bloße Behauptungen, sondern bedarf es, um eine Anerkennung als Flüchtling zu erwirken, hierfür einer entsprechenden Glaubhaftmachung durch den Asylwerber (vgl. VwGH 04.11.1992, 92/01/0560). Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.

3.1.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens konnte eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden. Anhaltspunkte, die eine mögliche individuelle Verfolgung des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat als wahrscheinlich erscheinen lassen, sind im gesamten Verfahren nicht hervorgekommen.

3.1.3. Hinsichtlich des sich auf den Iran beziehenden Fluchtvorbringens des Beschwerdeführers ist anzumerken, dass eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen hier schon deshalb nicht besteht, weil sich die begründete Furcht vor Verfolgung auf jenes Land beziehen muss, dessen Staatsangehörigkeit der Asylwerber besitzt (in diesem Fall Afghanistan). Die Furcht vor Verfolgung in einem Land, das nicht das Heimatland ist, kann nämlich dadurch abgewendet werden, dass man den Schutz des Heimatlandes in Anspruch nimmt (VwGH 08.11.1989, 89/01/0338). Zudem ist eine Abweisung eines Asylantrages nicht als rechtswidrig zu erkennen, wenn sich die vom Asylwerber konkret geschilderten, seine Person betreffenden Fluchtgründe nicht auf eine Bedrohung in seinem Herkunftsstaat beziehen, sodass insofern keine Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat behauptet wurde (VwGH 02.03.2006, 2004/20/0240).

3.2 Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids:

3.2.1 Wird ein Asylantrag „in Bezug auf die Zuerk

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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