Entscheidungsdatum
06.04.2021Norm
AlVG §16Spruch
W164 2238330-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Rotraut LEITNER als Vorsitzende sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert POROD (aus dem Kreis der ArbeitgeberInnen) und Mag. Kurt RETZER (aus dem Kreis der ArbeitnehmerInnen) als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Arbeitsmarktservice vom 06.11.2020, GZ: XXXX , AMS 969-Wien Wagramer Straße, nach Durchführung einer im Umlaufweg gem. §11 des Bundesgesetzes betreffend Begleitmaßnahmen zu COVID-19 in der Justiz , BGBl I Nr. 16/2020 in der Fassung BGBl Nr. I 156/20, abgehaltenen nicht öffentlichen Beratung zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben.
Spruchpunkt A des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 1 und Abs 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) dahingehend abgeändert, als er zu lauten hat: „Das von 01.04.2020 bis 31.05.2020 wegen eines Auslandsaufenthaltes von XXXX gemäß § 16 Abs 1 lit g AlVG eingetretene Ruhen des ihm gebührenden Arbeitslosengeldes wird gemäß § 16 Abs 3 AlVG nachgesehen.“
Spruchpunkt B des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 1, Abs 2 und Abs 5 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Zur Vorgeschichte:
Das letzte vollversicherungspflichtige Dienstverhältnis des Beschwerdeführers (im Folgenden: BF) endete am 31.03.2020.
Der BF meldete sich am 01.04.2020 beim Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) via E-Mail arbeitslos. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt in Bangladesch, was er nicht meldete. Dem BF wurde daraufhin Arbeitslosengeld in Höhe von EUR 51,12 täglich zuerkannt.
Durch Einlangen eines anonymen Hinweises vom 03.06.2020 wurde das AMS darauf aufmerksam, dass sich der BF im Ausland befand. Daraufhin wurde der Bezug von Arbeitslosengeld mit 01.06.2020 eingestellt und ein entsprechendes Ermittlungsverfahren eingeleitet. Das AMS erfuhr so, dass sich der BF von 06.03.2020 bis 04.07.2020 im Ausland befunden hatte.
Am 16.07.2020 erließ das AMS einen Rückforderungsbescheid gem. §§ 24 und 25 AlVG für die im Zeitraum 01.04.2020 bis 31.05.2020 ausbezahlte Leistung in Höhe von EUR 3.118,32. Dagegen brachte der BF fristgerecht Beschwerde ein. Nach Beschwerdevorentscheidung und Vorlageantrag wurde die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Dieses Beschwerdeverfahren ist beim Bundesverwaltungsgericht unter der Zl. W 266 2236671-1 anhängig.
Der BF hatte in seiner Beschwerde unter anderem argumentiert, dass er unverschuldet durch den Corona-Virus in seine Lage gekommen sei. Er sei am 05.03.2020, somit fast zwei Wochen vor der (ersten) Verhängung eines „Lock-downs“ ins Ausland gereist und habe damals noch keine Kenntnis über die späteren Maßnahmen haben können (Einstellung des Flugverkehrs). Wäre es nicht zum Lock-down gekommen, so wäre der BF gar nicht arbeitslos geworden, sondern nach seinem Urlaub mit seiner Familie am 07.04.2020 nach Österreich zurückgekehrt. Der BF habe alles versucht, um einen Flug nach Österreich zu erlangen. Er habe Kontakt mit der Botschaft für Bangladesch in Österreich aufgenommen, ebenso mit dem Außenministerium in Österreich. Einen Rückflug habe er jedoch erst für 04.07.2020 erlangen können. Das AMS hätte auch Nachsicht gewähren können. Der BF verweise auf § 16 Abs 3 AlVG.
Das AMS fasste dieses Vorbringen als Antrag auf Nachsicht vom Ruhen des Arbeitslosengeldes gem. § 16 Abs 3 AlVG auf.
Im Rahmen einer niederschriftlichen Befragung vom 28.09.2020 hatte der BF angegeben, er habe gleich nach dem Lock-Down versucht, bei der österreichischen Botschaft in New Dehli anzurufen, sei aber nicht durchgekommen. Im Mai 2020 habe er die Botschaft telefonisch erreicht und habe sie auf deren Aufforderung in der Folge schriftlich kontaktiert. Auch mit seinem XXXX -Club habe der BF Kontakt gehalten, da dort ein Kollege, der in Deutschland wohnte und arbeitete, vor ähnlichen Problemen stand. Der BF legte vor: das E-Ticket der Fluggesellschaft XXXX betreffend den Hinflug von Wien nach Dhaka vom 05.03.2020 und Rückflug vom 07.04.2020, weiters eine schriftliche Anfrage des Bangladesch XXXX Clubs XXXX an das österreichische Außenministerium vom 05.05.2020 betreffend in Österreich lebende Personen aus Bangladesch, die im Urlaub nach Bangladesch heimgekehrt waren, nun nicht wie geplant nach Österreich zurückkehren konnten und als Folge dessen nun in Bangladesch mit aufenthaltsrechtlichen Problemen konfrontiert waren. Auch die Beantwortung dieses Schreibens durch das österreichische Außenministerium wurde vorgelegt.
Das AMS hatte seinerseits eine Anfrage an die österreichischen Botschaft in New Dehli gerichtet. In Beantwortung dieser Anfrage gab die Botschaft bekannt, dass aus Datenschutzgründen keine Auskunft zu den Anfragen/Botschaftskontakten einer Einzelperson erteilt werden. Jedoch könne grundsätzlich Nachstehendes mitgeteilt werden: Einen österreichischen Rückholflug aus Bangladesch habe es nie gegeben. Vereinzelt sei es österreichischen Staatsbürgern und in Österreich lebenden Ausländern möglich gewesen, von Evakuierungsflügen befreundeter Staaten und einem einzigen von der EU organisierten Flug zu profitieren. Jedoch seien die Ticketpreise sehr hoch gewesen (meist zwischen € 1000,-- und 2000,-- pro Person aber auch deutlich mehr) und durch die österreichische Botschaft in New Dehli nicht beeinflussbar. Auch habe die Österreichische Botschaft in New Dehli die Zulassung bestimmter Personen zu diesen Flügen nicht zwingend beeinflussen können. Auch ein Flug von Bangladesch nach Indien sei nicht möglich gewesen.
Zum hier anhängigen Verfahren:
Mit dem hier verfahrensgegenständlichen Bescheid vom XXXX , GZ: XXXX , AMS 969-Wien Wagramer Straße, Spruchpunkt A, sprach das AMS aus, dass dem Antrag des BF auf Nachsicht vom Ruhen des Arbeitslosengeldes wegen Auslandsaufenthaltes für den Zeitraum 01.04.2020 bis 31.05.2020 gemäß § 16 Abs. 1 lit. g und Abs. 3 Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 (AlVG), BGBl. Nr. 609/1977 idgF keine Folge gegeben werde. Mit Spruchpunkt B dieses Bescheides schloss das AMS die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 13 Abs. 2 VwGVG aus.
Begründend wurde ausgeführt, dass die vom BF angegebenen Gründe nach Anhörung des Regionalbeirates keine Nachsicht erwirkt hätten. Es seien keine hinreichenden Belege über ein Bemühen der Rückkehr nachgewiesen worden. Zur Begründung des Spruchpunktes B führte das AMS aus, dass die Verfügbarkeit für den österreichischen Arbeitsmarkt bei einem Auslandsaufenthalt in der Regel nicht gegeben sei, weshalb § 16 Abs. 1 lit. g AlVG – dem Zweck der Norm folgend – ein Ruhen des Arbeitslosengeldes für diesen Zeitraum vorsehe. Das Gewähren einer aufschiebenden Wirkung würde diesem – im öffentlichen Interesse liegenden – Normzweck der Regelung widersprechen.
Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde und brachte vor, er sei im September 2019 mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn nach Bangladesch geflogen. Wegen eines Dienstverhältnisses sei er wieder nach Österreich zurückgekehrt, seine Familie sei jedoch weiterhin im Ausland geblieben. Es sei vereinbart worden, dass er sie bei nächster Gelegenheit wieder abholen würde. Zu diesem Zweck sei der BF am 05.03.2020 – er habe dafür Urlaub genommen - nach Bangladesch gereist. Das Ausmaß der nachfolgenden COVID-Pandemie sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu erahnen gewesen. Man habe geplant, nach dem Urlaub gemeinsam zurück nach Wien zu reisen. Die nachfolgenden Maßnahmen betreffend die COVID-Pandemie hätten die gemeinsame Rückreise nach Österreich zum geplanten Termin unmöglich gemacht. Die weite Reise von Bangladesch nach Wien mit einem Kleinkind (2 Jahre alt) alleine zu bewältigen, wäre gefährlich und der Ehefrau des BF nicht zumutbar gewesen. Es liege ein Nachsichtsgrund aus zwingenden familiären Gründen vor. Der BF beantragte eine mündliche Verhandlung.
Mit Einlangensdatum 05.01.2021 wurde der Beschwerdeakt dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt. In einer ergänzenden Stellungnahme vertrat das AMS die Meinung, es sei kein zwingender familiärer Grund gegeben. Das Element „zwingend“ müsse als Ausdruck gesellschaftlicher Konventionen verstanden werden. Ein familiärer Grund sei dann „zwingend“, wenn er nach der Verkehrsauffassung sittlich geboten erscheine (z.B. die Teilnahme an der Beerdigung eines Elternteils, an Hochzeiten von Geschwistern etc.). Im gegenständlichen Fall habe der BF seine Gattin und das gemeinsame Kind im Herbst 2019 nach Bangladesch begleitet, um dort Unterstützung bei der Kinderbetreuung durch Verwandte zu erhalten. Es sei zwar nachvollziehbar, dass der BF seine Gattin bei der Reise nach Wien unterstützen wollte, einen zwingenden familiären Grund stelle dies jedoch nicht dar: Eine Flugreise mit Kleinkind sei zu zweit zwar leichter bewerkstelligen, als allein, jedoch seien Alleinreisende mit Kleinkindern durchaus üblich und es würden sich nach kurzer Internetrecherche unzählige Websites, Blogs uä. betreffend Erfahrungen von Alleinreisenden mit Kleinkindern bzw. entsprechenden Tipps finden. Ein – wenngleich unstrittig vor Eintritt der Arbeitslosigkeit gebuchter – Familienurlaub im Ausland stelle keinen zwingenden familiären Grund dar. Im Übrigen werde auf die Ausführungen im Bezugsakt W226 223667-1 (gemeint W 266 2236671-1) verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Hinsichtlich der Feststellungen des Sachverhalts wird auf Punkt I. „Verfahrensgang“ verwiesen.
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt betreffend das hier anhängige Verfahren und betreffend das Beschwerdeverfahren W 266 2236671-1.
Der Sachverhalt ist ausreichend ermittelt: Im Wesentlichen unbestritten und durch das vorgelegte E-Ticket belegt ist die Feststellung, dass der BF wenige Wochen vor dem Lock-down des März 2020 seinen Urlaub in seinem Herkunftsland antrat, um seine Frau, die mit dem gemeinsamen Kind mehrere Monate bei ihren Verwandten verbracht hatte, nach dem geplanten Urlaub auf ihrer Rückreise nach Österreich zu begleiten. Weiters ist unbestritten, dass der BF als Folge des Lowk-downs im März 2020 – dass dieser Lock-down für so gut wie alle Betroffenen unvorhersehbar war, kann als allgemein bekannt vorausgesetzt werden –arbeitslos wurde und den für 07.04.2020 geplanten Rückflug nicht mehr antreten konnte.
Soweit das AMS im angefochtenen Bescheid argumentiert, der BF habe keine hinreichenden Belege über ein Bemühen der Rückkehr nachgewiesen, wird dem folgendes entgegengehalten.
Das vom AMS im Verfahren W 266 2236671-1 eingeholte Schreiben der österreichischen Botschaft New Dehli belegt, dass es keinen österreichischen Rückholflug aus Bangladesch gab und dass es österreichischen Staatsbürgern und in Österreich lebenden Ausländern nur teilweise und zu sehr hohen Preisen möglich war, von Evakuierungsflügen befreundeter Staaten bzw. von einem einzigen von der EU organisierten Flug zu profitieren.
Unter Berücksichtigung dieser Auskunft der österreichischen Botschaft ist dem BF zu glauben, dass er trotz diesbezüglicher Bemühungen als Folge der allgemeinen Ausnahmesituation erst am 04.07.2020 wieder nach Österreich einreisen konnte. Sein Vorbringen, er habe sich bereits unmittelbar nach dem Lock-down erfolglos um Telefongespräche im Sinne einer Lösung bemüht, erscheint auch vor dem Hintergrund der allgemein bekannten Begleitumstände zu Beginn des ersten Lock-downs im März und April 2020 glaubwürdig. Die vom BF vorgelegten Dokumente indizieren ebenfalls, dass der BF von der Situation des Lock-Down unfreiwillig überrascht wurde und um eine Lösung bemüht war. Dem im angefochtenen Bescheid vertretenen Gegenargument, der BF habe keine hinreichenden Belege über ein Bemühen für eine Rückkehr vorlegen können, wird daher nicht gefolgt.
Da der Sachverhalt ausreichend klar ermittelt ist, erscheint die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung nicht geboten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gemäß § 56 Abs. 2 AlVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide einer Geschäftsstelle durch einen Senat, dem zwei fachkundige Laienrichter angehören, je einer aus dem Kreis der Arbeitgeber und einer aus dem Kreis der Arbeitnehmer. Im vorliegenden Fall war daher Senatszuständigkeit gegeben.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Zu A) Stattgabe der Beschwerde:
Sache des Verfahrens:
Sache des Beschwerdeverfahrens ist der Gegenstand des Verfahrens in der Vorinstanz, also jene Angelegenheit, die den Inhalt des Spruches des angefochtenen Bescheides der Unterinstanz gebildet hat. (vgl. VwGH 2013/10/0155 vom 22.04.2015). Es ist der Rechtsmittelinstanz verwehrt, diesen Gegenstand des Verfahrens zu überschreiten, da der Partei in diesem Fall eine Instanz genommen werden würde. (vgl. VwGH 20. März 2012, 2012/11/0013). Im angefochtenen Bescheid wird der Antrag auf Ruhen für die Zeit von 01.04.2020 bis 31.05.2020 abgelehnt.
Im angefochtenen Bescheid wurde die vom BF beantragte Nachsicht vom Ruhen für den Zeitraum 01.04.2020 bis 31.05.2020 verneint. Die Entscheidung lässt auch nicht erkennen, dass etwa implizit über den danach liegenden Zeitraum mitentschieden werden sollte.
Sache des Beschwerdeverfahrens ist daher die Frage der Nachsicht vom Ruhen für den Zeitraum 01.04.2020 bis 31.05.2020.
In der Sache:
Die im gegenständlichen Beschwerdefall maßgebenden Bestimmungen lauten:
Ruhen des Arbeitslosengeldes
§ 16. (1) Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht während
(…)
g) des Aufenthaltes im Ausland, soweit nicht Abs. 3 oder Regelungen auf Grund internationaler Verträge anzuwenden sind,
(…)
(3) Auf Antrag des Arbeitslosen ist das Ruhen des Arbeitslosengeldes gemäß Abs. 1 lit. g bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände nach Anhörung des Regionalbeirates bis zu drei Monate während eines Leistungsanspruches (§ 18) nachzusehen. Berücksichtigungswürdige Umstände sind Umstände, die im Interesse der Beendigung der Arbeitslosigkeit gelegen sind, insbesondere wenn sich der Arbeitslose ins Ausland begibt, um nachweislich einen Arbeitsplatz zu suchen oder um sich nachweislich beim Arbeitgeber vorzustellen oder um sich einer Ausbildung zu unterziehen, oder Umstände, die auf zwingenden familiären Gründen beruhen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes tritt] das Ruhen des Anspruches auf Arbeitslosengeld grundsätzlich ex lege ein (vgl. VwGH 18.07.2014, 2012/08/0289). In Bezug auf § 16 Abs. 1 lit. g und § 16 Abs. 3 AlVG bedeutet dies, dass das Ruhen an sich automatisch eintritt, wenn ein Auslandsaufenthalt vorliegt, es sei denn, dass Nachsicht vom Ruhen des Arbeitslosengeldes im Sinne des § 16 Abs. 3 AlVG gewährt worden wäre.
Der Antrag auf Nachsichtsgewährung kann, da eine gesetzliche Befristung nicht vorgesehen ist, auch noch nach dem Auslandsaufenthalt gestellt werden. (VwGH 20.4.2001, 2000/19/0114).
Die Nachsicht vom Ruhen des Arbeitslosengeldes ist bei Vorliegen von berücksichtigungswürdigen Umständen zwingend vorzunehmen (vgl. VwGH 26.05.2004, 2001/08/0182).
Als berücksichtigungswürdige Gründe für die zwingende Nachsichtsgewährung werden in § 16 Abs 3 AlVG demonstrativ folgende Umstände angeführt:
- Umstände, die im Interesse der Beendigung der Arbeitslosigkeit gelegen sind, insb Auslandsaufenthalt des Arbeitslosen zur nachweislichen Suche nach einem Arbeitsplatz oder nachweislichem Vorstellen bei einem Arbeitgeber oder um sich einer Ausbildung zu unterziehen,
- Umstände, die auf zwingenden familiären Gründen beruhen.
Zum Begriff „zwingende familiäre Gründe“
Der Wortlaut und die dargestellten Motive der Gesetzwerdung des § 16 Abs 3 AlVG zeigen, dass nur in Ausnahmefällen familiäre Gründe berücksichtigungswürdige Umstände für die Erteilung der Nachsicht vom Ruhen des Anspruches datstellen können (VwGH 2001/08/0182 vom 26.05.2004). Die in den Materialien zu § 16 Abs 3 AlVG (282 BlgNR 17.GP9) vorgenommene Aufzählung (z.B. Verehelichung, Begräbnis von Familienangehörigen) ist demonstrativ (beispielhaft). Sie schließt die Nachsicht bei der Teilnahme an anderen, nach Herkommen und Sitte bedeutenden Familienereignissen nicht aus (VwGH 20.10.2004, 2004/08/0023).
Auch dort nicht aufgezählte Umstände können somit als Nachsichtsgrund gewertet werden. Auch die Ermöglichung angemessener soziale Kontakte mit den im Herkunftsstaat verbliebenen Familienangehörigen kann das Vorliegenden eines Nachsichtsgrundes begründen (VwGH 2003/08/0270 vom 20.10.2004).
Fehlt das besondere Gewicht einzelner familiärer Gründe, so kann dieses durch die Zahl und Intensität des Zusammentreffens mehrerer Elemente aufgewogen werden, sodass sie insgesamt einem zwingenden familiären Grund an Bedeutung gleichkommen (vgl. VwGH 2006/08/0297 vom 10.09.2007).
Ein Familienurlaub im Ausland, wobei die gesamte Familie im Inland wohnt, stellt per se keinen zwingenden familiären Grund iSd § 16 Abs 3 AlVG dar, auch dann nicht, wenn der Urlaub vor Eintritt der Arbeitslosigkeit gebucht wurde.
(Quelle: Sdouz/Zechner, Arbeitslosenversicherungsgesetz, 17. Lieferung(März 2020), Lexis Nexis, RZ 403ff zu § 16 AlVG)
Bezogen auf den gegenständlichen Sachverhalt ergibt sich daraus:
Im vorliegenden Fall hat der BF zunächst Anfang März 2020 seinen Urlaub in seinem Herkunftsland angetreten, dies in der Absicht, seine Frau und sein Kind wiederzusehen - beide hatten die Monate davor in Bangladesch bei den Verwandten verbracht – seine Verwandten zu besuchen und nach dem Ende des Urlaubs, Anfang April 2020, mit seiner Ehefrau und seinem zweijährigen Kind wieder nach Österreich zurückzukehren.
Aufgrund des ab Mitte März 2020 eingetretenen „Lockdowns“ im Rahmen der COVID 19 Pandemie wurde das Arbeitsverhältnis des BF mit 31.03.2018 beendet. Der am 07.04.2020 geplante Rückflug konnte nicht angetreten werden. Ein Rückflug war bis zum Ende des hier gegenständlichen Zeitraums nicht möglich.
Der Aufenthalt des BF in Bangladesch diente nur zum Teil dem Ziel, sich im Urlaub zu erholen. Der primäre Zweck dieses Aufenthaltes bestand darin, den Urlaub dazu zu nutzen, seine sozialen Kontakte zu seiner Familie und zu seinen in Bangladesch wohnhaften Verwandten aufrecht erhalten zu können und seine Frau, die gemeinsam mit dem 2018 geborenen Kind ein halbes Jahr bei ihren Verwandten verbracht hatte, auf ihrer Rückreise nach Österreich - es handelt sich hier um eine lange Flugreise, die nicht ohne Zwischenlandungen bewältigt werden konnte - zu begleiten. Sowohl die Tatsache, dass der Auslandsaufenthalt in eine Phase der Arbeitslosigkeit fiel, als auch die Dauer des Auslandsaufenthaltes waren Folge ungeplanter und unvorhergesehener Ereignisse. Der BF befand sich in einer unverschuldeten Ausnahmesituation.
Der hier vorliegende Sachverhalt bildet in seiner Gesamtheit einen zwingenden familiären Grund iSd § 16 Abs 3 AlVG für den hier gegenständlichen Auslandsaufenthalt.
Soweit das AMS einwendet, es sei zwar nachvollziehbar, dass der BF seine Gattin bei der Reise nach Wien unterstützen wollte, einen zwingenden familiären Grund stelle dies jedoch nicht dar, denn eine Flugreise mit Kleinkind sei zu zweit zwar leichter bewerkstelligen, als allein, jedoch seien Alleinreisende mit Kleinkindern durchaus üblich und es würden sich nach kurzer Internetrecherche unzählige Websites, Blogs uä. betreffend Erfahrungen von Alleinreisenden mit Kleinkindern bzw. entsprechenden Tipps finden, so ist dem entgegenzuhalten, dass die Reise von Bangladesch nach Wien nach allgemeiner Lebenserfahrung auch für Reisende ohne Verantwortung für ein mitreisendes Kleinkind mit erheblichen Anstrengungen (etwa Zwischenlandungen in der Nacht auf schlecht ausgerüsteten Flughäfen) und unvorhergesehenen Zwischenfällen (etwa dem Ausfall eines Anschlussfluges) verbunden sein kann. Es erscheint daher nachvollziehbar, dass der BF seine Frau mit dem gemeinsamen Kleinkind bei ihrer Rückreise von Bangladesch nach Wien begleiten wollte, um den Flug für alle Beteiligten sicher und ruhig über die Bühne zu bringen.
Im vorliegenden Fall war aufgrund des Zusammentreffens mehrerer relevanter Elemente insgesamt vom Vorliegen eines zwingenden familiären Grundes iSd § 16 Abs 3 AlVG auszugehen.
Dass der BF seinen Auslandsaufenthalt dem AMS anlässlich seines Antrages auf Arbeitslosengeld nicht gemeldet hatte, ist für die hier gegenständliche Beurteilung nicht relevant.
Dem verfahrensgegenständlichen Antrag auf Nachsicht vom Ruhen war daher Folge zu geben. Spruchpunkt B über die aufschiebende Wirkung war ersatzlos zu beheben.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
Arbeitslosengeld Auslandsaufenthalt familiäre Situation Nachsichterteilung Pandemie Rückkehrsituation Ruhen des AnspruchsEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W164.2238330.1.00Im RIS seit
16.06.2021Zuletzt aktualisiert am
16.06.2021