Entscheidungsdatum
12.04.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
G315 2183362-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei vertreten durch Dr. Helmut Blum LL.M., MAS, LL.M. gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl Zl. XXXX vom 15.12.2017 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.03.2021 zu Recht:
A)
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt 1., 2. und I. wird als unbegründet abgewiesen.
Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt 3. und 4. stattgegeben und die Spruchpunkte 3. und 4. werden behoben. Es wird festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Gem. § 55 Abs. 1 AsylG 2005 BGBl I 2005/100 idgF wird INAL Adem, geb. 16.04.1993, StA. Türkei eine "Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in weitere Folge auch kurz „BF“ genannt) reiste im Jahr 2012 nach Schweden, wo er einen bis Juni 2014 befristeten Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis innehatte. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt reiste er zurück in die Türkei. Von dort reiste er im Juli 2016 schlepperunterstützt aus und in das österreichische Bundesgebiet ein. Am 26.07.2016 stellte er vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der Erstbefragung am Tag der Antragstellung legte der BF dar, den im Spruch ersichtlichen Namen zu tragen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei Kurde und gehöre der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er habe in einem Dorf in XXXX gelebt und sei zuletzt als Koch/Kellner tätig gewesen. Er habe die Grundschule und eine allgemeinbildende höhere Schule besucht. Seine Eltern und eine Schwester seien in der Türkei und dort im Dorf wohnhaft, in welchem auch er vor seine Ausreise wohnte. Eine Schwester lebe in Österreich, eine andere in Schweden.
Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der BF zusammengefasst vor, die Türkei am 1.7.2016 illegal von seinem Heimatdorf ausgehend verlassen zu haben. Er sei mit einem Reisebus nach Istanbul gefahren und dann auf dem Landweg schlepperunterstützt mit einem türkischen Lastkraftwagen nach Österreich gelangt.
Zum Akt genommen wurden Kopien eines Personalausweises, ausgestellt am 17.10.2012 in Stockholm.
Zu den Gründen seiner Ausreise befragt führte der BF aus, dass er Wehrdienstverweigerer sei. Er wolle nicht gegen seine Brüder kämpfen. Ihr Leben in der Türkei sei nicht in Sicherheit. Das habe auch der letzte Putschversuch in der Türkei gezeigt. Sie dürften ihre kurdische Muttersprache nicht sprechen. Weiters habe man in der Türkei keine Meinungsfreiheit. Das kurdische Volk werde unterdrückt. Nachgefragt gab er an, dass es gegen ihn keinen Haftbefehl gebe, aber er würde in der Türkei als Wehrdienstverweigerer gesucht.
2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, die nunmehr belangte Behörde (in weiterer Folge auch kurz „bB“ genannt) holte eine Auskunft beim Migrationsverket, der schwedischen Migrationsbehörde, ein, welcher zufolge der BF eine befristete Aufenthaltsgenehmigung und eine Arbeitserlaubnis in Schweden von 19.6.2012 bis 19.6.2014 innehatte und seine Ausreise mit 15.12.2014 verzeichnet sei. Ferner geht daraus hervor, dass der BF in Schweden nicht um Asyl angesucht hat.
3. In der Folge wurde der BF am 23.10.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Linz, im Beisein einer geeigneten Dolmetscherin in türkischer Sprache niederschriftlich vor der zur Entscheidung berufenen Organwalterin einvernommen.
Eingangs legte der BF dar, der türkischen Sprache mächtig zu sein und der Einvernahme in gesundheitlicher Hinsicht folgen zu können. Er habe bislang im Verfahren wahrheitsgemäße Angaben getätigt. Es sei alles richtig protokolliert und rückübersetzt worden.
Zu seinem Lebenslauf gab der BF an, er sei in einem Dorf in XXXX aufgewachsen, habe vier Jahre Volksschule, vier Jahre Hauptschule und drei Jahre eine höhere Schule besucht. 2011 sei er mit der Schule fertig geworden. Er habe – nicht regelmäßig – in einem Restaurant gearbeitet. Nebenbei sei er in kurdischen Vereinen tätig geworden. Mit 18 habe er zwei Jahre in Schweden gelebt (sic). Dort habe er einen Aufenthaltstitel gehabt und dort sei er bis zu seiner Ausreise aufhältig gewesen. Er sei nicht verheiratet und habe keine Kinder. Die Angaben zu seiner Familie in der Erstbefragung seien noch aufrecht. Der Vater sei Beamter in Pension, die Mutter Hausfrau. Er telefoniere täglich mit seinen Angehörigen in der Türkei. Diesen ginge es gut; die Mutter habe jedoch Migräne.
Zu seinen Gründen für die Ausreise aus der Türkei gab der BF zusammengefasst an, dass er als Kurde in der Türkei unterdrückt worden sei. Auch in der Schule sei er gemobbt worden. Er habe Angst vor dem Tod, weil er nicht zum Militär wolle. Es würden sehr viele Soldaten aus seiner Provinz im Wehrdienst getötet. Er sei sich sicher, dass er seinen Wehrdienst im Osten ableiten müsse und daher sicher sterben würde. Der Staat wolle, dass Kurden gegen Kurden kämpfen. Er wolle ein schönes Leben haben. Es gehe ihm nicht um die wirtschaftliche Unabhängigkeit. Er habe nur Todesangst wegen dem Militär und der psychischen Unterdrückung.
Weiters befragt, gab der BF an, er habe einen Einberufungsbefehl erhalten, aber einen Aufschub von drei Jahren bekommen. Diesen Aufschub habe er auf Bemühungen seines Vaters erhalten, als er in Schweden gewesen sei. In Schweden habe er zwei Jahre lang gelebt. Seine Schwester lebe dort. Er habe keine Arbeit gefunden und auch nicht um Asyl angesucht. Es lebten dort viele Türken und keine Kurden. Er habe dort nicht leben wollen. Nach seiner Ausreise aus Schweden sei er von März oder April 2015 bis Juli 2016 in der Türkei gewesen. Er sei dort nicht gemeldet, er sei untergetaucht gewesen. Die Polizei hätte ihn bei seinen Eltern gesucht. Diese hätten gesagt, dass sie keinen Kontakt zum BF hätten.
Zu den Problemen wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit befragt, gab der BF an, er sei psychisch unterdrückt worden. Er habe z.B. keinen Sport in einem Verein machen können. Er sei immer ausgegrenzt worden und habe kein Kurdisch in der Öffentlichkeit sprechen dürfen. Er habe seine Kultur nicht frei leben können. In dem kurdischen Verein, in welchem er tätig gewesen sei, hätten Sie Geld für die PKK gesammelt. Das hätten sie alles heimlich gemacht und sie hätten nie Probleme deshalb bekommen. Zum Putschversuch in der Türkei befragt, gab er an, dass er zu dieser Zeit schon in Österreich gewesen sei.
Zu den Befürchtungen in Bezug auf den Wehrdienst gab der BF zusammengefasst an, dieser würde 12 Monate dauern und er würde sicher schon in den ersten Monaten in den Osten geschickt und müsse dort bleiben und gleich kämpfen.
Im Weiteren wurde der BF zu seiner Integration befragt und wurde ihm eine Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen zu den ihm ausgehändigten Länderberichten freigestellt.
Der BF gab abschließend an, die Dolmetscherin gut verstanden zu haben. Mit seiner Unterschrift bestätigte der BF, die Richtigkeit und Vollständigkeit des Protokolls und den Umstand, dass ihm das Protokoll rückübersetzt wurde.
4. Zum Akt genommen wurden Ablichtungen des Personalausweises und des Reisepasses des BF. Beide Dokumente wurden im Jahr 2012 in Stockholm ausgestellt.
5. Mit dem hier angefochtenen und im Spruch näher bezeichneten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des BFs auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt 1.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 6 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt 2.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt I.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wider den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt 3.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt 4.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für eine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt 5.).
Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – soweit für das Beschwerdeverfahren von Relevanz – nach der Wiedergabe der Einvernahmen des BF und den Feststellungen zu dessen Person und zu dessen Privat- und Familienleben insbesondere aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der BF einer konkreten persönlichen asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung in der Türkei ausgesetzt gewesen sei bzw. eine solche zukünftig zu befürchten hätte. Dem BF sei eine Rückkehr in die Türkei möglich und zumutbar.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte seiner Entscheidung zum damaligen Zeitpunkt aktuelle Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des BFs zugrunde.
Beweiswürdigend erwog die bB im Wesentlichen, dass der BF keine konkreten Verfolgungshandlungen geschildert habe. Dies beziehe sich sowohl auf seine Ausführungen in Bezug auf den Militärdienst als auch in Bezug auf die Volksgruppenzugehörigkeit. Der BF sei noch nicht einmal bei der Musterung gewesen und sei daher noch nicht festgestellt worden, ob der BF überhaut tauglich für den Militärdienst sei. In Anbetracht der Länderfeststellungen könnten vereinzelte Vorfälle bei der Ableistung des Militärdienstes nicht ausgeschlossen werden, es könne jedoch auch nicht festgestellt werden, dass Wehrdienstleistende generell relevanten Nachteilen aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit ausgesetzt wären. Eine gezielt gegen den BF gerichtete Verfolgung habe er nicht darlegen können. Auch in Bezug auf die allgemein gehaltenen Schilderungen zu den Problemen wegen der Volksgruppenzugehörigkeit ließen sich keine konkreten Gefährdungen oder Verfolgungshandlungen ableiten.
In der rechtlichen Beurteilung wurde begründend dargelegt, warum der seitens des BF vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG 2005 biete und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt wurde, weshalb gegen den BF eine Rückkehrentscheidung erlassen, weshalb festgestellt wurde, dass die Abschiebung in die Türkei zulässig sei und weshalb die Frist für eine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
6. Mit Verfahrensanordnungen vom 19.12.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben und der BF ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
7. Gegen den rechtswirksam zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde im Wege der rechtsfreundlichen Vertretung des BF innerhalb offener Frist in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht, insbesondere wegen Vorliegens von Verfahrensfehlern, mangelhafter Ermittlung der materiellen Wahrheitsfindung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung, Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben.
Zunächst wird das ausreisekausale Vorbringen wiederholt und moniert, dass sich die belangte Behörde inhaltlich nicht mit dem vorgebrachten Fluchtgrund auseinandergesetzt habe und die Ausführungen den eigenen Feststellungen widersprächen. Ferner wurde auf ein länderkundiges Gutachten eines Sachverständigen aus dem Jahr 2003 in einem andern Verfahren verweisen.
Darüber hinaus wendet sich der BF in mehreren Punkten gegen die Beweiswürdigung des belangten Bundesamtes.
Ferner wurde darauf hingewiesen, dass der BF in einem kurdischen Verein tätig gewesen sei und Spendengelder gesammelt habe. Sollte dies aufgrund der Inhaftierung eines weiteren Mitgliedes dieses Vereins den Behörden zur Kenntnis gelangen, hätte der BF mit massiven Konsequenzen zu rechnen.
Im Übrigen wurde auf die nachhaltige Integration des BF verweisen und wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.
8. Die Beschwerdevorlage langte am 18.1.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde der Gerichtsabteilung L526 zugewiesen. In weiterer Folge wurde die Rechtssache durch Beschluss des Geschäftsverteilungsausschusses der Gerichtsabteilung L526 abgenommen und der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.
9. Mit Eingabe vom 24.4.2019 und 20.8.2019wurden verschiedenen Integrationsunterlagen, wie etwa Bestätigungen über die Teilnahme an Sprachkursen für das Niveau A2 und B1 und Zertifikate über bestandene Prüfungen sowie ein Zeugnis zur bestandenen Integrationsprüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz B1 und zu Werte- und Orientierungswissen, vorgelegt. Mit Eingabe vom 3.12.2019 wurde ein Arbeitsvertrag, der unter der aufschiebenden Bedingung des Erhalts eines Aufenthaltstitels zwischen dem BF und einem Malereibetrieb abgeschlossen wurde, vorgelegt.
10. Zusammen mit der Ladung vom 25.2.2021 wurden dem BF im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung zur Vorbereitung der für den 15.3.2021 anberaumten mündlichen Verhandlung aktuelle länderkundliche Dokumente zur allgemeinen Lage in der Türkei, insbesondere das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, verschieden Berichte des British Home Office übermittelt und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu bis eine Woche vor der mündlichen Verhandlung schriftlich Stellung zu nehmen.
11. Am 8.3.2021 langte eine Stellungnahme zu den Länderberichten ein, worin unter anderem auf einen Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 16.9.2020 zur Situation kurdischer Personen im Militärdienst verwiesen wurde. Ferner wurde auf die fortgeschrittene Integration des BF in Österreich verwiesen.
12. Am 15.3.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein eines Vertreters der bB und eines Dolmetschers für die türkische Sprache durchgeführt. Im Verlauf der Verhandlung wurde die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand der dem BF im Vorfeld übermittelten und den in der Verhandlung übergebenen Länderdokumentationsunterlagen erörtert und wurde dem BF Gelegenheit geboten, seine Gründe für die Ausreise erneut darzulegen und Fragen zu seiner Integration zu beantworten.
13. In weiterer Folge langte die Übersetzung eines in der mündlichen Verhandlung in türkischer Sprache vorgelegten Dokumentes ein. Ferner wurde von der erkennenden Richterin aufgrund der in der Verhandlung dazu erteilten Erlaubnis mit dem Vertretungsbefugten jenes Unternehmens Rücksprache telefonisch Rücksprache gehalten, mit welchem der BF einen Arbeitsvertrag einging. Anlässlich dieses Telefonates gab der Geschäftsführer dieses Unternehmens an, der unterzeichnete Arbeitsvertrag sei noch aufrecht. Es sei auch gerade eine Stelle zu besetzen und der BF könne bei ihm anfangen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Verfahrensbestimmungen
Gemäß § 27 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I Nr. 57/2018, hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4 VwGVG) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3 VwGVG) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
2. Feststellungen:
2.1. Der BF führt den im Spruch angegebenen Namen und ist Staatsangehöriger der Türkei, wo er bis zum Jahr 2012 und dann nach seiner Wiedereinreise bis zum Jahr 2016 lebte.
Der BF verfügte von 19.6.2012 bis 19.6.2014 über einen Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis in Schweden, wo er auch wohnhaft war. Nach Ablauf seiner Aufenthaltserlaubnis verließ er Schweden zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt, um in die Türkei zurückzukehren. Im Jahr 2016 verließ er die Türkei erneut, um in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.
Er ist Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, bekennt sich zum Islam sunnitischer Prägung, führt keine Beziehung und ist kinderlos. Der BF beherrscht die Sprachen Türkisch auf muttersprachlichem Niveau. Die Identität des BFs steht fest.
Der BF besuchte in der Türkei die Grundschule, die Hauptschule und drei Jahre lang eine höhere Schule. Danach arbeitete er nicht regelmäßig in einem Restaurant.
Gegenwärtig halten sich seine Eltern und eine Schwester im Herkunftsort des BF in der Türkei auf. Eine Schwester lebt in Österreich, eine andere in Schweden. Der BF steht mit seiner Familie in Kontakt.
2.2. Der BF gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen.
Der BF ist in einem kurdischen Verein tätig, entfaltete während seines Aufenthaltes in Österreich jedoch kein nennenswertes (exil-)politisches Engagement. Eine Verfolgung aufgrund der Mitgliedschaft in dem genannten Verein ist nicht feststellbar.
Der BF gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.
Der BF unterlag vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat keiner individuellen Gefährdung und war keiner psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt und wird im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat einer solchen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein.
Der BF unterliegt bei einer Rückkehr in die Türkei auch nicht der Gefahr einer von staatlichen Organen oder von Privatpersonen ausgehenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie.
Der BF konnte auch mit seinem Vorbringen, in der Türkei den Wehrdienst ableisten zu müssen, keine ihm im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat drohende Verfolgungsgefahr aus den in der GFK genannten Gründen, die dem Herkunftsstaat zurechenbar wäre, glaubhaft machen.
Ob der BF den Wehrdienst tatsächlich noch abzuleisten hat, kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Im Zweifel ist jedoch davon auszugehen, falls er dann auch für tauglich befunden werden sollte.
Ob der BF bereits einen Einberufungsbefehl erhielt und ihm wegen der Verletzung der Stellungspflicht ohne gesetzlich vorgesehene Entschuldigung und dem Fernbleiben von seiner Einberufung ein „Festnahmeprotokoll“ oder Anordnungen übermittelt wurden oder ob ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, kann ebenfalls nicht festgestellt werden.
Es kann darüber hinaus nicht festgestellt werden, dass der BF die Ableistung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen verweigert.
Der BF würde im Fall einer tatsächlichen Einberufung zu den türkischen Streitkräften im Rahmen der Wehrpflicht aber nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei Kampfhandlungen eingesetzt. Er müsste sich im Rahmen seines Wehrdienstes nicht an völkerrechtswidrigen Militäraktionen beteiligen. Ferner kann nicht festgestellt werden, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder eine Generalmobilmachung stattfinden würde. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass Rekruten systematischen Misshandlungen unterliegen bzw. der BF im Zuge der Verrichtung seines Militärdienstes mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit solche zu erwarten hat. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass dem BF – sollte er sich weigern, seinen Militärdienst abzuleisten – eine unverhältnismäßig hohe Strafe droht bzw. dass die Verbüßung einer Haftstrafe in der Türkei an sich schon eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt.
2.3. Dem BF droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge im der Türkei.
2.4. Der BF ist ein arbeitsfähiger Mensch mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherten Existenzgrundlage. Er verfügt über Berufserfahrung in der Gastronomie. Dem BF ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.
Der BF leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung. Er ist gesund und bedarf keiner medikamentösen oder ärztlichen Behandlung.
Der BF verfügt für den Fall der Rückkehr über ein türkisches Identitätsdokument (Personalausweis und Reisepass) im Original und über eine Wohnmöglichkeit bei seiner Familie in der Türkei, insbesondere bei seinen Eltern im Heimatdorf in der Provinz XXXX .
2.5. Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Sein Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet. Der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der BF wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
2.6. Der BF ist in Österreich gut integriert und hat einen Arbeitsvertrag unter der aufschiebenden Bedingung des Erhaltes eines Aufenthaltstitels abgeschlossen. Es besteht auch die mündliche Zusage des Vertragspartners, den BF umgehend einsetzen zu wollen.
2.7. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und dem BF offengelegten Quellen getroffen:
Länderspezifische Anmerkungen
Letzte Änderung: 26.01.2021
In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Somit ist, insbesondere was die COVID-19-Maßnahmen anlangt, das Datum der jeweiligen Quelle zu beachten, und nicht nur das Aktualisierungsdatum des Kapitels.
Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie auf die Bewegungs- und Reisefreiheit der Bürgerinnen und Bürger sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.
Nebst dem separaten Kapitel zur COVID-19-Situation, das eine aktuelle Momentaufnahme bzw. Überblick bietet, finden sich darüber hinaus spezifische Informationen zur COVID-Lage in eigenen Abschnitten folgender Kapitel bzw. Unter-Kapitel der vorliegenden Länderinformation:
? Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
? Haftbedingungen
? Roma
? Flüchtlinge
? Arbeitslosenunterstützung
COVID-19
Letzte Änderung: 26.01.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Mit Jahresende 2020 wurden 2,18 Mio. Corona-Fälle und rund 21.000 Tote in der Türkei verzeichnet (JHU 30.12.2020).
Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Fahrettin Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020). Das kam für den türkischen Ärzteverband nicht überraschend, der seit Monaten davor warnt, dass die bisherigen Zahlen der Regierung das Ausmaß der Ausbreitung verschleiern und dass der Mangel an Transparenz zu dem Anstieg beiträgt. Der Ärzteverband behauptet, dass die Zahlen des Ministeriums immer noch zu niedrig seien, verglichen mit ihrer eigenen Schätzung von mindestens 50.000 neuen Infektionen pro Tag. Die Krankenhäuser des Landes sind laut der Vorsitzenden des Ärzteverbandes, Sebnem Korur Fincanci, überlastet, das medizinische Personal ist ausgebrannt und die Contract-Tracer, die einst dafür bekannt waren, den Ausbruch unter Kontrolle zu halten, haben Schwierigkeiten, die Übertragungen zu verfolgen (AP 29.11.2020).
Beginnend mit 1.12.2020 ist ein Lockdown in Kraft getreten, welcher Ausgangssperren unter der Woche von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr umfasst. An den Wochenenden herrschte eine totale Ausgangssperre von Freitag 21.00 Uhr bis Montag 5.00 Uhr. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Auf öffentlichen Plätzen wurde ein Rauchverbot auch im Freien eingeführt. Das Verbot zur Durchführung von öffentlichen Veranstaltungen durch staatliche und staatsnahe Organisationen sowie von Verbänden bleibt aufrecht. Sportveranstaltungen werden ohne Zuschauer durchgeführt. An Beerdigungen und Hochzeiten dürfen maximal 30 Personen teilnehmen. Feiern und Zusammenkünfte in häuslicher Umgebung sind untersagt. Gastronomische Einrichtungen bleiben tagsüber nur für Lieferservice geöffnet. Einkaufszentren und Lebensmittelgeschäfte dürfen nur zwischen 10.00 Uhr und 20.00 Uhr geöffnet haben. Beim Betreten von Einkaufszentren wird der sogenannten HES (Hayat Eve Sigar) - Code verlangt, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren. Beginnend mit 5.11.2020 müssen kulturelle Einrichtungen, wie Theater, ab 22.00 Uhr geschlossen sein. Kinos bleiben bis auf weiteres geschlossen. Alle Schulen inklusive Vorschulen sind geschlossen und werden bis auf weiteres nur mehr im Fernunterricht fortgeführt. Jugendliche unter 20 Jahren dürfen nur zwischen 13.00 Uhr und 16.00 Uhr die Wohnung verlassen. Die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln ist Ihnen untersagt. Ältere Menschen über 65 Jahre dürfen tagsüber nur während bestimmter Uhrzeiten (10.00 Uhr – 13.00 Uhr) die Wohnungen verlassen. Auch für diese Personengruppe ist die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln verboten (WKO 21.1.2021).
Ab 28.12.2020 müssen alle Personen, die mit dem Flugzeug in die Türkei reisen, einen Nachweis erbringen, dass sie innerhalb von 72 Stunden vor der Einreise mit einem PCR-Test negativ auf COVID-19 getestet wurden. Einreisende ohne einen negativen Test müssen entweder an ihrer gemeldeten Adresse in der Türkei oder in einer von der Regierung bezeichneten Einrichtung in Quarantäne gehen. Alle Personen, die über die Land- oder Seegrenzen in die Türkei einreisen, unterliegen ab dem 30.12.2020 den gleichen Anforderungen. Die Richtlinie wird mindestens bis zum 1.3.2021 in Kraft bleiben (Garda World 25.12.2020).
Am 30.12.2020 wurde das bis 17.1.2021 gültige Entlassungsverbot per Präsidialdekret um weitere zwei Monate verlängert (Hürriyet 30.12.2020).
In der zweiten Jänner-Woche 2021 ist mit den Impfungen begonnen worden. Zum Einsatz kommt das chinesische Vakzin der Firma Sinovac, dem am 13.1.2021 nach einem Eilverfahren eine Notzulassung erteilt wurde. Die Prüfung sei noch nicht abgeschlossen, sie werde parallel zur Impfkampagne fortgesetzt, teilten die Behörden mit. Prioritär werden die 1,1 Mio. Mitarbeiter des Gesundheitswesens sowie Menschen über 65 Jahren geimpft. Laut dem Generalsekretär der Ärztevereinigung werde die landesweite Impfkampagne voraussichtlich im Juli 2021 angeschlossen werden. Bei Lieferverzögerungen könne sie auch bis Dezember dauern. Türkische Mediziner haben infolge der Ergebnisse in Brasilien und Indonesien ihre Zweifel an der Wirksamkeit des Impfstoffs geäußert. Die türkische Rechtsmedizinerin und Vorsitzende der Ärztevereinigung Sebnem Korur Fincanci sagte, die Sicherheit des Impfstoffs stehe jedoch außer Frage und appellierte, sich impfen zu lassen. Als Folge der intransparenten Politik will sich allerdings nur jeder zweite impfen lassen (FAZ 14.1.2021).
Quellen:
? AP - Associated Press (29.11.2020): Turkey’s new virus figures confirm experts' worst fears, https://apnews.com/article/turkey-europe-coronavirus-pandemic-recep-tayyip-erdogan-07b8e18fa2268b847e84cd9702e9a895, Zugriff 11.1.2021
? BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, https://www.ecoi.net/en/file/local/2041720/briefingnotes-kw49-2020.pdf, Zugriff 11.1.2021
? DS - Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkey-remains-firm-calm-as-first-coronavirus-case-confirmed/news, Zugriff 30.12.2020
? Hürriyet (30.12.2020): Entlassungsverbot der Türkei erneut verlängert, https://www.hurriyet.de/news_entlassungsverbot-der-tuerkei-erneut-verlaengert_143543902.html, Zugriff 30.12.2020
? FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.1.2021): Türkei beginnt mit Impfkampagne, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tuerkei-impfung-gegen-corona-beginnt-mit-china-impfstoff-sinovac-17146041.html, Zugriff 15.1.2021
? FNS - Friedrich-Naumann-Stiftung (16.3.2020): Türkei Bulletin 5-2020, http://shop.freiheit.org/download/P2@876/248113/05-2020-T%C3%Bcrkei-Bulletin.pdf, Zugriff 30.12.2020
? Garda World (25.12.2020): Turkey: Government to tighten COVID-related international entry restrictions effective Dec. 28; flights with Netherlands resume /update 30, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/421926/turkey-government-to-tighten-covid-related-international-entry-restrictions-effective-dec-28-flights-with-netherlands-resume-update-30, Zugriff 11.1.2020
? Hürriyet (30.12.2020): Entlassungsverbot der Türkei erneut verlängert, https://www.hurriyet.de/news_entlassungsverbot-der-tuerkei-erneut-verlaengert_143543902.html, Zugriff 30.12.2020
? JHU - Johns Hopkins University & Medicine (30.12.2020): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 30.12.2020
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Politische Lage
Letzte Änderung: 26.01.2021
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020), wobei das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wurde (DFAT 10.9.2020; vgl. bpb 9.7.2018).
Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten. Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt. Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31.3.2019 hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem Vorsprung von nur 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).
Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis Dezember 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand Ende Dezember 2020), im Falle von Selahattin Demirta? trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 6.10.2020). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt auch im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018). Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands verhaftet und mehr als 78.000 aufgrund Vorwürfen mit Terrorismusbezug festgenommen (EC 29.5.2019).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020). Mit Stand Oktober 2020 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister, hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblich Verbindungen zu terroristischen Organisationen hatten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 6.10.2020; vgl. bianet 2.10.2020). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Da keine Anklage erhoben wurde, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020).
[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen:
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? NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 25.1.2021
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? ZO - Zeit Online (22.12.2020): Menschenrechtshof fordert Freilassung von türkischem Oppositionellen, https://www.zeit.de/politik/2020-12/selahattin-demirtas-europaeischer-gerichtshof-menschenrechte-tuerkei, Zugriff 28.12.2020
? ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.10.2020
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 26.01.2021
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vgl. SD 29.6.2016, AJ 12.12.2016).
Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Dort sind die Spannungen besonders groß und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen (EDA 28.12.2020).Die Regierung setzte die inneren und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und in Syrien sowie innerhalb des Landes fort (USDOS 24.6.2020; vgl. EC 6.10.2020). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020). In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen (EDA 28.12.2020).
Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (?HD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (?HD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (?HD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (?HD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (?HD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe fast 5.200 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis 10.12.2020. Im Jahr 2020 wurden bis zum 10.12.2020 311 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020 (ICG 20.12.2020). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020).
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 8.10.2020). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder "zeitweilige Sicherheitszonen" eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und A?r? (AA 28.12.2020a).
Das türkische Parlament stimmte (mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP) am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (BAMF 19.10.2020).
Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 28.12.2020).
Quellen:
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? AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 7.10.2020
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