TE Vfgh Erkenntnis 1995/6/16 G32/95

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.06.1995
beobachten
merken

Index

66 Sozialversicherung
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
BG über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten, BGBl 627/1991 ArtI
GSVG §131a Abs1

Leitsatz

Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer weiteren Bestimmung über das unterschiedliche Pensionsalter von Frau und Mann unter Hinweis auf die Vorjudikatur

Spruch

Die Wortfolge "nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte" im §131 a Abs1 erster Satz des Bundesgesetzes vom 11. Oktober 1978 über die Sozialversicherung der in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen (Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz - GSVG), BGBl. Nr. 560/1978 idF der 10. Novelle zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 112/1986, war bis zum Ablauf des 30. November 1991 verfassungswidrig.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Feststellung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Anläßlich einer bei ihm anhängigen Revision stellt der Oberste Gerichtshof als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen mit Beschluß vom 31. Jänner 1995, Z10 ObS 282/94, den Antrag,

"gemäß Art140 Abs4 B-VG auszusprechen, daß im §131 a Abs1 Satz 1 BG 11.10.1978 BGBl 560 über die Sozialversicherung der in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen (Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz - GSVG) in der am Stichtag, dem 1.9.1991 geltenden Fassung der 10. GSVGNov BGBl 1986/112 die Wortfolge 'nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte' bis 30.11.1991 verfassungswidrig war."

1.2. Diesem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Der am 19. August 1991 gestellte Antrag des am 19. April 1932 geborenen Klägers auf Gewährung der vorzeitigen Alterspension bei Arbeitslosigkeit gemäß §131 a GSVG wurde mit Bescheid der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft mit der Begründung abgelehnt, daß der Kläger das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet habe. Die in der Folge fristgerecht eingebrachte Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, dem Kläger ab dem Stichtag 1. September 1991 die vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit im gesetzlichen Ausmaß zuzuerkennen, wurde vom Landesgericht St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht abgewiesen, weil der Kläger das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet habe.

Gegen dieses Urteil erhob der Kläger Berufung, in welcher er im wesentlichen verfassungsrechtliche Bedenken gegen §131 a Abs1 GSVG geltend machte.

Mit Beschluß vom 22. Februar 1993 stellte das Berufungsgericht, das Oberlandesgericht Wien, beim Verfassungsgerichtshof den Antrag, im §131 a Abs1 GSVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991, BGBl. Nr. 157, die Wortfolge "nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte" als verfassungswidrig aufzuheben oder auszusprechen, daß in der angeführten Bestimmung diese Wortfolge in der Zeit vom 1. April bis 30. November 1991 verfassungswidrig war.

Mit Beschluß vom 21. Juni 1994, G45/93, wies der Verfassungsgerichtshof diesen Antrag als unzulässig zurück, da es ausgeschlossen (denkunmöglich) sei, daß das antragstellende Oberlandesgericht Wien bei der Erledigung der bei ihm anhängigen Berufung §131 a Abs1 GSVG in der Fassung des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 anzuwenden habe, da die angegriffene Gesetzesstelle durch das zitierte Gesetz weder novelliert noch neu erlassen wurde.

In weiterer Folge gab das Oberlandesgericht Wien der Berufung des Klägers nicht Folge.

In der gegen dieses Urteil erhobenen Revision macht der Kläger geltend, daß §131 a Abs1 GSVG in der anzuwendenden Fassung der 15. GSVG-Novelle verfassungswidrig sei.

1.3. Der Oberste Gerichtshof führt in seinem Antrag aus, daß er bei der Erledigung der in der fristgerecht erhobenen und zulässigen Revision geltend gemachten Rechtsrüge zu prüfen habe, ob der Kläger seit dem 1. September 1991 Anspruch auf eine vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit nach §131 a ASVG (gemeint offensichtlich: GSVG) habe. Der Oberste Gerichtshof habe daher diese Vorschrift in der aus dem Antrag ersichtlichen Fassung anzuwenden.

Unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes VfSlg. 12568/1990 und 13276/1992 führt der Oberste Gerichtshof aus, daß die von ihm angefochtene Vorschrift gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße, da auch sie - ebenso wie die mit den zitierten Erkenntnissen aufgehobenen Vorschriften - bloß nach dem Geschlecht unterscheide und Frauen als einheitliche Gruppe Männern gegenüberstelle. Die unterschiedliche Regelung des Pensionsalters sei auch deshalb bedenklich, weil sie mit Regelungen für Pensionssysteme, welche die gesetzliche Pensionsversicherung ergänzen (zB das Betriebspensionsgesetz), nicht im Einklang stehe.

2. Die Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

2.1. In das Bundesgesetz vom 11. Oktober 1978 über die Sozialversicherung der in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen (Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz - GSVG), BGBl. Nr. 560/1978, wurde mit der 10. Novelle zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 112/1986, ein §131 a eingefügt.

Mit dem Bundesgesetz BGBl. Nr. 616/1987 - die Neufassung des §131 a Abs2 GSVG durch die 13. Novelle zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 610/1987, kann hier außer Betracht bleiben - wurde dem §131 a Abs1 GSVG eine Z6 angefügt.

Mit der 15. Novelle zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 750/1988, wurde in der Z2 der zitierten Bestimmung der Ausdruck "§227 Z6" durch den Ausdruck "§227 Abs1 Z6" ersetzt. Diese Änderung ist am 1. Jänner 1989 in Kraft getreten (ArtIV der zitierten Novelle).

In der Folgezeit wurde das GSVG zwar mehrfach geändert (vgl. die Bundesgesetze BGBl. Nr. 643/1989, 295/1990 und 741/1990), §131 a Abs1 leg.cit. blieb davon jedoch unberührt. Auch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991, BGBl. Nr. 157/1991, welches mit Ausnahme seines hier nicht relevanten ArtIX am 1. April 1991 in Kraft trat (ArtXI leg.cit.) und welches das GSVG an mehreren Stellen veränderte, ließ den Wortlaut des §131 a Abs1 GSVG unangetastet.

§131 a Abs1 GSVG idF der 15. GSVG-Novelle, BGBl. Nr. 750/1988, - die angefochtene Wortfolge im noch in der ihm durch die 10. GSVG-Novelle verliehenen Gestalt weiter in Geltung stehenden ersten Satz ist hervorgehoben - lautet wie folgt:

"Vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit

§131 a. (1) Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit hat der Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 55. Lebensjahres, wenn die Wartezeit erfüllt ist (§120), der (die) Versicherte am Stichtag (§113 Abs2) nicht selbständig erwerbstätig ist, die weitere Voraussetzung des §130 Abs2 erfüllt hat und innerhalb der letzten fünfzehn Monate vor dem Stichtag (§113 Abs2) mindestens 52 Wochen wegen Arbeitslosigkeit eine Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung bezogen hat, für die weitere Dauer der Arbeitslosigkeit. Dem Bezug von Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung stehen gleich

1. das Vorliegen einer neutralen Zeit gemäß §234 Abs1 Z2 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes,

2. eine Ersatzzeit gemäß §227 Abs1 Z6 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes,

3. ein Zeitraum von höchstens neun Monaten, für den eine Vergütung aus Anlaß der Beendigung des Dienstverhältnisses (§49 Abs3 Z7 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes) gewährt wird,

4. Zeiten der Arbeitslosigkeit, für die Kündigungsentschädigung gebührt,

5. Zeiten des Bezuges von Überbrückungshilfe nach dem Überbrückungshilfegesetz,

6. Zeiten des Bezuges einer Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhaltes gemäß §20 Abs2 litc in Verbindung mit §25 Abs1 des Arbeitsmarktförderungsgesetzes, BGBl. Nr. 31/1969.

Bei der Feststellung der Voraussetzungen für einen solchen Anspruch haben jedoch Beitragsmonate der freiwilligen Versicherung für die Erfüllung der Wartezeit außer Ansatz zu bleiben."

2.2. ArtI und ArtIV des Bundesgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten, BGBl. Nr. 627/1991, lauten:

"Artikel I

(Verfassungsbestimmung)

Gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, sind zulässig."

"Artikel IV

(1) (Verfassungsbestimmung) ArtI tritt mit 1. Dezember 1991 in Kraft und mit Ablauf des 31. Dezember 1992 außer Kraft.

(2) ArtII und III treten mit 1. Dezember 1991 in Kraft."

2.3. Am 1. Jänner 1993 trat das Bundesverfassungsgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten, BGBl. Nr. 832/1992, in Kraft (§4 leg.cit.), das in seinem §1 gesetzliche Regelungen für zulässig erklärt, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen.

3. Die Bundesregierung hat im Hinblick auf die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes VfSlg. 12568/1990, 13275/1992 und das Erkenntnis vom 20. Juni 1994, G33/94 und G34/94 (gemeint offensichtlich: G33/93 und G34/93), von der Erstattung einer meritorischen Äußerung Abstand genommen.

4. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

4.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iS des Art140 B-VG bzw. des Art139 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, daß die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlaßfall bildet (zB VfSlg. 7999/1977, 9811/1983, 10296/1984, 11565/1987). Da anders als bei dem zurückgewiesenen, dem Verfahren G45/93 zugrundeliegenden Antrag die Präjudizialität der angefochtenen Bestimmung denkmöglich behauptet wurde - am 1. September 1991, dem relevanten Stichtag, stand der erste Satz des §131 a Abs1 GSVG in der ihm durch die 10. GSVG-Novelle verliehenen Gestalt in Geltung - und in dem nunmehrigen Verfahren auch keine Prozeßhindernisse hervorgekommen sind, ist der Gesetzesprüfungsantrag zulässig.

4.2. Die Bedenken treffen zu.

4.2.1. Mit Erkenntnis VfSlg. 12568/1990 hat der Verfassungsgerichtshof (auch) die Wortfolge "bei männlichen, nach Vollendung des 50. Lebensjahres bei weiblichen Versicherten" im §236 Abs1 Z1 litb ASVG, die Wortfolge "bei männlichen Versicherten bzw. nach Vollendung des 50. Lebensjahres bei weiblichen Versicherten" im §236 Abs2 Z1 ASVG und die Wortfolge "nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte" im §253b Abs1 ASVG wegen Verstoßes gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgrundsatz als verfassungswidrig aufgehoben. In der Begründung dieser Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof insbesondere ausgeführt:

"Der VfGH geht ... davon aus, daß viele Frauen aufgrund ihrer traditionellen gesellschaftlichen Rolle besonderen Belastungen durch die Haushaltsführung und Obsorge für Kinder ausgesetzt waren und noch ausgesetzt sind. In Übereinstimmung mit den antragstellenden Gerichten ist aber der VfGH der Auffassung, daß auch bei der gebotenen Durchschnittsbetrachtung die Festlegung eines unterschiedlichen Pensionsalters für Frauen und Männer kein geeignetes Mittel ist, um den Unterschieden in der gesellschaftlichen Rolle der Frauen und Männer angemessen Rechnung zu tragen.

... Zu Recht wies der Oberste Gerichtshof darauf hin, daß eine nicht unerhebliche und daher nicht zu vernachlässigende Anzahl berufstätiger Frauen gar nicht der erwähnten Doppelbelastung ausgesetzt sei und daß die derzeitige Regelung auch nicht berücksichtige, in welchem Maße Frauen tatsächlich durch die Haushaltsführung und Kindererziehung besonders belastet sind.

Daß es keinen adäquaten Ausgleich für die bei einer bestimmten Anzahl der Frauen bestehende Doppelbelastung durch Beruf und Familie darstellt, wenn für sozialversicherte Frauen generell ein niedrigeres Pensionsanfallsalter festgesetzt wird als für Männer, zeigt sich besonders deutlich in jenen Fällen, in denen Frauen wegen der Obsorge für Kinder ihre Berufslaufbahn später beginnen oder unterbrechen mußten: Sie haben dadurch gegenüber Männern und Frauen, die ihre Berufslaufbahn unmittelbar nach der Ausbildung begonnen haben und ununterbrochen fortsetzen konnten, in ihrer pensionsrechtlichen Stellung bedeutende Nachteile. Entweder kommen sie überhaupt nicht in den Genuß der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer (Frühpension) oder sie müssen aufgrund der geringeren Versicherungszeiten (Beitragszeiten und Ersatzzeiten) eine niedrigere Pension in Kauf nehmen. ...

...

Was immer der Grund dafür gewesen sein mag, daß der Unterschied im tatsächlichen Pensionszugangsalter zwischen Männern und Frauen weit unter fünf Jahren liegt, das Verfahren hat jedenfalls keinen Anhaltspunkt dafür ergeben, daß die besondere Belastung durch die Haushaltsführung und Obsorge für Kinder tatsächlich durch das niedrigere Pensionszugangsalter von Frauen abgegolten wird. Das niedrigere Pensionsanfallsalter für Frauen kommt eher jener Gruppe von Frauen zugute, deren Berufslaufbahn nicht durch Haushaltsführung und Obsorge für Kinder unterbrochen war, die also mehr Versicherungszeiten erwerben konnten als jene Frauen, deren Belastung abgegolten werden soll.

Die von der Bundesregierung vorgelegten Statistiken bestätigen, daß die Belastung von Frauen zunimmt, je mehr Kinder zu betreuen sind. Je größer diese Belastung jedoch ist, umso weniger ist eine Frau in der Regel in der Lage, die für einen frühen Pensionsantritt erforderlichen Versicherungszeiten zu erwerben.

Die angefochtenen Bestimmungen begünstigen somit vorwiegend jene Frauen, die der Belastung, die das niedrigere Pensionsalter ausgleichen soll, gar nicht oder wesentlich weniger ausgesetzt waren als Frauen, die infolge Haushaltsführung und Obsorge für Kinder ihre Berufslaufbahn unterbrechen mußten, und deren tatsächliches Pensionsanfallsalter daher in Wahrheit jenem der Männer in der Regel gleichkommt. ...

...

... Auch die Behauptung der Bundesregierung, daß bei Frauen früher als bei Männern die Arbeitskraft unter das für den Verbleib im Arbeitsprozeß notwendige Ausmaß sinke, gilt keineswegs allgemein. Der VfGH verkennt dabei nicht, daß es noch immer Berufe gibt, die vorwiegend von Frauen ausgeübt werden und die erhöhte körperliche Beanspruchung mit sich bringen. Selbst eine Durchschnittsbetrachtung rechtfertigt aber nicht eine (scheinbare oder wirkliche) Begünstigung aller Frauen in gleicher Weise, also eine rein geschlechtsspezifische Differenzierung, wohl aber würde sie eine nach der Art der Tätigkeit differenzierende Regelung rechtfertigen (vgl. zB ArtVII des Nachtschicht-Schwerarbeitsgesetzes).

Auch der statistische Vergleich des Pensionszugangsalters bei Männern und Frauen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit stützt die Argumente der Bundesregierung nicht. Er zeigt vielmehr folgendes Bild:

Bei selbständig Erwerbstätigen und Bauern bestand im langjährigen Durchschnitt überhaupt kein Unterschied im Pensionszugangsalter von Männern und Frauen. ...

...

Auch mit anderen Fakten konnte die Bundesregierung nicht belegen, daß die für die berufliche Tätigkeit erforderliche Leistungsfähigkeit generell bei Frauen in einem niedrigeren Lebensalter wegfällt als bei Männern. Die dem VfGH von den Parteien vorgelegten und von ihm eingeholten weiteren Unterlagen belegen die Behauptungen der Bundesregierung ebenfalls nicht. Im Verfahren haben sich auch sonst keine Anhaltspunkte für deren Zutreffen ergeben.

Die bestehenden Unterschiede im gesetzlich festgelegten Pensionsalter lassen sich daher auch nicht durch biologische Gründe rechtfertigen.

... Der VfGH hat in seiner Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht, daß der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, wenn er bei Änderung der Rechtslage plötzlich und intensiv in erworbene Rechtspositionen eingreift. Dieser aus dem Gleichheitssatz erfließende Vertrauensschutz bedarf dann besonderer Beachtung, wenn Personen schon während ihrer aktiven Berufstätigkeit ihre Lebensführung auf den Bezug einer später anfallenden Pension eingerichtet haben (vgl. VfSlg. 11288/1987 und 11665/1988). Der VfGH hatte daher zu prüfen, ob eine Beseitigung der derzeitigen Regelung nicht zu einem so intensiven Eingriff in erworbene Rechtspositionen führt, daß dadurch eine andere Unsachlichkeit und somit Gleichheitswidrigkeit bewirkt würde.

Der VfGH ist der Ansicht, daß der Vertrauensschutz zwar eine Beibehaltung der bisherigen Regelung für jene Frauen rechtfertigt, die nahe dem Pensionsalter sind und die daher ihre Lebensführung bereits auf den herannahenden Ruhestand eingerichtet haben. Die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Regelung für alle Frauen, also auch für jene, die dem Pensionsalter fern sind, würde aber für den überwiegenden Teil berufstätiger Frauen ein Vertrauen in die ständige Aufrechterhaltung einer an sich gleichheitswidrigen Regelung schaffen. Der VfGH verweist in diesem Zusammenhang auf seine Ausführungen im Erkenntnis VfSlg. 8871/1980 (Witwerpension), die in gleicher Weise auch für den Abbau von Unterschieden im Pensionsalter gelten. In diesem Erkenntnis führte der VfGH aus:

'Ein Grund für die zumindest vorläufige Beibehaltung der gegenwärtigen Regelung könnte allerdings im Bestreben gefunden werden, erworbene Anwartschaften unberührt zu lassen und die Hinterbliebenenversorgung zugunsten des Mannes allmählich auszubauen; die erheblichen Kosten der Verwirklichung dieses Zieles und die technischen Schwierigkeiten einer sofortigen Angleichung auf niedrigerem Niveau könnten dann die vorübergehende Hinnahme einer ungleichen Behandlung nahelegen.

Solche Überlegungen führen aber im vorliegenden Fall nicht zum Ergebnis, daß der gegenwärtige Rechtszustand völlig unverändert beibehalten werden darf. ... Es können indessen nur solche Ungleichbehandlungen (vorübergehend) sachlich sein, die wenigstens in der Richtung eines Abbaues der Unterschiede wirken würden.'

... Zusammenfassend ergibt sich aus diesen Überlegungen:

Es fällt in den rechtspolitischen Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers, unterschiedliche Belastungen von Personen oder Personengruppen im Arbeitsleben bei der Gestaltung des Leistungsrechtes der Pensionsversicherung entsprechend zu berücksichtigen.

Die angefochtenen Regelungen, die allgemein bloß nach dem Geschlecht unterscheiden und Frauen als eine einheitliche Gruppe Männern gegenüberstellen, berücksichtigen in Wahrheit nicht jene Besonderheiten, die zu ihrer Rechtfertigung dienen sollen. Sie kommen vorwiegend jenen Frauen zugute, deren Rollenbild sich von jenem der Männer nicht unterscheidet, während jene Frauen, die durch Haushaltsführung und Obsorge für Angehörige besonders belastet sind, von solchen Regelungen in wesentlich geringerem Maße Gebrauch machen können. Das unterschiedliche Maß der Belastung von Frauen und die tatsächliche körperliche Beanspruchung findet in derart undifferenzierten Regelungen keinen Niederschlag. Solche Regelungen sind daher ungeeignet, den aufgezeigten faktischen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Der Gesetzgeber kann allerdings, ohne gegen den Gleichheitsgrundsatz zu verstoßen, von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehend Nachteile, die Gruppen von Personen im Arbeitsleben etwa durch erhöhte physische oder psychische Belastung typischerweise erleiden, durch eine entsprechende Gestaltung des Leistungsrechtes und dabei etwa auch durch Festlegung eines niedrigeren Pensionsanfallsalters abgelten.

Den angefochtenen - bloß nach dem Geschlecht differenzierenden - Regelungen fehlt jedoch die sachliche Rechtfertigung. Sie verletzen den Gleichheitsgrundsatz und waren daher aufzuheben."

4.2.2. Da die hier angefochtene Bestimmung des §131 a Abs1 erster Satz GSVG idF der 10. Novelle zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 112/1986, ebenso wie jene Regelungen, die aufgrund der Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes VfSlg. 12568/1990 und 12660/1991 der Aufhebung verfallen waren, bloß allgemein nach dem Geschlecht unterscheidet und Frauen als eine einheitliche Gruppe Männern gegenüberstellt, treffen die eben wiedergegebenen Überlegungen des Verfassungsgerichtshofes - da Kriterien, die eine andere Beurteilung zuließen, weder behauptet wurden noch dem Verfassungsgerichtshof erkennbar sind - in gleicher Weise auch für die in dem vorliegenden Gesetzesprüfungsverfahren angefochtene Wortfolge im §131 a Abs1 erster Satz GSVG zu .

4.2.3. Mit der am 1. Dezember 1991 in Kraft getretenen Verfassungsbestimmung des ArtI des Bundesgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten (siehe oben Punkt 2.2.) wurde u.a. auch die angefochtene Wortfolge für verfassungsrechtlich zulässig erklärt.

Es war daher auszusprechen, daß die Wortfolge "nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte" im §131 a Abs1 erster Satz GSVG, BGBl. Nr. 560/1978 idF der 10. Novelle zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 112/1986, wegen Verstoßes gegen das auch den Gesetzgeber bindende Gleichheitsgebot bis zum Ablauf des 30. November 1991 verfassungswidrig war (vgl. VfSlg. 13275/1992 und 13319/1992).

5. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung dieser Feststellung erfließt aus Art140 Abs5 zweiter Satz B-VG.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Sozialversicherung, Pensionsversicherung, Pensionsalter, Sanierung, Gleichheit Frau-Mann, geschlechtsspezifische Differenzierungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:G32.1995

Dokumentnummer

JFT_10049384_95G00032_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten