Index
40/01 VerwaltungsverfahrenNorm
AVG §45 Abs2Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Engenhart, über die Revision des Arbeitsmarktservice Lienz in 9900 Lienz, Osttirol, Dolomitenstraße 1, gegen den als Erkenntnis bezeichneten Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Februar 2020, I419 2220215-1/3E, betreffend Verlust der Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: S H in H), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 20. Februar 2019 sprach das Arbeitsmarktservice Lienz (AMS) aus, dass der Mitbeteiligte gemäß § 10 iVm. § 38 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum von 7. Februar 2019 bis 3. April 2019 verloren habe. Eine Nachsicht werde nicht erteilt. Der Mitbeteiligte habe eine ihm zugewiesene zumutbare Beschäftigung im Sägewerk der G-GmbH vereitelt. Dem Bescheid vorangegangen waren telefonische Mitteilungen des Geschäftsführers der G-GmbH an das AMS sowie eine niederschriftliche Einvernahme des Mitbeteiligten.
2 In seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde brachte der Mitbeteiligte vor, er sei entgegen den Annahmen des AMS bereit gewesen, eine Stelle bei der G-GmbH anzunehmen. Im Zuge eines Telefongespräches habe der Geschäftsführer der G-GmbH jedoch seine Beschäftigung bzw. auch bereits das Führen eines weiteren Vorstellungsgespräches abgelehnt. Das habe der Geschäftsführer mit den körperlichen Einschränkungen des Mitbeteiligten, durch die er nicht vollständig belastbar sei, und dem Alter des Mitbeteiligten bzw. dessen absehbarem Pensionsantritt begründet. Soweit der Geschäftsführer gegenüber dem AMS angegeben habe, der Mitbeteiligte hätte die Aufnahme der Beschäftigung verweigert, sei dies daher unrichtig.
3 Nach Einholung eines Gutachtens über den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit des Mitbeteiligten wies das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom 27. Mai 2019 die Beschwerde des Mitbeteiligten ab. Dazu stellte das AMS fest, Inhalt der Beschäftigung bei der G-GmbH, zu der der Mitbeteiligte zugewiesen worden sei, sei nach dem Stellenangebot im Wesentlichen das Bedienen von Maschinen gewesen. Der Geschäftsführer der G-GmbH, der den Mitbeteiligten selbst in Hinblick auf das Stellenangebot kontaktiert habe, habe nach seinen glaubwürdigen Angaben den Mitbeteiligten im Zuge des mit ihm geführten Telefongespräches darauf hingewiesen, dass die Tätigkeit keine besonderen körperlichen Anforderungen stelle. Der Mitbeteiligte habe jedoch den Geschäftsführer auf seine körperlichen Beschwerden, nämlich „Kreuzschmerzen“, hingewiesen, sowie dazu ausgeführt, er hätte ohnehin andere Arbeitsstellen in Aussicht, die ihm „lieber“ wären. Dadurch habe der Mitbeteiligte das Zustandekommen der Beschäftigung im Sinn des § 10 Abs. 1 AlVG vereitelt. Die gegenteiligen Angaben des Mitbeteiligten seien nicht glaubwürdig. Wie sich aus dem eingeholten Sachverständigengutachten ergebe, leide der Mitbeteiligte wohl an altersgemäßen degenerativen Veränderungen an der Lenden- und Halswirbelsäule sowie Kopfschmerzen infolge von Verspannungen der Halswirbelsäule. Er sei jedoch jedenfalls für leichte und mittelschwere körperliche Arbeiten geeignet.
4 Mit der in Revision gezogenen - nach einem Vorlageantrag des Revisionswerbers ergangenen - als Erkenntnis bezeichneten Entscheidung sprach das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung aus, der Beschwerde werde Folge gegeben und die Beschwerdevorentscheidung dahingehend abgeändert, dass sie so zu lauten habe, dass der der angefochtene Bescheid aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das AMS zurückverwiesen werde. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
5 Begründend führte das BVwG aus, es könne nicht festgestellt werden, „welchen Inhalt“ die Telefonate zwischen dem Mitbeteiligten und dem Geschäftsführer der G-GmbH gehabt hätten bzw. warum eine Beschäftigung des Mitbeteiligten nicht zu Stande gekommen sei. Auch sei nicht feststellbar, „ob“ der Mitbeteiligte für die Tätigkeit bei der G-GmbH körperlich geeignet gewesen wäre. Hinsichtlich dieses für die Frage, ob der Ausspruch des Anspruchsverlustes berechtigt gewesen sei, entscheidungswesentlichen Sachverhaltes stünden sich nämlich „widersprechende Aussagen gegenüber“. Das AMS habe es unterlassen, ein Ermittlungsverfahren zu führen, durch das vor dem Hintergrund dieser Widersprüche der Sachverhalt hätte geklärt werden können. Dazu wäre es erforderlich gewesen, den Geschäftsführer der G-GmbH als Zeugen einzuvernehmen, „allenfalls“ das eingeholte medizinische Sachverständigengutachten zu ergänzen sowie in der Folge den Mitbeteiligten zu den Beweisergebnissen anzuhören. Das AMS habe es auch unterlassen, dem Mitbeteiligten vor Erlassung der Beschwerdevorentscheidung eine Frist zur Stellungnahme zum eigeholten Sachverständigengutachten einzuräumen. Dem Protokoll der niederschriftlichen Einvernahme des Mitbeteiligten sei darüber hinaus nicht zu entnehmen, dass „eine Manuduktion“ des Mitbeteiligten erfolgt wäre. Das AMS habe daher nur ansatzweise ermittelt, sodass die Voraussetzungen eine Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorlägen.
6 Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende Revision des AMS, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
7 Das AMS macht zur Begründung und Zulässigkeit seiner Revision im Wesentlichen geltend, das BVwG sei von der (näher dargestellten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen eines Vorgehens nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG abgewichen. Es treffe nicht zu, dass das AMS keine brauchbaren Ermittlungsschritte gesetzt hätte.
8 Die Revision ist aus dem genannten Grund zulässig und berechtigt.
9 Im Hinblick auf die Formulierung des Spruches der angefochtenen Entscheidung ist vorweg auf Folgendes hinzuweisen:
10 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Verhältnis zwischen Ausgangsbescheid und Beschwerdevorentscheidung derogiert die Beschwerdevorentscheidung dem Ausgangsbescheid. Das Rechtsmittel, über welches das Verwaltungsgericht zu entscheiden hat, bleibt im Fall eines zulässigen Vorlageantrags die Beschwerde; der Vorlageantrag richtet sich nämlich (nur) darauf, dass die Beschwerde dem Verwaltungsgericht vorgelegt wird. Da sich die Beschwerde gegen den Ausgangsbescheid richtet und sich ihre Begründung auf diesen beziehen muss, bleibt der Ausgangsbescheid auch Maßstab dafür, ob die Beschwerde berechtigt ist oder nicht; durch das Verwaltungsgericht im Sinn des § 14 Abs. 1 VwGVG aufgehoben, abgeändert oder bestätigt werden kann freilich nur die - außer in Fällen einer Zurückweisung der Beschwerde - an die Stelle des Ausgangsbescheids getretene Beschwerdevorentscheidung (vgl. VwGH 9.9.2019, Ro 2016/08/0009, mwN). Will das Verwaltungsgericht die Sache an die Verwaltungsbehörde zurückverweisen, so ist die in der Sache ergangene Beschwerdevorentscheidung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz oder Abs. 4 VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückzuverweisen (vgl. VwGH 17.12.2015, Ro 2015/08/0026, mit weiteren Hinweisen und näheren Ausführungen zu den Entscheidungsmöglichkeiten des Verwaltungsgerichtes).
11 Dem wird der Spruch der in Revision gezogenen Entscheidung insoweit nicht gerecht, als nach der gewählten Formulierung die Beschwerdevorentscheidung nicht aufgehoben, sondern dahingehend „abgeändert“ wurde, dass der Ausgangsbescheid aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das AMS zurückverwiesen wurde. Sollte das BVwG insoweit vor Auge gehabt haben, dass schon das AMS im Rahmen der Beschwerdevorentscheidung mit einer Behebung und Zurückverweisung an sich selbst hätte vorgehen müssen, ist auch darauf hinzuweisen, dass einer Behörde eine solche Vorgehensweise nicht offensteht (vgl. mit näherer Begründung VwGH 29.1.2019, Ra 2018/08/0223).
12 Dennoch ist - auch in Zusammenhalt mit der Begründung des BVwG - fallbezogen nicht zweifelhaft, dass das BVwG die den Ausgangsbescheid bestätigende Beschwerdevorentscheidung des AMS aus dem Rechtsbestand entfernen und dem AMS eine neuerliche Entscheidung in der Angelegenheit auftragen wollte. Es liegt daher eine aufhebende und zurückverweisende Entscheidung des BVwG nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vor.
13 Dabei hat sich das Verwaltungsgericht allerdings insoweit in der Form vergriffen, als eine Behebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht durch Erkenntnis, sondern mit Beschluss zu erfolgen hat (vgl. etwa VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0287, mwN).
14 Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte darstellt. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, rechtfertigen keine Zurückverweisung der Sache, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung zu vervollständigen sind (vgl. etwa VwGH 29.1.2020, Ra 2019/08/0154, mwN).
15 Entgegen den Annahmen des BVwG lag eine die Zurückverweisung rechtfertigende Konstellation nicht vor. Es kann insbesondere nicht gesagt werden, dass das AMS nur ansatzweise ermittelt hätte oder keine brauchbaren Ermittlungsergebnisse vorgelegen wären. Soweit das BVwG insoweit die Beweiswürdigung des AMS in Zweifel zieht bzw. nicht als ausreichend erachtet, um die Annahmen des AMS zu tragen, ist dazu festzuhalten, dass gerade die Beweiswürdigung in Bezug auf strittige Sachverhaltselemente zu den zentralen Aufgaben der Verwaltungsgerichte selbst gehört, können sie doch auf Grund ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in besonderer Weise zur Wahrheitsfindung beitragen. Eine Zurückverweisung aufgrund einer nicht fehlerfreien Beweiswürdigung kommt schon daher nicht in Betracht (vgl. VwGH 14.4.2016, Ra 2015/08/0026, mwN).
16 Anhand der oben dargestellten Grundsätze ist auch nicht zweifelhaft, dass nicht jede einer Behörde unterlaufene Verletzung von Verfahrensvorschriften das Verwaltungsgericht zur Vorgangsweise nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG berechtigt (vgl. VwGH 5.2.2021, Ra 2018/19/0685, mwN). Soweit das BVwG seine Entscheidung darauf gründete, dass das AMS dem Mitbeteiligten keine Frist zur Stellungnahme zum eingeholten Sachverständigengutachten gesetzt und dadurch sein Parteiengehör verletzt habe, ist darauf hinzuweisen, dass die Verletzung des Parteiengehörs durch die erste Instanz als saniert anzusehen ist, wenn die Partei Gelegenheit gehabt hat, zu den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens im Rechtsmittel gegen den (eine ausreichende Darstellung der Beweisergebnisse enthaltenden) erstinstanzlichen Bescheid Stellung zu nehmen (vgl. VwGH 27.12.2018, Ra 2015/08/0095, mwN). Dies trifft auch im vorliegenden Fall zu, in dem der Mitbeteiligte spätestens im Verfahren des BVwG Gelegenheit hatte, sich zu dem eingeholten Sachverständigengutachten zu äußern.
17 Insoweit das BVwG einen die Aufhebung und Zurückverweisung rechtfertigenden Verfahrensfehler des AMS darin erkennen will, dass das AMS keine ausreichende Manuduktion des Mitbeteiligen vorgenommen habe, bleibt überhaupt im Dunkeln, in welcher Hinsicht nach Ansicht des BVwG eine weitere Anleitung des Mitbeteiligten im Verfahren des AMS erforderlich gewesen wäre und woraus sich daher in diesem Zusammenhang die Mangelhaftigkeit des Verfahrens ergeben soll.
18 Soweit das BVwG rügt, dass das AMS keine förmliche Einvernahme des Geschäftsführers der G-GmbH durchgeführt habe, ist festzuhalten, dass das AVG - anders als das VwGVG - ganz allgemein weder den Grundsatz der Mündlichkeit noch jenen der Unmittelbarkeit kennt (vgl. etwa VwGH 19.10.2011, 2008/08/0202, mwN). Im Sinn des Grundsatzes der Unbeschränktheit und Gleichwertigkeit der Beweismittel (§ 46 AVG) gilt alles als Beweismittel, was Beweis zu liefern, d.h. die Wahrheit zu ergründen, geeignet ist. In diesem Sinne durfte das AMS auch die Ergebnisse seiner telefonischen Erhebungen bei der Entscheidung verwerten (vgl. VwGH 11.9.2008, 2007/08/0111; 28.03.2012, 2010/08/0170).
19 Die Voraussetzungen für eine kassatorische Entscheidung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG waren somit nicht gegeben. Die angefochtene Entscheidung war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 25. Mai 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020080046.L00Im RIS seit
16.06.2021Zuletzt aktualisiert am
21.07.2021