Entscheidungsdatum
15.03.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W159 2197375-1/33E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.05.2018, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.10.2020 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des bekämpften Bescheides werden gemäß § 28 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
• I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger Afghanistans, gelangte (spätestens) am 22.10.2015 illegal nach Österreich und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Am Folgetag wurde er einer Erstbefragung durch die LPD XXXX unterzogen. Hiebei gab er zu seinen Fluchtgründen zu Protokoll, in Afghanistan als Polizist gearbeitet zu haben und von den Taliban mit dem Tod bedroht worden zu sein. In seinem Herkunftsort seien sehr viele Taliban, deshalb habe er seine Heimat verlassen müssen, sonst hätten sie ihn getötet. Weitere Fluchtgründe habe er nicht.
Nach Zulassung zum Asylverfahren wurde der Beschwerdeführer am 26.03.2018 einer Einvernahme durch das BFA unterzogen. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen an, er habe für den Direktor einer Polizeibehörde als Chauffeur gearbeitet. Nach den Ferien sei er von Khandarhar nach Daikundi unterwegs gewesen, um in Daikundi wieder zu arbeiten. Die Taliban hätten das Auto aufgehalten. Sie hätten gewusst, dass der Beschwerdeführer für einen Direktor der Polizei gearbeitet habe, jemand habe ihn verraten. Die anderen Fahrgäste hätten weiterfahren dürfen, nur der Beschwerdeführer nicht. Zwölf oder 13 Passagiere hätten in den Kleinbus gepasst, mit dem der Beschwerdeführer gefahren sei. Daraufhin hätten ihn die Taliban mitgenommen, sie hätten zu ihm gesagt, dass sie wüssten, dass der Beschwerdeführer Chauffeur der Polizei wäre. Drei oder vier Stunden lang hätten sie ihn angehalten. Als der Kommandant von den Taliban eingetroffen sei, habe er zum Beschwerdeführer gesagt, dass er keine Angst haben sollte, er habe gewollt, dass der Beschwerdeführer ihnen sein Auto zur Verfügung stelle, damit sie Sprengstoff einbauen und er hätten sein Auto vor der Polizeibehörde parken und weggehen sollen. Sie hätten zu ihm gesagt, dass sie ihn nach dieser Aktion bei seiner Ausreise aus Afghanistan finanziell unterstützen würden. Er habe ein Foto der Geburtsurkunde des Beschwerdeführers gemacht. Der Beschwerdeführer habe Angst gehabt, er sei von den Taliban eine Nacht und zwei Tage angehalten worden. Er habe ihnen ihnen auch seine Telefonnummern geben müssen. Danach sei er zu dem Direktor der Polizei gegangen. Als er bei der Polizeistation angekommen sei, habe der Direktor wissen wollen, wo der Beschwerdeführer zwischenzeitlich gewesen sei und er habe ihm von dem Vorfall erzählt. Der Beschwerdeführer habe gesagt, dass er den Auftrag bestätigt habe, weil er Angst gehabt habe. Die Taliban hätten ihn mehrmals angerufen und hätten wissen wollen, wann sie den Sprengstoff in das Auto einbauen könnten. Sie hätten auch gesagt, wenn der Beschwerdeführer es nicht täte, würden sie ihn umbringen. Als sie den Beschwerdeführer das letzte Mal telefonisch gewarnt hätten, habe er seinen Onkel angerufen und habe ihm von dem Vorfall erzählt. Dieser habe dem Beschwerdeführer dazu geraten, sofort das Land zu verlassen.
Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 03.05.2018, XXXX wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechttigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkenung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II)., erteilte dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.)
In der Begründung des Bescheides wurde der bisherige Verfahrensgang einschließlich der oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt und anschließend die Beweismittel aufgelistet und Feststellungen zu Afghanistan getroffen. Beweiswürdigend führte das BFA aus, dass es dem Vorbringen des Beschwerdeführers in keiner Weise Glauben schenke. Es sei offensichtlich, dass der Beschwerdeführer Afghanistan nicht aus asylrelevanten Gründen verlassen habe.
Rechtlich begründend führte das BFA zu Spruchpunkt I. aus, dass keine Verfolgung im Sinne der GFK hätte erkannt werden können. Zu Spruchteil II. wurde insbesondere ausgeführt, dass eine inländische Fluchtalternative in Kabul vorliege. Zu Spruchpunkt III. wurde ausgeführt, dass der Tatbestand des § 57 AsylG 2005 nicht erfüllt sei. Darüber hinaus führte das BFA aus, dass im vorliegenden Fall kein schützenswertes Familienleben vorliege, zum Privatleben, dass der Beschwerdeführer erst kurz in Österreich sei, er nur schwach ausgeprägte private Interessen hier habe, weder in einem Ausbildungsverhältnis stehe noch selbsterhaltungsfähig sei und daher insgesamt die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig sei. Darüber hinaus wurde dargetan, dass im vorliegenden Fall keine Gefährdung im Sinne des § 50 FPG bestehe und einer Abschiebung nach Afghanistan auch keine Empfehlung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrecht entgegenstehe, sodass diese als zulässig zu bezeichnen sei. Zu Spruchpunkt IV. führte das BFA aus, es wären auch keine Gründe für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise hervorgekommen.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung durch die XXXX vertreten, fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. In dieser wurde zunächst das Vorbringen kursorisch wiedergegeben. Im Weiteren wurde mit näherer Begründung gerügt, dass das Ermittlungsverfahren, die Feststellungen, die Beweiswürdigung und die der Entscheidung zugrunde gelegten Länderberichte mangelhaft seien. Die Sicherheitslage in dem als innerstaatliche Fluchtalternative angenommenen Kabul sei prekär. Daher sei der Bescheid inhaltlich rechtswidrig.
Die Beschwerde stellt die Anträge, eine Beschwerdeverhandlung anzuberaumen, den Bescheid zu beheben und dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten, in eventu, den eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu, den Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt III. zu beheben bzw. dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig erklärt werde und dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK zu erteilen sowie, in eventu, den Bescheid im angefochtenen Umfang „ersatzlos“ zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.10.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, zu der ber Beschwerdeführer erschien. Das BFA hatte bereits in der Beschwerdevorlage die Abstandnahme von der Teilnahme an der Beschwerdeverhandlung erklärt.
Der Beschwerdeführer gab nach Darstellung seiner persönlichen Daten und seines Werdegangs insbesondere an, dass er seinem Vater, der einen LKW gehabt habe, geholfen habe. Über die Frage, ob er selbst den LKW gefahren sei oder nur Beifahrer gewesen sei, gab er an, dass er nicht mitgefahren sei. Auf nähere Nachfrage, in welcher Weise er seinem Vater geholfen habe, führte er aus, dass er die Hilfe finanziell gemeint habe, er selbst aber als Schweißer sowohl in Pakistan als auch in Afghanistan gearbeitet habe. Erst über nähre Nachfrage durch den vorsitzenden Richter führte er aus, dass er acht bis neun Monate als Fahrer gearbeitet habe, über weitere nähere Nachfrage, für den Direktor zur Bekämpfung des Terrorismus.
Nähere Angaben zum Verschwinden seines Vaters konnte er nicht machen. Weiters konnte der Beschwerdeführer auch über Nachfrage nicht angeben, woher sein Vater angeblich jenen Kommandanten, für den er als Fahrer unterwegs gewesen sein soll, gekannt habe. Auch konnte er nicht angeben, welche Einheit der Polizeigeneral kommandiert haben soll.
Der Beschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen an, mit einem Minibus, in dem zwölf bis 13 Personen gewesen seien, nach Daikundi gefahren zu sein. Dieser sei von den Taliban angehalten und der Beschwerdeführer zum Aussteigen gezwungen worden. Ihm seien die Augen verbunden worden und sie seien mit ihm vier Stunden irgendwo hingegangen. Grund dafür sei, dass der Beschwerdeführer mit dem Kommandanten gearbeitet habe. Die Taliban hätten den Beschwerdeführer in ein Haus gebracht und er habe auf den Kommandanten der Taliban gewartet. Dieser sei nach zwei oder drei Stunden gekommen. Er habe vom Beschwerdeführer verlangt, in seinem Auto Sprengstoff zu verstecken, das Auto zum Kommissariat zu fahren und wegzugehen. Als Belohnung hätten sie dem Beschwerdeführer versprochen, ihn in ein anderes Land zu schicken bzw. ihn finanziell zu entlohnen, wobei er den Betrag jedoch nicht angeben konnte. Der Beschwerdeführer habe sich einverstanden erklärt. Er sei eine Nacht und zwei Tage bei den Taliban gewesen, er wisse aber nicht genau, wo. Als er freigelassen worden sei, habe er seinem Kommandanten von diesem Vorfall erzählt. Der Beschwerdeführer habe noch zwei Tage Dienst versehen. In der Folge habe er seinem Onkel von dem Vorfall erzählt. Ein Freund des Onkels habe dem Beschwerdeführer dann geholfen, nach Pakistan zu gehen. Er sei nach ca. vier Tagen ausgereist. In dieser Zeit hätten ihn noch die Taliban drei- oder viermal kontaktiert. Sie hätten ihm mit dem Tod gedroht, sollte er nicht mit ihnen zusammenarbeiten. Der Beschwerdeführer sei einfach geflohen.
Der Beschwerdeführer gab an, dass er psychische Probleme habe und nicht in der Lage sei, etwas zu machen. Er sei auch einmal so wütend gewesen, dass er so heftig mit der Faust auf die Wand geschlagen habe, dass er Knochenbrüche davongetragen habe. Außerdem leide er unter Gastritis und sei auch beim XXXX in psychotheraupeutischer Behandlung.
Aufgrund in der Beschwerdeverhandlung geschilderter psychischer Probleme wurde mit hg. Beschluss vom 23.10.2020, W159 2197375-1/20Z, Dr. Eva MÜCKSTEIN zur Sachverständigen aus dem Gebiet Psychologie und Psychotherapie bestellt.
Mit Schreiben vom 12.11.2020, hg. Eingelangt am selben Tag, legte der Beschwerdeführer medizinische Unterlagen in Vorlage.
Dr. Eva MÜCKSTEIN erstattete am 13.01.2021 ein klinisch-psychologisches Gutachten. Dieses kommt im Wesentlichen zu folgendem Ergebnis:
„Unter welchen krankheitswerten psychischen Störungen leidet der BF?
Vor dem Hintergrund traumatischer und emotional belastender Lebensereignisse zeigt der BF krankheitswertige psychische Störungen mit Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) mit Albträumen, Freudlosigkeit, übermäßiger Schreckhaftigkeit, Hypervigilanz und Furcht vor Ereignissen, die Erinnerungen an das Trauma wiederbeleben können. Zudem sind Angst und Depression sowie eine ausgeprägte Somatisierungstendenz festzustellen. Vor allem eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4) mit quälenden Spannungskopfschmerzen, aber auch Störungen des Vegetativums sowie Somatisierungsstörungen im Herz-Kreislaufbereich und im Gastrointestinalbereich sind vorhanden. Bei diesen Schmerz- und Krankheitsbildern sind psychischen Faktoren eine entscheidende Rolle bezüglich Beginn, Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung beizumessen. Nach Angaben des BF ist dieses Störungsbild seit etwa drei Jahren in dieser Form ausgeprägt.
Wie wirken sich diese im Alltag aus?
Der BF gibt an, einfache Alltagsaktivitäten ausführen zu können. Aufgrund der vorliegenden Symptomatik ist die soziale und schulische bzw. berufliche Leistungsfähigkeit jedoch als eingeschränkt zu erachten. Der BF leidet unter Schlafstörungen, er zeigt Hypervigilanz und übertriebene Schreckreaktionen, er neigt zum sozialen Rückzug und ist aufgrund der depressiven und ängstlichen Symptomatik sowie aufgrund der häufigen Schmerzen und psychosomatischen Erkrankungen in seiner Konzentrations- und Lernfähigkeit beeinträchtigt. Festzustellen ist insgesamt erheblich herabgesetzte Belastbarkeit, die auf den Leidenszustand und die psychosomatischen Beeinträchtigungen und Erkrankungen zurückzuführen ist.
Ist der BF dadurch bei der Suche nach und der Ausübung von Erwerbsarbeit eingeschränkt?
Trotz guter Motivation zur Erwerbsarbeit ist die Arbeitsfähigkeit aufgrund der vorliegenden Symptomatik aktuell nicht gegeben.
Bedarf der BF einer medikamentösen und/oder psychotherapeutischen Behandlung?
Medikamentöse Behandlung durch die Fachärztin für Psychiatrie und die Primärversorger sowie die psychotherapeutische Behandlung, die im XXXX bereits eingeleitet wurde, sind bei diesem Störungsbild als State-of-the-Art-Behandlung anzusehen und somit dringend indiziert. Unbehandelt wären Verschlechterung und Chronifizierung des Krankheitszustands anzunehmen.
Kann aus fachlicher Sicht gesagt werden, worin die Ursachen für diese psychischen Störungen gelegen sind?
Pathogenetisch ist von einer Kumulation außergewöhnlich belastender Lebensereignissen auszugehen. Beim BF sind dafür als ursächlich die bedrohlichen Erlebnisse in seinem Herkunftsland, die Fluchterfahrung, der Tod seiner Tochter, der Verlust des Kontaktes zu seiner Familie sowie die Belastungen durch die unsichere Lebensperspektive sowie die drohende Abschiebung nach Afghanistan anzunehmen.
Ist der BF in der Lage, Erlebtes einigermaßen nachvollziehbar und widerspruchsfrei anzugeben?
Der BF ist grundsätzlich gut in der Lage, Erlebtes nachvollziehbar und widerspruchsfrei anzugeben. Er erscheint örtlich und situativ ausreichend orientiert. Während des Interviews gerät der BF jedoch zunehmend in einen stressbedingten Spannungszustand, der auf verminderte Belastbarkeit, Übererregungszustände und eingeschränkte Bewältigungskapazität hinweist.
Wie würde sich eine Abschiebung nach Afghanistan auf seine Gesundheit auswirken?
Der BF gibt an, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan mit dem Tode bedroht wäre. Ob dies der Realität entspricht, entzieht sich der gutachterlichen Beurteilung. Die drohende Abschiebung nach Afghanistan ist für den BF jedenfalls mit extremer Furcht und der Erwartung verbunden, in seinem Heimatland in Lebensgefahr zu schweben. Damit wäre eine zusätzliche emotionale Belastung verbunden, weshalb im Fall einer Abschiebung bereits aus diesem Grund von einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes des BF auszugehen wäre. Zudem ist anzunehmen, dass die erforderliche psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung in Afghanistan nicht sichergestellt werden kann. Ohne adäquate Behandlung ist aber eine ernste und unwiederbringliche Verschlechterung und Chronifizierung der psychischen Störung mit einem daraus resultierenden schwerwiegenden Leidenszustand und dauerhaften Funktionsbeeinträchtigungen in den beruflichen und sozialen Funktionen zu erwarten.“
Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte dieses Gutachten der Rechtsberatung des Beschwerdeführers zum Parteiengehör.
Mit undatiertem Schreiben, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 02.02.2021, nahm der Beschwerdeführer durch die BBU zum Parteiengehör Stellung. Darin wird im Wesentlichen betont, dass aufgrund des Sachverständigengutachtens feststehe, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan unzulässig sei, weil dies einer reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten würde.
• II. Das Bundesverwaltungsgericht hat, wie folgt, festgestellt und erwogen:
• 1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist sunnitischer Moslem. Er wurde im Jahr XXXX in der Provinz Kandarhar geboren, hat 17 oder 18 Jahre in Pakistan gelebt und ist danach nach Kandarhar zurückgekehrt. In Pakistan und in Afghanistan hat er als Schweißer gearbeitet. Zu in Afghanistan aufhältigen Verwandten hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt mehr.
Der Beschwerdeführer zeigt krankheitswertige psychische Störungen mit Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Albträumen, Freudlosigkeit, übermäßiger Schreckhaftigkeit, Hypervigilanz und Furcht vor Ereignissen, die Erinnerungen an das Trauma wiederbeleben können. Zudem sind Angst und Depression sowie eine ausgeprägte Somatisierungstendenz festzustellen. Vor allem eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit quälenden Spannungskopfschmerzen, aber auch Störungen des Vegetativums sowie Somatisierungsstörungen im Herz-Kreislaufbereich und im Gastrointestinalbereich sind vorhanden. Bei diesen Schmerz- und Krankheitsbildern sind psychischen Faktoren eine entscheidende Rolle bezüglich Beginn, Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung beizumessen. Nach Angaben des Beschwerdeführers ist dieses Störungsbild seit etwa drei Jahren in dieser Form ausgeprägt. Aufgrund der vorliegenden Symptomatik ist seine soziale und schulische bzw. berufliche Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Der Beschwerdeführer leidet unter Schlafstörungen, er zeigt Hypervigilanz und übertriebene Schreckreaktionen, er neigt zum sozialen Rückzug und ist aufgrund der depressiven und ängstlichen Symptomatik sowie aufgrund der häufigen Schmerzen und psychosomatischen Erkrankungen in seiner Konzentrations- und Lernfähigkeit beeinträchtigt. Festgestellt wird insgesamt erheblich herabgesetzte Belastbarkeit, die auf den Leidenszustand und die psychosomatischen Beeinträchtigungen und Erkrankungen zurückzuführen ist.
Trotz guter Motivation zur Erwerbsarbeit ist die Arbeitsfähigkeit aufgrund der vorliegenden Symptomatik aktuell nicht gegeben.
Medikamentöse Behandlung durch die Fachärztin für Psychiatrie und die Primärversorger sowie die psychotherapeutische Behandlung, die im XXXX bereits eingeleitet wurde, sind bei diesem Störungsbild als State-of-the-Art-Behandlung anzusehen und somit dringend indiziert. Unbehandelt wären Verschlechterung und Chronifizierung des Krankheitszustands anzunehmen.
Pathogenetisch ist von einer Kumulation außergewöhnlich belastender Lebensereignissen auszugehen. Beim Beschwerdeführer sind dafür als ursächlich die bedrohlichen Erlebnisse in seinem Herkunftsland, die Fluchterfahrung, der Tod seiner Tochter, der Verlust des Kontaktes zu seiner Familie sowie die Belastungen durch die unsichere Lebensperspektive sowie die drohende Abschiebung nach Afghanistan anzunehmen. Der Beschwerdeführer ist grundsätzlich gut in der Lage, Erlebtes nachvollziehbar und widerspruchsfrei anzugeben. Er erscheint örtlich und situativ ausreichend orientiert.
Im Fall einer Abschiebung ist von einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers auszugehen. Ohne adäquate Behandlung ist eine ernste und unwiederbringliche Verschlechterung und Chronifizierung der psychischen Störung mit einem daraus resultierenden schwerwiegenden Leidenszustand und dauerhaften Funktionsbeeinträchtigungen in den beruflichen und sozialen Funktionen zu erwarten.
In Österreich hat der Beschwerdeführer noch nicht gearbeitet. Der Beschwerdeführer hat ein Deutschzertifikat B1 vorgelegt. Er besucht ein Fitnesscenter. In Österreich hatte der Beschwerdeführer Freunde, aber wegen der COVID-19-Pandemie – der Beschwerdeführer hat davor Angst, an COVID 19 zu erkranken – trifft er diese nicht mehr. Der Beschwerdeführer hat eine Vorstrafe wegen § 223 Abs. 2 StGB.
Zu Afghanistan wird verfahrensbezogen Folgendes festgestellt:
• COVID-19
Letzte Änderung: 14.12.2020
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16.07.2020.pdf, Zugriff 20.9.2020
? AAN - Afghanistan Analysts Network (1.10.2020): Covid-19 in Afghanistan (7): The effects of the pandemic on the private lives and safety of women at home, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/economy-development-environment/covid-19-in-afghanistan-7-the-effects-of-the-pandemic-on-the-private-lives-and-safety-of-women-at-home/, Zugriff 18.11.20020
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? Guardian, The (2.5.2020): Civil war, poverty and now the virus: Afghanistan stands on the brink, https://www.theguardian.com/world/2020/may/02/afghanistan-in-new-battle-against-ravages-of-covid-19, Zugriff 28.9.2020
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• Politische Lage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).
Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die "innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).
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