Entscheidungsdatum
16.03.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W235 2140288-2/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Maga. Sabine MEHLGARTEN-LINTNER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.03.2020, Zl. 1076609108-191017469, zu Recht erkannt:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und die Spruchpunkte I., III., IV., V. und VI. werden ersatzlos behoben.
II. Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird dahingehend abgeändert, dass dem Antrag vom 02.08.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthalts-berechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG stattgegeben wird. XXXX , geb. XXXX , wird eine für die Dauer von zwei Jahren ab Rechtskraft dieser Entscheidung befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Vorverfahren:
1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 05.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag erfolgte seine Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Rahmen welcher er anführte, sein Geburtsdatum sei der „ XXXX “.
Da das Bundesamt an den Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Alter Zweifel hatte, wurde eine Untersuchung zur Bestimmung des Knochenalters der linken Hand durch „Röntgen am Ring“ veranlasst. Aufgrund des Untersuchungsergebnisses vom XXXX .07.2015, wonach beim Beschwerdeführer „GP 31, Schmeling 4“ vorliege, beauftragte das Bundesamt ein medizinisches Sachverständigengutachten zur Volljährigkeitsbeurteilung.
Das diesbezügliche Gutachten vom XXXX .10.2015 kommt aufgrund der durchgeführten multifaktoriellen Befunderhebung (Anamnese, körperliche Untersuchung und radiologische Bildgebung) zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz (05.07.2015) ein Mindestalter von 17,82 Jahren aufgewiesen habe und sohin sein errechnetes „fiktives“ Geburtsdatum der „ XXXX “ sei.
In der Folge wurde er am 12.09.2016 niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen, wobei er verfahrenswesentlich angab, dass er bis zu seinem vierten Lebensjahr in der afghanischen Provinz Kapisa gelebt habe. Nachdem sein Vater umgebracht worden und seine Mutter verstorben sei, habe ihn sein Onkel in den Iran mitgenommen. Dort habe der Beschwerdeführer fünf Jahre die Schule besucht und mit zwölf Jahren begonnen als Hilfsarbeiter zu arbeiten. Insgesamt habe er vier Jahre gearbeitet.
Mit Schriftsatz vom 14.09.2016 erstattete der Beschwerdeführer im Wege seines [damaligen] rechtsfreundlichen Vertreters eine Stellungnahme.
1.2. Nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.10.2016, Zl. 1076609108-150795766, der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wurde ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.10.2017 erteilt (Spruchpunkt III.).
Festgestellt wurde im Wesentlichen, dass der Beschwerdeführer afghanischer Staatsangehöriger sei und der Volksgruppe der Tadschiken sowie der sunnitischen Glaubensgemeinschaft des Islam angehöre. Im Verfahren führe er den Namen „ XXXX “ und das Geburtsdatum „ XXXX “. Er sei gesund und arbeitsfähig. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aufgrund seiner politischen Gesinnung ausgesetzt sein werde. Es sei jedoch im Entscheidungszeitpunkt davon auszugehen, dass für ihn im Fall seiner Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung keine ausreichende Lebenssicherheit bestehe. Auf den Seiten 15 bis 74 dieses Bescheides wurden unter Anführung von Quellen Feststellungen zur allgemeinen Situation in Afghanistan getroffen.
Beweiswürdigend wurde hinsichtlich des Geburtsdatums des Beschwerdeführers ausgeführt, dass sich dieses aus dem Gutachten vom XXXX .10.2015 ergebe. Das Gutachten sei der [damaligen] gesetzlichen Vertretung des Beschwerdeführers zugesendet worden und sei die gesetzliche Vertretung dem Gutachten nicht entgegengetreten. Betreffend die Feststellungen zu seiner Situation im Fall der Rückkehr wurde festgehalten, der Umstand, dass der Beschwerdeführer seit seinem fünften Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan gewesen sei, stelle ein Rückkehrhindernis dar. Er verfüge über kein soziales Auffangnetz, da er im Herkunftsstaat keine Familienmitglieder oder Verwandte kenne.
Rechtlich folgerte das Bundesamt zu Spruchpunkt II. dieses Bescheides, dass die Eltern des Beschwerdeführers verstorben seien und seine restliche Familie im Iran lebe. Zu Afghanistan bestünden keine Kontakte. Aufgrund dieser individuellen Umstände in Verbindung mit der prekären Sicherheitslage in Afghanistan erscheine die Existenzgrundlage des Beschwerdeführers gefährdet, weshalb er im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat in seinem nach Art. 3 EMRK gewährleisteten Recht verletzt wäre.
Die gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.02.2017, W123 2140288-1/5E, als unbegründet abgewiesen.
1.3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.10.2017 wurde die Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers bis zum 04.10.2019 verlängert. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat in Verbindung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als glaubwürdig gewertet würden.
2. Gegenständliches Verfahren:
2.1. Am 02.08.2019 stellte der Beschwerdeführer unter Verwendung des vorgesehenen Formulars einen neuerlichen Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltsberechtigung.
2.2. Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 29.10.2019 wurde dem Beschwerdeführer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nach Darstellung des Verfahrensganges mitgeteilt, es hätten sich gegenständlich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass er im Fall einer Rückkehr nicht mehr in seinen nach Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechten verletzt werden würde. Seit Zuerkennung des Schutzstatus habe der Beschwerdeführer in Österreich die Möglichkeit gehabt, sich fortzubilden und Berufs- sowie Lebenserfahrung zu sammeln. Teilweise habe sich auch die Situation in Afghanistan verändert. Zu seinem aktuellen Gesundheitszustand würden der Behörde jedoch keine Informationen vorliegen. Aufgrund dieser Erwägungen sei im Rahmen eines Aberkennungsverfahrens zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Schutzstatus noch immer vorlägen.
Mit dieser Verständigung wurden dem Beschwerdeführer Länderinformationen betreffend Afghanistan zur Stellungnahme übermittelt. Ferner wurde ihm aufgetragen, binnen einer Frist von zwei Wochen nachstehende Fragen zu beantworten:
1. Werden Sie in gegenständlichem Verfahren vertreten? […]
2. Sind Sie gesund oder befinden Sie sich derzeit in ärztlicher Behandlung? […]
3. Welche Schul- und Berufsausbildung wurde absolviert? Wo wurde diese absolviert?
4. Geben Sie Namen, Anschrift, Geburtsdaten, Staatsangehörigkeit (bei Angehörigen, die nicht Österreicher sind) der in Österreich lebenden Familienangehörigen (Gatte, Eltern, Kinder, etc.) an.
5. Haben Sie eine Aufenthaltsberechtigung für einen anderen europäischen Staat?
6. Wann sind Sie zuletzt einer Beschäftigung nachgegangen (Name und Anschrift des Arbeitgebers) bzw. arbeiten Sie derzeit?
7. Wenn keine aufrechten oder durchgehenden Beschäftigungsverhältnisse vorliegen: wovon wurden der Unterhalt und der sonstige Lebenswandel bestritten? […]
8. Sind Sie derzeit beim AMS gemeldet? […]
9. Verfügen Sie über weitere soziale Bindungen zu Österreich? […]
10. Sprechen Sie Deutsch?
11. Welche Bemühungen haben Sie unternommen, um Ihre Integration in Österreich voranzutreiben?
12. Verfügen Sie über persönliche Bindungen zu ihrem Heimatland? […]
13. Haben Sie eine Wohnanschrift in Ihrem Heimatland? […]
14. Über wie viel Barmittel verfügen Sie derzeit?
15. Welche Bemühungen zur Erlangung der Selbsterhaltungsfähigkeit haben Sie unternommen?
16. Würden Sie freiwillig in Ihr Heimatland zurückkehren?
17. Gibt es Gründe, die gegen eine Abschiebung nach Afghanistan sprechen würden? Was befürchten Sie im Fall der Rückkehr?
18. Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?
Mit Stellungnahme vom 06.12.2019 brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, er werde aktuell nicht vertreten. Der Beschwerdeführer sei gesund und befinde sich nicht in ärztlicher Behandlung. In Afghanistan habe er keine Schule besucht. Den Herkunftsstaat habe er im Alter von zwei Jahren verlassen. Im Iran sei er fünf Jahre in die Schule gegangen. Während seines Aufenthalts in Österreich habe er mehrere Deutschkurse bis zum Sprachniveau B1 besucht. Ferner habe er seinen Pflichtschulabschluss nachgeholt. Im Bundesgebiet habe er keine Familienangehörigen. Eine Aufenthaltsberechtigung für einen anderen europäischen Staat habe er nicht. Aktuell arbeite er im Restaurant „ XXXX “ in XXXX . Zu seinen sozialen Bindungen führte er an, er habe österreichische Freunde und pflege auch Beziehungen zu seinen Arbeitskollegen. Zu seinem Vermögen gab er an, er habe ca. € 2.000,00 auf seinem Konto und € 500,00 in bar. Im Herkunftsstaat habe er weder eine Wohnanschrift noch sonstige Bindungen. Eine freiwillige Rückkehr komme für ihn nicht in Betracht. In Afghanistan habe er niemanden. Bereits als Kleinkind habe er den Herkunftsstaat verlassen. Er habe dort weder Sicherheit noch eine Unterkunft. Zudem sei der Beschwerdeführer seit fast viereinhalb Jahren in Österreich und habe ein schützenswertes Privatleben. Im Fall der Rückkehr fürchte er um sein Leben. Er sei schon so lange aus Afghanistan weg, sodass er dort ein Fremder wäre. Im Fall der Rückkehr würde er in eine aussichtslose Gefahrenlage geraten. Aufgrund der Sicherheitslage in Afghanistan ersuche er, seinem Antrag stattzugeben, in eventu festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig und ihm eine Aufenthaltsberechtigung plus zu erteilen sei.
Der Stellungnahme wurden folgende verfahrensrelevante Unterlagen (in Kopie) beigelegt:
? Gehaltsabrechnungen für August bis Oktober 2019, auf welchen ein Nettolohn in Höhe von € 1.308,93 bzw. von € 1.246,86 ausgewiesen ist samt Meldung des Beschäftigungsverhältnisses an die Sozialversicherung vom XXXX .06.2019;
? ÖSD-Zertifikat A2 vom XXXX .12.2017;
? Zeugnis einer Mittelschule über die Pflichtschulabschlussprüfung vom XXXX .07.2018 und
? schlecht leserliche Kopie eines Führerscheins
3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.03.2020 wurde dem Beschwerdeführer der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.10.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und die ihm mit Bescheid vom 04.10.2016 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen. Sein Antrag vom 02.08.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde gemäß § 8 Abs. 4 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG wurde ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Ferner wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Festgestellt wurde im Wesentlichen, dass der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger sei, aus Kapisa stamme und der Volksgruppe der Tadschiken sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam angehöre. Er sei jung, gesund und arbeitsfähig. Der Beschwerdeführer sei nicht verheiratet, lebe in keiner Partnerschaft und habe keine Kinder. Im Iran habe er fünf Jahre die Schule besucht. Der Status des subsidiär Schutzberechtigten sei ihm im Jahr 2016 aufgrund der fehlenden familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan zuerkannt worden. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung lägen nicht mehr vor, da sich seine subjektive Lage im Vergleich zum seinerzeitigen Entscheidungszeitpunkt geändert habe. Der Beschwerdeführer habe am XXXX .07.2018 die Prüfung für den Pflichtschulabschluss absolviert und arbeite seit XXXX .06.2019 in einem Restaurant. Er habe sohin an Berufserfahrung sowie an damit einhergehender Lebenserfahrung gewonnen. Der Beschwerdeführer habe sich in einem ihm unbekannten Land zurechtfinden, neue soziale Kontakte knüpfen und sich den Gegebenheiten anpassen können. Ferner sei er in der Lage gewesen, sich selbstständig um einen Arbeitsplatz und um eine eigene Wohnung zu bemühen. Eine Ansiedlung in den Provinzen Balkh oder Herat sei ihm zumutbar. Der Beschwerdeführer habe vierzehn Jahre im Iran gelebt, wo er die gleichen sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten vorgefunden habe wie in Afghanistan. Im Herkunftsstaat könne er zudem Unterstützung durch die Volksgruppe der Tadschiken erhalten. Ferner werde er Unterstützung von verschiedenen Organisationen in Afghanistan erhalten, um sich ein neues soziales Netzwerk aufzubauen. Auf den Seiten 7 bis 123 des angefochtenen Bescheides wurden unter Anführung von Quellen Feststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan getroffen.
Im Zuge der Beweiswürdigung wurde unter anderem ausgeführt, dass sich die subjektive Lage des Beschwerdeführers insoweit geändert habe, als er trotz Sprach- und Kulturbarriere die Pflichtschulabschlussprüfung absolviert, einen Arbeitsplatz gefunden, sich um eine eigene Wohnung bemüht und Behördengänge alleine getätigt habe. Zusammengefasst habe er einen Zuwachs an Lebenserfahrung erhalten, sodass er nunmehr selbstständig für seinen Lebensunterhalt im Herkunftsstaat aufkommen und sich ein soziales Netzwerk aufbauen könne. Im Jahr 2016 sei er demgegenüber noch eine Person gewesen, der man aufgrund der fehlenden familiären Anknüpfungspunkte und des jungen Alters die Rückkehr nicht zumuten habe können. Der Beschwerdeführer sei selbsterhaltungsfähig. Seit XXXX .06.2019 sei er bei dem Unternehmen XXXX angestellt und sei auch zuvor erwerbstätig gewesen. Insgesamt habe er sohin mindestens eineinhalb Jahre Erfahrungen betreffend die Abläufe und Struktur in einem Betrieb gesammelt. Mit seinen Kenntnissen, der Motivation, der neu gewonnenen Lebenserfahrung und der Selbstständigkeit sei es ihm zumutbar, sich im Herkunftsstaat in den Provinzen Herat oder Balkh neu anzusiedeln. Mit den afghanischen Gepflogenheiten sei er vertraut und beherrsche auch die Sprache. Es sei davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer auch in Afghanistan um ein soziales Netzwerk bemühen könne. Zudem gebe es in Afghanistan Organisationen, an welche er sich nach seiner Rückkehr wenden könne und welche ihm bei anfänglichen Schritten helfen könnten. Im Gegensatz dazu sei er in Österreich aufgrund der Sprach- und Kulturbarriere anfänglich benachteiligter gewesen. Dennoch habe er sich einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut. Dies spreche alles dafür, dass er nunmehr in der Lage sei, sich aus eigenen Kräften das Überleben in Afghanistan zu sichern, da er nun aufgrund seiner Lebenserfahrung über die erforderlichen Fertigkeiten verfüge. Hinzu komme, dass er die Unterstützung internationaler Organisationen in Anspruch nehmen sowie auf finanzielle Rückkehrunterstützung zurückgreifen könne. In Afghanistan bestünden überdies zahlreiche Netzwerke, wie zum Beispiel der Stamm, der Clan sowie die lokale Gemeinschaft, welche auf der Zugehörigkeit zur Ethnie, Religion oder Ähnlichem basieren würden. Der Beschwerdeführer könne auf diese Netzwerke zurückgreifen und Unterstützung erhalten. In Anbetracht der Volljährigkeit, des Schulabschlusses, der Berufserfahrung, der neu gewonnenen Lebenserfahrung sowie der Möglichkeit, Unterstützung von Organisationen und Stammesgemeinschaften zu erhalten, sei dem Beschwerdeführer eine Rückkehr nach Afghanistan auch ohne familiäre Anknüpfungspunkte möglich.
Rechtlich folgerte das Bundesamt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Schutzstatus nicht mehr vorlägen, da sich die Lage des Beschwerdeführers in den letzten fünf Jahren maßgeblich geändert habe. Zur Begründung wurde neuerlich auf die Absolvierung des Pflichtschulabschlusses sowie auf seine Berufserfahrung hingewiesen. Weiters wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer habe selbstständig soziale Kontakte geknüpft und sich trotz sprachlicher und kultureller Barrieren in Österreich eine Wohnung gemietet. Die neu erworbenen Kenntnisse im Bundesgebiet könnten ihm im Fall einer Ansiedlung in den Provinzen Balkh oder Herat von Nutzen sein, um damit auch die grundlegendsten Bedürfnisse abdecken zu können. In den letzten Jahren sei der Beschwerdeführer zu einem reifen jungen Erwachsenen geworden. Er sei gesund und befinde sich im erwerbsfähigen Alter. Der Beschwerdeführer sei in einem Land aufgewachsen, in welchem die gleichen kulturellen und sprachlichen Gegebenheiten wie in Afghanistan vorherrschen würden. Zudem nutze er auch in Österreich ein afghanisches soziales Netzwerk. Dem Beschwerdeführer sei es auch zumutbar, Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Festzuhalten sei überdies, dass nach der aktuellen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes selbst ein Fehlen der Schul- und Berufsbildung, eine drohende Arbeitslosigkeit, fehlende familiäre Unterstützung sowie fehlende Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten in Balkh oder in Herat keine reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK begründen würden. Hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan wurde erwogen, dass die Lage unverändert weder sicher noch stabil sei, jedoch variiere die Sicherheitslage regional von Provinz zu Provinz. Aus den Feststellungen ergebe sich hinsichtlich „Ghazni“, der Heimatprovinz des Beschwerdeführers, dass eine relevante Gefährdungslage vorliege. Eine Ansiedlung in Balkh oder Herat sei ihm aufgrund der dortigen Sicherheits- und Versorgungslage sowie der sicheren Erreichbarkeit jedoch zumutbar.
Mit Verfahrensanordnung vom 16.03.2020 wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer im Wege seines nunmehr ausgewiesenen rechtsfreundlichen Vertreters am 26.03.2020 Beschwerde wegen Gesetzwidrigkeit und beantragte die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung. Begründend wurde ausgeführt, eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten komme nur dann in Frage, wenn jene Gründe, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt hätten, mittlerweile weggefallen seien. Dies sei gegenständlich nicht der Fall. Die Zuerkennung des Schutzstatus sei erfolgt, weil der Beschwerdeführer Afghanistan im Alter von vier Jahren verlassen, sein Leben vor der Flucht nach Österreich im Iran verbracht habe und in Afghanistan über kein soziales Netzwerk verfüge, auf dessen Unterstützung er zurückgreifen könne. Hinsichtlich dieser Umstände sei keine Änderung eingetreten. Ferner sei auf die gefestigte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sowie des Verfassungsgerichtshofes betreffend sogenannte „Iran-Afghanen“ zu verweisen. Unter Berücksichtigung der EASO-Guidelines 2019 zu Afghanistan sei dem Beschwerdeführer eine Ansiedlung in Afghanistan nicht zumutbar.
Weiters wurde ausgeführt, die Absolvierung des Pflichtschulabschlusses sowie die in Österreich gewonnene Berufs- und Lebenserfahrung ändere nichts daran, dass jene Gründe, die zur Zuerkennung des Schutzstatus geführt hätten, noch immer vorlägen. Weder eine österreichische Pflichtschulabschlussprüfung noch seine in Österreich gewonnene Berufs- und Lebenserfahrung würden dem Beschwerdeführer in Afghanistan nützen. Tatsache sei, dass er die sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan nicht kenne, da er dort lediglich als Baby bzw. als Kleinkind gelebt habe. Der Beschwerdeführer sei im Iran sozialisiert worden und habe sein weiteres Leben in Österreich verbracht. Er verfüge über kein soziales Netzwerk in Afghanistan. In Herat oder in Balkh bestehe für ihn keine Überlebensmöglichkeit. Auch vor dem Hintergrund, dass die COVID-19 Pandemie vor Afghanistan nicht Halt machen werde, sei ihm eine Rückkehr nicht zumutbar. Abschließend wurde darauf hingewiesen, dass den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung auch in seinen nach Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechten verletze.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
1.1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Tadschiken sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Seine Erstsprache ist Dari. Der Beschwerdeführer stammt aus der afghanischen Provinz Kapisa, ist jedoch nach dem Tod seiner Eltern im Kleinkindalter mit seinem Onkel in den Iran verzogen. Dort hat er insgesamt fünf Jahre die Schule besucht. Als Jugendlicher ist er im Iran insgesamt vier Jahre als Hilfsarbeiter tätig gewesen.
1.1.2. Nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet stellte der Beschwerdeführer am 05.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Seither ist er durchgehend in Österreich aufhältig.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.10.2016 wurde dem zum damaligen Zeitpunkt bereits volljährigen Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.10.2017 erteilt. Begründend wurde ausgeführt, dass die Eltern des Beschwerdeführers verstorben seien und seine übrigen Familienangehörigen im Iran leben würden. Der Beschwerdeführer habe ab seinem fünften Lebensjahr im Iran gelebt und es würden keine Kontakte mehr nach Afghanistan bestehen. Aufgrund dieser Umstände in Verbindung mit der prekären Sicherheitslage in Afghanistan verfüge der Beschwerdeführer in Afghanistan über keine gesicherte Existenzgrundlage, weshalb er im Fall der Rückkehr nach Afghanistan in seinen nach Art. 3 EMRK gewährleisten Rechten verletzt werde.
Zuletzt wurde mit Bescheid vom 06.10.2017 die befristete Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers bis zum 04.10.2019 verlängert. Daraufhin stellte er am 02.08.2019 einen Antrag auf (weitere) Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung.
1.1.3. In Afghanistan hat der Beschwerdeführer weder familiäre noch soziale Anknüpfungspunkte. Er verfügt sohin im Herkunftsstaat über kein tragfähiges soziales Netzwerk, welches im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan willig und in der Lage wäre, ihn zu unterstützen.
Der Beschwerdeführer ist ledig, gesund und arbeitsfähig. Seit November 2016 lebt er in einer privaten Mietwohnung. Am XXXX .07.2018 hat der Beschwerdeführer die Pflichtschulabschlussprüfung positiv absolviert. Seit XXXX .06.2019 ist er als Arbeiter in einem Restaurant der „ XXXX “ beschäftigt und ist hierdurch in der Lage, seinen Lebensunterhalt aus Eigenem zu bestreiten.
In Österreich ist der Beschwerdeführer strafrechtlich unbescholten.
1.1.4. Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, insbesondere in der Provinz Kapisa sowie in den Städten Mazar-e Sharif und Herat, steht nicht fest, dass sich die Umstände, die zur Gewährung subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.10.2016 wesentlich und nachhaltig verändert haben.
1.2. Zur allgemeinen Situation in Afghanistan:
1.2.1. Sicherheitslage:
1.2.1.1. Sicherheitslage aktuell (letzte Änderung: 14.12.2020):
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschafts-wahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).
Für den Berichtszeitraum 01.01.2020 - 30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.07.2020).
Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonalen Trends gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.03.2020).
1.2.1.2. Sicherheitslage im Jahr 2019:
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.01.2020).
Zivile Opfer:
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020). [...]
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuss (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).
Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.07.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs):
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 01.07.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.03.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten:
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).
Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (TN 26.03.2020 vgl.; BBC 25.03.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020, USDOD 6.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen:
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban:
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019), und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020).
Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.05.2020, AnA 28.07.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020).
Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020, RFE/RL 02.06.2020).
Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 09.06.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 02.06.2017).
Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 01.06.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.09.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020), UNSC 27.05.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).
Haqqani-Netzwerk:
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban, Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.05.2020) und verfügt über Kontakte zu IS (RA KBL 12.10.2020; vgl. EASO 8.2020). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani [auch Sirajuddin Haqqani] (EASO 8.2020c; cf. UNSC 27.05.2020).
Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019). Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika und Khost aktiv. Sie verfügen jetzt über mehr Macht als in den Vorjahren und führen mehr Operationen durch. Es gibt keine größeren Gegenmaßnahmen der afghanischen Regierung oder der Sicherheitskräfte gegen das Netzwerk (RA KBL 12.10.2020).
Die afghanische Regierung entließ drei führende Mitglieder des Netzwerks im Zuge des Gefangenenaustausches im November 2019 (RA KBL 12.10.2020; vgl. NYT 19.11.2019, BBC 19.11.2019). Das Haqqani-Netzwerk ist an den aktuellen Friedensverhandlungen beteiligt (RA KBL 12.10.2020).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Es ist aber nicht erwiesen, ob er mit dem IS im Irak und in Syrien verbunden ist oder nicht. (RA KBL 12.10.2020). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LWJ 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019) bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern (EASO 8.2020). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (VOA 21.05.2019).
Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.03.2020; vgl. RA KBL 12.10.2020), da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region (SIGAR 30.01.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.02.2020; vgl. MT 27.02.2020). Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020), wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020, UNGASC 17.03.2020). Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.03.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020) und 300 Kämpfer reduziert (NYT 02.12.2020).
49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.03.2020).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.03.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 02.12.2020).
Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vgl. AP 19.08.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.08.2019).
Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche (EASO 8.2020c; vgl. SaS 10.02.2020). Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020).
Am 4.4.2020 verhaftete die Nationale Sicherheitsdirektion Afghanistans (NDS) den IS-Führer in Afghanistan (RA KBL 12.10.2020; vgl. AnA 30.04.2020, HRW 06.04.2020), und laut NDS wurde das Hauptführungs- und Koordinierungsgremium des islamischen Staates eliminiert, aber die Teilnetzwerke existieren noch immer in verschiedenen Bereichen. Die Gruppe ist immer noch aktiv und führt weiterhin Angriffe durch (RA KBL 12.10.2020).
Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen:
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.01.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.06.2019). Einer Quelle zufolge hat Al-Qaida weniger Macht als in den letzten Jahren (RA KBL 12.10.2020b). Gemäß UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in zwölf Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht, die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.06.2019).
Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020);
? AAN - Afghanistan Analysts Network (25.6.2020): New World Drug Report: Opium production in Afghanistan remained the same in 2019;
? AAN - Afghanistan Analysts Network (6.12.2018): One Land, Two Rules (1): Service delivery in insurgentaffected areas, an introduction;
? AAN - Afghanistan Analysts Network (1.8.2017): Thematic Dossier XV: Daesh in Afghanistan;
? AAN - Afghanistan Analysts Network (17.11.2014): Messages in Chalk: ‘Islamic State’ haunting Afghanistan?;
? AAN - Afghanistan Analysts Network (4.7.2011): The Layha: Calling the Taleban to Account;
? AnA - Anadolu Agency (28.7.2020): Taliban leader urges US to comply with peace deal;
? AnA - Anadolu Agency (30.4.2020). Who is de facto leader of Daesh/ISIS in Afghanistan?;
? AJ - Al-Jazeera (26.3.2020): Solidarity for Sikhs after Afghanistan massacre;
? AJ - Al-Jazeera (6.3.2020): Dozens killed in Kabul ceremony attack claimed by ISIL;
? AP - Associated Press (19.8.2019): A look at the Islamic State affiliate’s rise in Afghanistan;
? BBC (1.4.2020): Afghanistan and Taliban begin direct talks with aim of prisoner swap;
? BBC (25.3.2020): Afghanistan conflict: Militants in deadly attack on Sikh temple in Kabul;
? BBC (6.3.2020): Kabul attack: Abdullah Abdullah escapes deadly attack;
? BBC (19.11.2019): US and Australian hostages freed in Taliban prisoner swap;
? Bradford, James, T. (2019): Poppies, Politics, and Power. Ithaca: Cornell University Press. Liegt im Archiv der Staatendokumentation auf;
? BR - Brookings (5.3.2020): The US-Taliban peace deal: A road to nowhere;
? CRS - Congressional Research Center (12.2.2019): Al-Qaida and Islamic State Affiliates in Afghanistan;
? CTC - Combating Terrorism Center Sentinel (1.2018): Red on Red: Analyzing Afghanistan’s IntraInsurgent Violence;
? DS - Der Standard (11.2.2020): Mindestens fünf Tote nach Selbstmordanschlag in Kabul;
? DW - Deutsche Welle (26.2.2020): Afghanistan: One district’s hope for lasting peace;
? EASO - European Asylum Support Office (8.2020c): Afghanistan: Anti-Government Elements (AGEs) ;
? FP - Foreing Policy (9.6.2020): Factional Struggles Emerge in Virus-Afflicted Taliban Top Ranks;
? HRW - Human Rights Watch (6.4.2020): Afghanistan: Prosecute Head of ISIS-linked Group;
? LI - Landinfo [Norwegen] (23.8.2017): Afghanistan: Taliban’s organization and structure, Landinfo;
? LI - Landinfo [Norwegen] (29.6.2017): Afghanistan: Recruitment to Taliban;
? LWJ - Long War Journal (14.8.2019): Taliban promotes its ‘Preparation for Jihad’;
? LWJ - Long War Journal (4.12.2017): Taliban touts defection of Islamic State ‘deputy‘;
? LWJ - Long War Journal (5.3.2015): Mapping the emergence of the Islamic State in Afghanistan;
? MT - Military Times (27.2.2020): ISIS loses more than half its fighters from US airstrikes and Taliban ground operations;
? NYT - New York Times, The (26.5.2020): How the Taliban Outlasted a Superpower: Tenacity and Carnage;
? NYT - New York Times, The (19.11.2019): Two Western Hostages Are Freed in Afghanistan in Deal With Taliban;
? NYT - New York Times, The (12.9.2019): Fact-checking Trump’s Statements on Increased Military Strikes in Afghanistan;
? NYT - New York Times, The (20.8.2019): As Taliban Talk Peace, ISIS Is Ready to Play the Spoiler in Afghanistan;
? NZZ - Neue Züricher Zeitung (20.4.2020): Taliban töten erneut fast 20 Soldaten aus regierungstreuen Kreisen - die neusten Entwicklungen nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens in Afghanistan;
? ONDCP - Office of National Drug Control Policy (7.2.2020): ONDCP Releases Data on Poppy Cultivation and Potential Opium Production in Afghanistan;
? Osman, Borham (1.6.2020): Peaceworks - Bourgeois Jihad: Why young, middle-class Afghans join the Islamic State;
? RA KBL - Lokaler Rechtsanwalt in Kabul (12.10.2020b): Auskunft per E-Mail;
? REU - Reuters (6.10.2020): Exclusive: Taliban, Afghan negotiators set ground rules to safeguard peace talks - sources;
? REU - Reuters (17.8.2019): Taliban say killing of leader’s brother will not derail U.S. talks;
? RFE/RL - Radio Free Europe / Radio Liberty (2.6.2020): Taliban Officials Deny Report That Top Leader Died From Coronavirus;
? SAS - Stars and Stripes (10.2.2020): ISIS in Afghanistan was ‘obliterated’ but fighters who escaped could stage resurgence;
? SIGAR (30.7.2020): SIGAR Quarterly Reports to Congress;
? SIGAR (30.1.2020): SIGAR Quarterly Reports to Congress;
? STDOK - Staatendokumentation des BFA (4.11.2019): Grafische Darstellung der sicherheitsrelevanten Vorfälle 1.1.2018-30.9.2019, liegt im Archiv der Staaten-dokumentation vor;
? TD - The Diplomat (2.