Entscheidungsdatum
17.03.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
1.) W204 2193322-1/14E
2.) W204 2193263-1/13E
3.) W204 2193316-1/10E
4.) W204 2193312-1/9E
5.) W204 2236527-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
1.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von S XXXX Z XXXX N XXXX , geb. XXXX 1985, StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverin St. Marx und dessen Obmann Dr. Lennart Binder, LL.M., Pulverturmgasse 4/2/R01, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und S XXXX Z XXXX N XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird S XXXX Z XXXX N XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.
III. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
2.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von M XXXX A XXXX , geb. XXXX 1988, StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverin St. Marx und dessen Obmann Dr. Lennart Binder, LL.M., Pulverturmgasse 4/2/R01, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und M XXXX A XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird M XXXX A XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte erteilt.
III. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
3.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von S XXXX H XXXX XXXX N XXXX , geb. XXXX 2007, StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter M XXXX A XXXX , diese vertreten durch den MigrantInnenverin St. Marx und dessen Obmann Dr. Lennart Binder, LL.M., Pulverturmgasse 4/2/R01, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und S XXXX H XXXX XXXX N XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird S XXXX H XXXX XXXX N XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.
III. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
4.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von S XXXX XXXX N XXXX , geb. XXXX 2013, StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter M XXXX A XXXX , diese vertreten durch den MigrantInnenverin St. Marx und dessen Obmann Dr. Lennart Binder, LL.M., Pulverturmgasse 4/2/R01, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und S XXXX XXXX N XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird S XXXX XXXX N XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.
III. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
5.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von M XXXX N XXXX , geb. XXXX .2020, StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter M XXXX A XXXX , diese vertreten durch den MigrantInnenverin St. Marx und dessen Obmann Dr. Lennart Binder, LL.M., Pulverturmgasse 4/2/R01, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.10.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und M XXXX N XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird M XXXX N XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte erteilt.
III. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Die Beschwerdeführer zu 1.) bis 4.) (im Folgenden: BF1 bis BF4), Staatsangehörige Afghanistans, reisten in das Bundesgebiet ein und stellten am 12.09.2015 Anträge auf internationalen Schutz.
I.2. Am darauffolgenden Tag wurden der BF1 und die BF2 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Wien niederschriftlich erstbefragt. Nach den Gründen befragt, die die BF bewogen, ihre Heimat zu verlassen, gaben beide an, sie hätten Afghanistan wegen der schlechten Sicherheitslage verlassen.
I.3. Am 23.05.2017 wurde die BF2 und am 01.06.2017 der BF1 von einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Die BF wurden dabei u.a. zu ihrem Gesundheitszustand, ihrer Identität, ihren Lebensumständen in Afghanistan, ihren Familienangehörigen und ihren Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die die BF bewogen, ihre Heimat zu verlassen, gaben sie im Wesentlichen an, der BF1 habe früher bei einem US-amerikanischen Unternehmen gearbeitet, weswegen die Familie mehrere Jahre später angegriffen worden sei.
I.4. Mit den im jeweiligen Rubrum genannten Bescheiden, den BF am 20.03.2018 und 21.03.2018 zugestellt, wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkte II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den BF nicht erteilt (Spruchpunkte III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkte IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte VI.).
Dazu führte das BFA mit näherer Begründung aus, die BF hätten ihr Vorbringen nicht glaubhaft machen können, sodass ihnen der Status der Asylberechtigten nicht gewährt werden könne. Auch subsidiärer Schutz sei nicht zu gewähren, da den BF eine Rückkehr in ihre Heimatprovinz möglich sei. Überdies stünde ihnen eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul offen. Mangels Vorliegens der Voraussetzungen sei auch kein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG zu erteilen. Nach Durchführung einer Interessensabwägung kam das BFA zum Schluss, dass die öffentlichen die privaten Interessen überwiegen, und erließ eine Rückkehrentscheidung.
I.5. Mit Verfahrensanordnungen vom 15.03.2018 wurde den BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
I.6. Gegen die unter I.4 genannten Bescheide richtet sich die Beschwerde vom 17.04.2018 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens. Es wurde beantragt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, den BF Asyl, in eventu subsidiären Schutz, zu gewähren, in eventu die Bescheide zu beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung neuer Bescheide an das BFA zurückzuverweisen sowie festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei.
In der Beschwerde wurde die Beweiswürdigung des BFA bekämpft und bemängelt, dass das BFA unvollständige und teils veraltete Länderinformationen verwendet habe. Hätte es auch die in der Beschwerde auszugsweise zitierten Berichte beachtet, hätte es den BF zumindest subsidiären Schutz gewährt. Darüber hinaus sei die Befragung der BF2 zu ihrer „westlichen Orientierung“ mangelhaft erfolgt.
I.7. Die Beschwerde und die Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 23.04.2018 vorgelegt.
I.8. Am 15.01.2019, 24.07.2019, 21.08.2019 und 02.07.2020 wurden Integrationsunterlagen vorgelegt.
I.9. Nachdem für die im Bundesgebiet geborene BF5 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden war, wurde auch dieser durch das BFA vollinhaltlich mit zu 5.) genanntem Bescheid abgewiesen (Spruchpunkt I. und II.), kein Aufenthaltstitel erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkt V.), sowie eine vierzehntätige Frist zur freiwilligen Ausreise festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Dagegen wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.
Der Akt der BF5 wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 03.11.2020 vorgelegt.
I.10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.12.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die BF und ihr Vertreter teilnahmen. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an einer Verhandlung. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurden die BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu ihrer Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, ihren Familienangehörigen, ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.
I.11. Nach Übermittlung aktueller Länderinformationen nahmen die BF dazu am 20.01.2021 Stellung.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
- Einsicht in die die BF betreffenden und dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakte des BFA, insbesondere in die Befragungsprotokolle;
- Befragung der BF im Rahmen einer öffentlich mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 17.12.2020;
- Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat und in die von den BF vorgelegten Stellungnahmen und Unterlagen;
- Einsicht in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.
II. Feststellungen:
II.1. Zu den BF:
Die Identität der BF steht nicht fest, sie führen den im jeweiligen Rubrum angeführten Namen und das jeweilige Geburtsdatum. Die BF sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Sadat und schiitische Moslems. Ihre Muttersprache ist Dari.
Der BF1 ist der Cousin der BF2. Der BF1 und die BF2 sind traditionell miteinander verheiratet. Die Hochzeit wurde von den Eltern der beiden BF arrangiert. Der BF1 und die BF2 haben dieser Hochzeit zugestimmt, da sie sich von früher kannten und sich sympathisch waren. Die BF3 bis BF5 sind die minderjährigen Kinder des BF1 und der BF2.
Die Familie der BF stammt aus dem Dorf D XXXX im Distrikt S XXXX in der Provinz Parwan, das etwa zwei Autostunden von Kabul entfernt liegt. Sowohl der BF1 als auch die BF2 wurden dort geboren.
Der BF1 ist in seinem Geburtsort aufgewachsen. Im Jahr 1378 (entspricht 1997/1998) lebte die Familie des BF1 für kurze Zeit in Pole-Khomri, da die Taliban den Geburtsort angriffen. Der BF1 besuchte in Parwan für zwei Jahre eine Schule. Der BF1 arbeitete etwa seit seinem dreizehnten Lebensjahr als Metallarbeiter und danach als LKW-Fahrer gemeinsam mit seinem Bruder. Zwischen diesen Berufstätigkeiten half er seinem Vater auf den Grundstücken der Familie in der Landwirtschaft. Der BF1 arbeitete nicht als Sicherheitsmann / Security für USAID.
Die BF2 ist etwa bis zu ihrem zehnten oder elften Lebensjahr in ihrem Geburtsort aufgewachsen und hat dort fünf Jahre lang eine Schule besucht. Danach zog sie mit ihrer Familie nach Kabul, wo sie bis zu ihrer Heirat mit 18 Jahren lebte und weitere drei Jahre eine Schule besuchte. Danach zog sie wieder in ihren Geburtsort, wo sie bei ihrem Mann lebte. Auch nach ihrer Heirat besuchte die BF2 regelmäßig, etwa einmal im Monat für ein bis zwei Tage, ihre Eltern in Kabul. Nach ihrer Heirat half sie manchmal den Schwiegereltern auf den familieneigenen Grundstücken in der Landwirtschaft.
Der BF3 und der BF4 wurden in Afghanistan geboren, die BF5 auf österreichischem Bundesgebiet.
Die BF sind nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Die BF1 und die BF3 bis BF5 sind gesund. Die BF2 hat die Medikation ihrer psychischen Probleme aufgrund ihrer Schwangerschaft zur BF5 abgebrochen und steht seither nicht in entsprechender medikamentöser Behandlung oder Therapie. Darüber hinaus ist sie gesund. Die BF sind entsprechend ihres Alters arbeitsfähig.
II.2. Zu den Fluchtgründen der BF:
Der BF1 wurde nicht von den Taliban gesucht und es wurde kein Attentat auf die Familie verübt, bei dem die BF2 körperlich angegriffen wurde.
Die BF sind in Afghanistan wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit zu den Sadat und ihrer Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.
Die BF2 besuchte im Bundesgebiet mehrere Deutschkurse bis zum Niveau B1. Sie hat die ÖSD Integrationsprüfung A2 bestanden und einen Werte- und Orientierungskurs des ÖIF besucht. Außerdem besuchte die BF2 gemeinsam mit ihrem Mann mehrere von „Start XXXX “ zur Integration angebotenen Kurse zu verschiedenen Themen. Außer diesen Kursen zur Integration betätigt sich die BF2 bis auf einen Fahrradkurs nicht alleine in der Öffentlichkeit. Sie kümmert sich zu Hause um den Haushalt und die Kindererziehung, während ihr Mann ehrenamtliche Tätigkeiten verrichtet.
Die BF2 hat während ihres Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise verinnerlicht, die für sie zu einem bedeutenden Bestandteil ihrer Identität wurde und aufgrund derer sie einer Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wäre, wenn sie diese auch in Afghanistan ausleben würde.
Die BF5 könnte wie ihre Brüder in Afghanistan eine Schule besuchen. Falls ihr der Schulbesuch verweigert werden sollte, beruht diese Verweigerung nicht auf Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.
II.3. Zum (Privat-)Leben der BF in Österreich:
Die BF reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich und halten sich zumindest seit 12.09.2015 durchgehend in Österreich auf. Sie sind seit ihrem Antrag auf internationalen Schutz vom selben Tag in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der BF1 besuchte mehrere Deutschkurse bis zum Niveau A2+, wobei er die Prüfung auf diesem Niveau nicht bestand. Er besuchte gemeinsam mit seiner Frau mehrere von „Start XXXX “ zur Integration angebotene Kurse zu verschiedenen Themen. Der BF1 hat einen Werte- und Orientierungskurs des ÖIF besucht. Seit April 2020 nimmt der BF am Projekt I XXXX teil, wo er Schneider- und Gartenarbeiten verrichtet. Seit August 2020 verrichtet er Hilfstätigkeiten in einem Haus der Volkshilfe. Seit Oktober 2020 ist er auch ehrenamtlich beim Verein „ XXXX “ im Rahmen eines Sozialmarkts tätig.
Der BF3 und der BF4 besuchten beziehungsweise besuchen öffentliche Bildungseinrichtungen. Der BF3 wollte sich in einem Fußballverein anmelden, was jedoch an den Einschränkungen aufgrund der Pandemie scheiterte. Der BF4 wollte einen Boxverein besuchen, was jedoch aus finanziellen Gründen scheiterte. Innerhalb der Familie wird auf Dari kommuniziert, was dazu beitrug, dass der BF4 im Schuljahr 2019/20 in Deutsch nicht beurteilt werden konnte.
Die BF beziehen Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung.
Sie sind strafrechtlich unbescholten.
II.4. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:
Der BF1 stammt aus einer wohlhabenden Familie mit mehreren Grundstücken und Häusern in Parwan. Der ältere Bruder des BF1 lebte in Kabul in einem großen Haus. Dort lebte auch der BF1 während seiner Aufenthalte in Kabul. Für das Haus in Kabul zahlte der Bruder des BF1 einen gewissen Pfandbetrag, den er normalerweise bei Rückgabe des Hauses wieder zurückbekommen hätte. Die Familie hat Kabul jedoch verlassen, bevor der Eigentümer diesen Betrag bereitstellen konnte. Bis zum Entscheidungszeitpunkt hat der Bruder des BF1 trotz Rückgabe des Hauses den Betrag noch nicht zurückerhalten.
Derzeit leben die Eltern und die Geschwister des BF1 im Iran. Der BF1 hat Kontakt zu ihnen. Den Verwandten im Iran geht es gut. Seine Brüder arbeiten als Tagelöhner.
Die Grundstücke und die Häuser der Familie des BF1 in ihrem Heimatdorf stehen nach wie vor in ihrem Eigentum. Insbesondere mussten sie nicht verkauft werden, um die Schlepperkosten aufbringen zu können. Die Grundstücke liegen derzeit brach.
Die Eltern der BF2 leben in Schweden, wo ihnen der Status als Asylberechtigte zuerkannt wurde. Die Eltern der BF2 haben für ihre Ausreise das Haus in Kabul verkauft. Der Vater der BF2 lernt derzeit Schwedisch. Die BF2 hat ständigen Kontakt zu ihren Eltern, gelegentlich besteht Besuchskontakt. Die beiden Schwestern der BF2 leben im Iran und sind verheiratet. Ihre Ehemänner arbeiten als Tagelöhner. Eine ihrer Schwestern lebt im Iran im gemeinsamen Haushalt mit ihrer Tante, die gleichzeitig ihre Schwiegermutter ist. Diese Schwester ist mit dem Bruder des BF1 verheiratet.
Weitere Verwandte sind bei einem Angriff der Taliban auf das Heimatdorf vor mehr als zwanzig Jahren getötet worden. Angehörige dieser Familien leben nach wie vor im Heimatdorf. Die BF können den Kontakt zu diesen herstellen.
Den BF wäre es möglich, ihre Grundstücke und Häuser in Parwan zu verkaufen beziehungsweise zu verpachten. Dies könnten sie auch bereits aus Österreich – gegebenenfalls mit Hilfe der Familienangehörigen in Parwan – in die Wege leiten. Ebenso wäre es dem Bruder des BF1 möglich, den Betrag für das Haus in Kabul zurückzufordern und dem BF1 und dessen Familie bei der Rückkehr zukommen zu lassen oder das Wohnrecht am Haus für diese einzufordern. Auch dies zu organisieren, wäre den BF beziehungsweise ihren Familienangehörigen vom Ausland aus möglich. Die BF könnten bei einer Rückkehr von ihrer Familie zumindest geringfügig finanziell unterstützt werden.
Das Heimatdorf der BF liegt im unsichersten Distrikt der Heimatprovinz. Dort sind die Taliban besonders präsent und es wurde die höchste Zahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen registriert. Eine sichere Reise an ihren Herkunftsort ist für eine Familie mit minderjährigen, unmündigen Kindern derzeit nicht möglich.
Einer Rückkehr nach Kabul Stadt, Herat Stadt oder Mazar-e Sharif oder ähnliche, weniger volatile Gebiete Afghanistans steht die Sicherheitslage nicht entgegen. Allerdings verfügen die BF dort weder über familiären Anschluss noch über eine sofortige oder kurzfristig beschaffbare Wohnmöglichkeit. Es ist den BF als vulnerable Familie mit drei unmündigen minderjährigen Kindern, darunter einem Kleinkind, derzeit aufgrund der Auswirkungen der Pandemie nicht möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Die BF liefen daher derzeit Gefahr, grundlegende Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für die Familie nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten.
II.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB);
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR);
- UNHCR: Afghanistan, Compilation of Country of Origin Information (COI) Relevant for Assessing the Availability of an Internal Flight, Relocation or Protection Alternative (IFA/IRA/IPA) to Kabul, December 2019;
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019);
- EASO Country Guidance Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO 2020);
- EASO Bericht Afghanistan Networks (EASO Netzwerke);
- EASO: Afghanistan - Key-socio-economic indicators. Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (August 2020) (EASO Indikatoren);
- EASO: Afghanistan - Security Situation (September 2020) (EASO Security);
- EASO: Afghanistan - State Structure and Security Forces (August 2020) (EASO State);
- EASO: Afghanistan - Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs) (August 2020) (EASO AGEs);
- ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif);
- ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat) und
- Ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Sharif (ecoi).
II.5.1. Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktszentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten (LIB, Kapitel 5). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B). Zwischen 01.03.2019 und 30.06.2020 wurden 15.287 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, wovon 573 Vorfälle sich gegen Zivilisten richteten (EASO Security, 1.3.). Während des ersten Viertels 2020 blieb der Konflikt in Afghanistan einer der tödlichsten der Welt für Zivilisten. Zwischen 01.01.2020 und 30.06.2020 dokumentierte UNAMA 3.458 zivile Vorfälle, inkludierend 1.282 Tote und 2.176 Verletzten. Das stellt einen Rückgang von 13% zur Vorjahresperiode dar. Dieser allgemeine Rückgang ist auf einen Rückgang von Luftschlägen und einer Reduzierung der IS Aktivitäten zurückzuführen (EASO Security, 1.4.1.). Zwischen 01.01.2020 und 30.09.2020 wurden von UNAMA 5.939 zivile Opfer gezählt, das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang um 13% und den niedrigsten Wert seit 2012 (LIB, Kapitel 5).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 7).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus. High-Profile Angriffe (HPAs) ereigneten sich insbesondere in der Hauptstadtregion (LIB, Kapitel 5). Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant (LIB, Kapitel 5).
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 4).
Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet, wobei die afghanische Regierung daran weder beteiligt war noch von ihr unterzeichnet wurde. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen ist von der Einhaltung der Taliban an ihren Teil der Abmachung abhängig. Die Taliban haben im Abkommen unter anderem zugesichert, terroristischen Gruppierungen keine Zuflucht zu gewähren und innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (LIB, Kapitel 4).
Die Taliban haben jedoch die politische Krise aufgrund der Präsidentschaftswahl als Vorwand genutzt, den Einstieg in die Verhandlungen hinauszuzögern. Außerdem werfen sie der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung nicht einzuhalten und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4). Diese Angriffe der Taliban richten sich gegen die ANDSF und nicht gegen internationale Kräfte (EASO Security, 1.3.). Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gewalt hat allerdings trotzdem nicht nachgelassen (LIB, Kapitel 4).
II.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant (LIB, Kapitel 22).
Einer Prognose der Weltbank vom Juli 2020 zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Afghanistans im Jahr 2020 als Folge der COVID-19-Maßnahmen zwischen 5,5 und 7,4 % schrumpfen, was die Armut verschlimmern und zu einem starken Rückgang der Staatseinnahmen führen werde. Schon 2019 ist das absolute BIP trotz Bevölkerungswachstums das zweite Jahr in Folge gesunken. Seit 2013 ist auch das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf stark zurückgegangen, von rund 660 auf 540 US-Dollar im Jahr 2019 (EASO Indikatoren, Kapitel 2.1.1.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (LIB, Kapitel 22).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor, der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tägliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).
Die Lage am afghanischen Arbeitsmarkt, der vom Agrarsektor dominiert wird, bleibt angespannt und die Arbeitslosigkeit hoch. Es treten viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, der nicht in der Lage ist, ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, allerdings beratende Unterstützung, die auch Rückkehrende in Anspruch nehmen können (LIB, Kapitel 20).
Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020 Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5). In den ländlichen Gebieten leben bis zu 60% der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze, in den urbanen Gebieten rund 41,6% (LIB, Kapitel 22).
Afghanistan ist weit von einem Wohlfahrtsstaat entfernt. Afghanen rechnen auch nicht mit staatlicher Unterstützung. Die fehlende staatliche Unterstützung wird von verschiedenen Netzwerken ersetzt und kompensiert (LIB, Kapitel 22).
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungssicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. Im ersten Halbjahr 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt (LIB, Kapitel 3).
Ebenfalls infolge der COVID-19-Maßnahmen, insbesondere aufgrund von Grenzschließungen und Exporteinschränkungen, kam es ab März 2020 zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittelpreise. So ist etwa der Preis für Weizenmehl in ganz Afghanistan gestiegen. Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) geht davon aus, dass viele Haushalte aufgrund reduzierter Kaufkraft nicht in der Lage sein werden, ihren Ernährungs- und essentiellen Nicht-Ernährungs-Bedürfnissen nachzukommen. UNOCHA zufolge hat sich der Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren in den meisten Teilen Afghanistans verschlechtert, wobei in 25 der 34 Provinzen Notfalllevels an akuter Unterernährung erreicht würden (EASO Indikatoren, Kapitel 2.4.1.).
Zur Beeinflussung des Arbeitsmarkts durch COVID-19 gibt es keine offiziellen Regierungsstatistiken, es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat. Die afghanische Regierung warnt vor einer Steigerung der Arbeitslosigkeit um 40%. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen habe in einer Befragung bis Juli 2020 84% angegeben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Fall einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten, bei einer vierwöchigen Quarantäne steigt diese Zahl auf 98%. Insgesamt ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war. 2019 waren 10,2 Millionen von Lebensmittelunsicherheit betroffen, während 11,3 Millionen humanitäre Hilfe benötigen (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
Der Finanzsektor in Afghanistan entwickelt sich und es gibt mittlerweile mehrere Banken. Auch ist es relativ einfach, ein Bankkonto zu eröffnen. Außerdem kann über das sogenannte Hawala-System Geld einfach und kostengünstig weltweit transferiert werden (LIB, Kapitel 22).
II.5.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es 2018 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei rund 87 % der Bevölkerung eine solche innerhalb von zwei Stunden erreichen könnten. Laut WHO gab es 2018 134 Krankenhäuser, 26 davon in Kabul (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.1.; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Staatsbürger zur Verfügung zu stellen. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Voraussetzung dafür ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis oder Tazkira. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet jedoch kaum bis gar nicht statt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist allerdings sichergestellt, weniger dagegen auf der Ebene von Distrikten und Dörfern. Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Das ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (LIB, Kapitel 23).
Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos (LIB, Kapitel 23).
Berichten von UN OCHA zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Berichten zufolge können Patienten in manchen öffentlichen Krankenhäusern aufgefordert werden, für Medikamente, ärztliche Leistungen, Laboruntersuchungen und stationäre Behandlungen zu bezahlen. Medikamente sind auf jedem afghanischen Markt erwerbbar, die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren (LIB, Kapitel 23).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 23). Die Einwohner Kabuls, auch die Frauen, profitieren von einem einfacheren Zugang zu medizinischen Einrichtungen als in anderen Städten (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.2.).
Gemäß afghanischer Gesellschaftsnormen sollten Frauen von Ärztinnen untersucht werden. Es kommt somit zu Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung von Frauen, wenn keine Ärztinnen verfügbar sind. Manche Frauen konsultieren in den Dörfern oder Distrikten allerdings unter Umständen auch Ärzte. Einschränkungen bei der Bewegungsfreiheit wirken sich auch auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung aus: In Gebieten unter Talibankontrolle ist es für Frauen unter Umständen nicht möglich, zum Arzt zu gelangen (LIB, Kapitel 23).
In einem Fact-Finding-Mission-Report legte FIS dar, dass Gesundheitseinrichtungen häufig Probleme mit der Beschaffung von Medikamenten haben. Ebenso war die Qualität der Medizin ein Thema. Es waren jedoch Medikamente sowohl von guter als auch von schlechter Qualität vorhanden. Die, die es sich leisten können, können Medikamente guter Qualität kaufen, während die die dazu nicht in der Lage sind, auf Medikamente von schlechter Qualität beschränkt sind. Der Zugang zu qualitativ hochwertigen Medikamenten kann nicht immer garantiert werden. Laut einem Fact-Sheet des BAMF, IOM und ZIRF-Counselling aus dem Jahr 2017 ist jede Art von Medikamenten auf dem afghanischen Markt erhältlich. Die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Herstellern. Die Verfügbarkeit von Medikamenten und medizinischen Geräten ist aufgrund von Unsicherheit, Unzulänglichkeit von Straßen und Unterbrechung von Elektrizität oder temperaturabhängigen Lieferketten begrenzt. Oft gibt es keine lebensrettenden Arzneimittel, auch in überweisenden Krankenhäusern. Erforderliche Medikamente werden manchmal nicht rechtzeitig an Krankenhäuser geliefert, was eine vorübergehende Medikamentenknappheit schafft. In solchen Fällen werden Medikamente nur in Notfällen eingesetzt. Die übrigen Patienten müssen sie in privaten Apotheken kaufen (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.2.):
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sowie auch spezialisierte Kliniken sind grundsätzlich verfügbar. Außerdem werden sie als in der afghanischen Gesellschaft als schutzbedürftig betrachtet und werden als Teil der Familie gepflegt (LIB, Kapitel 23.1).
II.5.3.1. COVID-19
Der erste offizielle Fall in Afghanistan wurde Ende Februar 2020 festgestellt. Nach einer Umfrage des afghanischen Gesundheitsministeriums hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (LIB, Kapitel 3).
Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Bevölkerung unabhängig von etwaigen Ausgangsbeschränkungen dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).
Durch die COVID-19-Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. 53% der Bevölkerung haben nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten (LIB, Kapitel 3).
II.5.4. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 18).
Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul getrieben. Wichtige Merkmale der Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, sie sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten. Die Lage der Hazara, die während der Taliban –Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt und teils sozial diskriminiert. Sie neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansicht dazu, liberal zu sein. Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (LIB, Kapitel 18.3.).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 18.3.).
Hazara waren im Jahr 2019 Angriffsziel des ISKP. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB, Kapitel 18.3.).
II.5.5. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 17).
Schiiten
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen, dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungfällen (LIB, Kapitel 17.1).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 17.1).
II.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 12).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
II.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 20).
Nach Schließung einiger Grenzübergänge aufgrund der COVID-19 Pandemie sind nunmehr alle Grenzübergänge wieder geöffnet. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen. Auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt. Ebenso verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führ zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 3).
Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. In Kabul ist die Fluktuation aufgrund verschiedener Faktoren größer, was oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht, dass man seine Nachbarn nicht mehr kenne (LIB, Kapitel 20).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 20.1).
II.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 5).
Taliban:
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und –pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt. Sie bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (LIB, Kapitel 5).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 5).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug geschätzt etwa 40.000-85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf 100.000 ansteigt. (LIB, Kapitel 5).
Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami bekannt ist. Diese Gruppe ist gegen den US-Taliban Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (LIB, Kapitel 5).
Laut dem unabhängigen Afghanistan-Experten Borhan Osman rekrutieren die Taliban in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos, in Madrasas und ethnisch paschtunisch ausgebildet sind.138 Die Rekrutierung erfolgt normalerweise über die Militärkommission der Gruppe und den Einsatz in Moscheen sowie über persönliche Netzwerke und Familien von Kämpfern, von denen viele motiviert sind, "die westlichen Institutionen und Werte, die die afghanische Regierung ihren Verbündeten abgenommen hat, zutiefst zu verabscheuen". Anstatt Gehälter zu zahlen, übernehmen die Taliban die Kosten (EASO AGEs, 2.4.). Die Taliban Kämpfer werden von einem Bericht in zwei Kategorien eingeteilt. Einerseits professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (LIB, Kapitel 5).
Haqani-Netzwerk:
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida und verfügt über Kontakte zu IS. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 5).
Islamischer Staat (IS/Daesh) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):
Der IS bezeichnet sich in Afghanistan selbst als Khorosan Zweig des IS. Eine Verbindung mit dem IS im Irak und in Syrien ist aber nicht erwiesen Die Stärke des ISKP variiert zwischen 2.500 und 4.000, bzw. 4.500 und 5.000 Kämpfern (LIB, Kapitel 5).
Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. In letzter Zeit geriet der ISKP unter großem Druck und verlor auch seine Hochburg in Ostafghanistan. Er soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKO hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfern reduziert (LIB, Kapitel 5).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Verlust des Territoriums ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel 5).
Der ISKP ist mit den Taliban verfeindet und betrachtet diese als Abtrünnige. Während die Taliban ihre Angriffe auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB, Kapitel 5).
Al-Qaida:
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB, Kapitel 5).
II.5.9 Provinzen und Städte
II.5.9.1. Herkunftsprovinz Parwan
Parwan liegt im zentralen Teil Afghanistans. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Qizilbash, Kuchi und Hazara. Die Provinz hat geschätzte 737.700 Einwohner (LIB, Kapitel 5.28).
Die Provinz Parwan zählte zu den relativ friedlichen Provinzen Afghanistans, in letzter Zeit verschlechterte sich die Sicherheitslage und sie wurde 2020 als „nicht stabil“ bezeichnet. Aufständische, insbesondere Taliban, sind in mehreren Distrikten unter anderem in Bagram präsent. Die dort befindliche Luftwaffenbasis der NATO hat negative Auswirkungen auf die Sicherheitslage im Distrikt. Die Basis wird vom Islamischen Staat und den Taliban angegriffen. Im Jahr 2019 wurden von UNAMA 246 zivile Opfer (65 Tote und 181 Verletzte) in der Provinz Parwan gezählt, was einer Steigerung von 500% entspricht. Hauptursachen für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von Kämpfen am Boden und Suchoperationen. Es kommt zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und afghanischen Streitkräften. Die Aufständischen gr