TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/19 W175 2212512-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.03.2021
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Entscheidungsdatum

19.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W175 2212512-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Neumann über die Beschwerde der minderjährigen XXXX , afghanische Staatsangehörige, gesetzlich vertreten durch ihre Mutter XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.12.2018, Zahl: 1105465308-160236977, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Die minderjährige Beschwerdeführerin (BF) stellte gemeinsam mit ihren Eltern, ihrer jüngeren Schwester sowie mit zwei zu diesem Zeitpunkt minderjährigen Brüdern des Vaters am 15.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Für den in weiterer Folge in Österreich geborenen Bruder der BF wurde am 19.05.2017 ein Antrag auf Gewährung desselben Schutzes gestellt.

2. Bei der Erstbefragung am 15.02.2016 gaben die Eltern der BF übereinstimmend an, dass sie verheiratet seien, Schiiten und der Volksgruppe der Hazara zugehörig. Die Familie hätte sich zuletzt drei Jahre lang im Iran aufgehalten und sei über die Türkei und weitere Länder nach Österreich gelangt. Identitätsdokumente oder sonstige Urkunden könne die Familie nicht vorlegen.

Zum Fluchtgrund brachte der Vater der BF im Wesentlichen vor, er sei in Afghanistan Automechaniker gewesen und habe in einem zu reparierenden Fahrzeug eine fremde Waffe gefunden, die bei einer Kontrolle sichergestellt worden sei. In Folge sei er von einer Gruppe Männern aufgesucht und bedroht worden, da er verdächtigt worden sei, der Polizei einen Hinweis gegeben zu haben. Darauf habe er mit der Familie das Land verlassen und sei in den Iran gereist, wo er drei Jahre lang illegal gelebt habe. Seine Kinder hätten nicht die Schule besuchen dürfen und er habe Angst gehabt, wieder abgeschoben zu werde. Die Mutter der BF gab an, man habe in Afghanistan in einem zu reparierenden Fahrzeug eine Bombe und eine Waffe gefunden habe. Der Vater der BF sei von Personen bedroht worden, die ihn beschuldigt hätten, die Polizei informiert zu haben.

3. Am 03.07.2018 wurden die Eltern der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen.

Dabei gab der Vater der BF an, aus Afghanistan zu stammen, er sei im zweiten Lebensjahr mit den Eltern in den Iran gezogen, wo er etwa 25 Jahre gelebt habe. Er habe dann mit der nun in Österreich anwesenden Familie knapp vier Jahre in Afghanistan gelebt, zwei Jahre davon in der Stadt Herat, dann mehr als ein Jahr in Helmand und dann erneut in Herat. Danach seien sie für zwei Jahre in den Iran und anschließend nach Europa gegangen. Im Iran habe er Lesen und Schreiben gelernt und dem Vater seit seiner Kindheit in der Werkstatt geholfen. Er selbst habe in Afghanistan als Autospengler gearbeitet. Nach der Rückkehr nach Afghanistan habe die Familie in Herat ein Grundstück gekauft und ein Haus gebaut, das sein Vater später verkaufen habe lassen. In Helmand habe die Familie ein Haus gemietet.

Er habe keine näheren Verwandten in Afghanistan, zu seiner Familie im Iran habe er Kontakt über Internet.

Die Eltern der BF hätten im Iran standesamtlich und traditionell geheiratet.

Zu den Fluchtgründen befragt brachte er vor, dass er nach dem Umzug aus dem Iran nach Afghanistan in Herat ein Grundstück gekauft und ein Haus zu bauen begonnen sowie eine Autospenglerei eröffnet habe. Die Familie sei dann einer Empfehlung einer Tante der Mutter der BF gefolgt und zu deren Familie nach Helmand zu gezogen. Nach einigen Monaten in Helmand sei er eines Tages von der Arbeit heimgekommen und habe die BF im Hof gesehen, die rote Spuren auf der Wange gehabt habe. Die BF habe ihm erzählt, sie sei vom Cousin der Mutter geschlagen worden, was von der Mutter der BF bestätigt worden sei. Der Vater habe den Cousin aufgesucht und zur Rede gestellt, dieser habe ihm vorgeworfen, dass die BF auf der Straße keine islamische Kleidung, insbesondere kein Kopftuch getragen habe. Weiters habe der Cousin gemeint, dass die damals fünf oder sechs Jahre alte BF im Alter von neun Jahren verheiratet werden müsse. Der Vater habe nach einem Streit das Haus des Cousins verlassen. Am gleichen Tag sei der Cousin abends zur Familie der BF gekommen, wo es unter Beteiligung des ebenfalls anwesenden Bruders des Cousins zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung gekommen sei. Der Cousin, der mit den Taliban zusammenarbeite, habe den Vater mit einer Schusswaffe bedroht. Die schwangere Mutter der BF sei im Zuge der Auseinandersetzung niedergestoßen worden und habe im Spital das Kind verloren. Der Vater habe den Cousin mit einem Messer am Bein verletzt. Die Großeltern der BF hätten beide Cousins durch Schreien aus dem Haus gejagt.

Am nächsten Tag habe der Vater der BF dem Vater des Cousins die Waffe zurückgebracht. In einer Moschee des Viertels sei es über Betreiben des Vaters des Cousins zu einer Versöhnung gekommen. Ab diesem Tag sei die Familie der BF aufgrund des Streites mit dem Cousin ständig von Menschen auf Motorrädern belästigt worden. Nachdem der Mullah erneut mit dem Cousin gesprochen habe, habe dieser verlangt, dass der Vater der BF zur Beendigung des Streits die BF dem Sohn des Cousins verspräche. Der Cousin habe ihm überdies das Grundstück in Herat weggenommen.

Die Familie sei daraufhin wieder nach Herat gezogen, wo sie nach kurzer Zeit erneut von den Leuten des Cousins aus Helmand belästigt worden seien. Im Falle einer Rückkehr habe der Vater der BF Angst vor den Taliban, weil der genannte Cousin ein Talib sei.

Der Vater der BF bezeichnete sein Vorbringen auf Nachfrage als vollständig und tätigte keinerlei Angaben über die in der Erstbefragung behauptete Bedrohung wegen des angeblichen Waffenfundes in der Spenglerei.

Die Mutter der BF gab bei der Einvernahme am selben Tag zunächst an, dass sie nicht wolle, dass ihre Kinder einvernommen würden.

Sie sei eine im Iran geborene Angehörige der tadschikischen Volksgruppe und schiitische Muslima. Zum Alltagsleben in Afghanistan gab sie an, dass sie gut mit der Familie ihres Mannes gelebt habe. Sie sei Hausfrau gewesen, habe keinen Beruf ausgeübt und habe die Arbeit mit Ihrer Schwiegermutter geteilt. In Helmand habe sie so gelebt wie in Herat, habe dort aber eine Burka zum Ausgehen tragen müssen, während in Herat ein Tschador ausgereicht habe. Die Familie der Mutter lebe im Iran, ein weiterer Bruder seit acht Jahren in Österreich und ein Bruder in Deutschland.

Zu den Fluchtgründen brachte sie im Wesentlichen ergänzend vor, dass die BF mit einem roten Gesicht weinend nach Hause gekommen sei. Der Cousin habe die BF geschlagen und gemeint, dass sie eine Burka tragen müsse. Die BF sei damals erst fünf oder sechs Jahre alt gewesen. Die Mutter habe sich nicht darum gekümmert, bis ihr Mann gekommen sei und die BF so gesehen habe. Sie habe dem Vater der BF erzählt, was diese ihr gesagt habe. Die Mutter wisse nur, dass danach ein Streit entstanden sei. Sie habe gesehen, dass der Cousin ihrem Mann eine Pistole an den Kopf gehalten habe und sei dazwischengetreten. Der Cousin habe sie zurückgestoßen, sie sei gestürzt. Im gleichen Moment habe ihr Mann ihm die Waffe zu entreißen versucht und ihn mit einem Messer am Bein verletzt. Es sei laut geworden, die Nachbarn seien dazugekommen und hätten den Cousin weggebracht.

Danach habe der Cousin gemeint, sie sei nicht in der Lage, die BF zu einer Muslima zu erziehen und sie solle diese zu ihm geben. Er habe gewollt, dass die BF seinen Sohn heirate. Nach der Rückkehr von Helmand nach Herat habe sich die Familie nur einen Monat dort aufgehalten, dann seien sie aus Afghanistan ausgereist. Die Kinder hätten die gleichen Fluchtgründe.

4. Mit dem angefochtene Bescheid des BFA wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

Die Eltern und die drei Geschwister der BF sowie die Brüder des Vaters wurden gleichlautend beschieden.

Die Behörde stellte die Staatsangehörigkeit, Religion und Volksgruppenzugehörigkeit, nicht jedoch die genaue Identität der BF und ihrer Familie fest. Die Verfolgungsbehauptungen der BF und ihrer Familie wurden als nicht glaubhaft beurteilt. Die Behörde gründete ihre Beweiswürdigung primär auf den Umstand, dass die Eltern der BF die Bedrohungslage bei der Erstbefragung gänzlich anders dargestellt hätten, als bei den Einvernahmen durch die Behörde, wobei sie auch im Zuge dieser Einvernahmen auf Nachfrage in keiner Weise die in der Erstbefragung behauptete Bedrohungssituation angesprochen hätten. Es sei der BF und ihrer Familie möglich und zumutbar, sich bei einer Rückkehr in der sicher erreichbaren Stadt Mazar-e Sharif sowie in den sicheren Provinzen Bamyan oder Panjhsir niederzulassen.

5. In der mit Schriftsatz der Rechtsvertreter der BF und ihrer Familie vom 02.01.2019 dagegen erhobenen Beschwerde wurde zunächst aktenwidrig vorgebracht, dass die Eltern der BF vor dem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu den Fluchtgründen befragt angegeben hätten, dass die Familie vom Cousin der Mutter der BF wegen ihrer Lebensweise belästigt worden sei. Im Schriftsatz wurde in weiterer Folge vorgebracht, dass der Vater der BF eine asylrelevante Verfolgung von Seiten der Taliban glaubhaft geschildert habe. Zum tatsächlichen Ablauf der Erstbefragung wurde ausgeführt, dass der Vater dabei aufgefordert worden sei, sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen, sondern diese nur kurz auszuführen. Wegen der beschränkten Dauer der Ersteinvernahmen und der Nachwirkung der traumatisierenden Ereignisse hätten die Eltern die Fluchtgründe nicht im Detail vorbringen können. Dies könne aber keinesfalls als Widerspruch zum weiteren Vorbringen gewertet werden. Im Schriftsatz wurden weiters Zitate aus Länderberichten zur Sicherheitslage wiedergegeben und vorgebracht, dass die BF im Sinne ihrer Verfolgungsbehauptungen im Herkunftsstaat bedroht seien, ihnen dort keine innerstaatliche Fluchtalternative zukomme und sie für ihre Aufenthaltsdauer als sehr gut integriert anzusehen seien.

Gegen die genannten Bescheide wurde weiters mit Schriftsatz einer Rechtsberatungsorganisation vom 09.01.2019 Beschwerde eingebracht und darin die von den Eltern der BF im Zuge der Einvernahmen vor dem BFA getätigten Verfolgungsbehauptungen wiederholt. Für die zuvor erfolgten abweichenden Angaben im Rahmen der Erstbefragung wurde als Erklärung angeboten, dass der Vater der BF nicht gewusst habe, dass er bei seiner Einvernahme wieder seine gesamte Geschichte von Anfang an hätte erzählen sollen, sondern habe gedacht, dass er nun die Möglichkeit habe, bei den Schilderungen aus der Erstbefragung anzuknüpfen. Der Vorfall mit der Waffe im zu reparierenden Auto habe sich ereignet, als die Familie nach Helmand gezogen sei. Der Cousin der Mutter der BF habe aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Taliban die Probleme bereinigen können und die Familie sei fortan von den Taliban in Ruhe gelassen worden. Das Vorbringen sei daher als glaubhaft anzusehen. Zudem hätte die Behörde zum Schluss kommen müssen, dass die Familie aufgrund der prekären Sicherheitslage im gesamten Staatsgebiet jedenfalls in eine bedrohliche Lage geraten würden. Die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative sei der Familie nicht zumutbar. Ohne fallbezogene Begründung wurde vorgebracht, dass die Rückkehrkehrentscheidung für dauerhaft unzulässig erklärt werden hätte müssen.

6. In den Beschwerdeverfahren der Eltern der BF wurden Fristsetzungsanträge gestellt und entsprechende verfahrensleitende Anordnungen des Verwaltungsgerichtshofs vom 18.12.2020 und vom 21.12.2020 erlassen, die am 23.12.2020 und am 07.01.2021 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) einlangten.

Die Zuständigkeit der Gerichtabteilung für die vorliegende Rechtssache wurde durch die Entscheidung des Präsidenten des BVwG vom 19.02.2021 über eine Unzuständigkeitsanzeige bestätigt, die Verfahren der Eltern, Geschwister und der beiden Onkel der BF wurden der Gerichtsabteilung W192 zugewiesen.

7. Das BVwG führte durch ebendiese Gerichtsabteilung am 11.03.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Eltern der BF und deren Rechtsvertreter teilnahmen. Dabei wurden die Verfolgungsbehauptungen und die Lebensverhältnisse der BF und ihrer Familie erörtert und den Eltern Gelegenheit eingeräumt, sich zu Feststellungen über die Lage im Herkunftsstaat zu äußern.

8. Mit Erkenntnissen des BVwG vom 19.03.2021, Zahlen: W192 2212507-1/32E, W192 2212508-1/26E, W192 2212505-1/21E, W192 2212516-1/13E, W192 2212513-1/13E und W192 2212509-1/13E, wurden die Beschwerden der Eltern und Geschwister der BF, sowie ihrer beiden Onkel gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 55, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und §§ 52, 55 FPG mit Erkenntnis vom 19.03.2021 als unbegründet abgewiesen.

Begründend führte das BVwG aus, dass die Eltern und Geschwister der BF keine asylrelevante Verfolgung hätten glaubhaft machen können. Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde festgestellt, dass der Familie die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif zumutbar sei. Ein familiäres Netzwerk unmittelbar in der Stadt Mazar-e Sharif existiere nicht, jedoch könne der Vater der BF wie bisher in ausreichendem Maß für die Familie sorgen und die Angehörigen der Eltern der BF die Familie bei deren Rückkehr in gewissem Ausmaß finanziell unterstützen.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person der BF:

Die BF ist afghanische Staatsangehörige, minderjährig, Schiitin und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Ihre Muttersprache ist Dari.

Die Eltern der BF sind verheiratet, die BF hat zwei jüngere Geschwister.

Die BF wurde im Iran geboren und zog mit ihrer Familie im Jahr 2010 für etwa vier Jahre nach Afghanistan, danach verbrachten sie ein weiteres Jahr im Iran, bis die Familie nach Europa reiste. Sie besuchte in Herat eine Vorschule.

Der Vater der BF besuchte im Iran eine Erwachsenenschule und arbeitete in Afghanistan als Autospengler und Taxilenker. Die Mutter war Hausfrau. Die finanzielle Lage war aufgrund der Tätigkeit des Vaters der BF gut.

Die BF stellte durch ihre gesetzlichen Vertreter am 15.02.2016 nach illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Die BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie ist in einem afghanisch geprägten Umfeld in einer afghanischen Familie aufgewachsen.

1.2.    Zu den Fluchtgründen der BF:

Mit dem angefochtene Bescheid des BFA wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

Mit Erkenntnissen des BVwG vom 19.03.2021, Zahlen: W192 2212507-1/32E, W192 2212508-1/26E, W192 2212505-1/21E, W192 2212516-1/13E, W192 2212513-1/13E und W192 2212509-1/13E, wurden die Beschwerden der Eltern und Geschwister der BF, sowie ihrer beiden Onkel gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 55, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und §§ 52, 55 FPG als unbegründet rechtswirksam abgewiesen:

Die von den Eltern der BF bei der Erstbefragung am 15.02.2016 jeweils behauptete Verfolgung der Familie durch regierungsfeindliche Kräfte nach dem Fund einer Waffe oder einer Bombe in der Werkstatt des Vaters der BF wurde als nicht glaubhaft erachtet.

Die vom den Eltern der BF sowie von ihrem Onkel bei der Einvernahme am 03.07.2018 jeweils behauptete Verfolgung der Familie durch einen Cousin der Mutter der BF wurde als nicht glaubhaft erachtet.

Die Familie der BF hätte im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgung durch den Staat zu befürchten. Sie hätten sich im Herkunftsstaat nicht politisch betätigt, wären nicht Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung und hätten keine Probleme mit den Behörden im Herkunftsstaat.

Die Mutter sowie die Schwester der BF wären im Herkunftsstaat alleine aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Es handle sich bei der Mutter der BF nicht um eine derart auf Eigen- und Selbstständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die Ausübung ihrer hier in Österreich gelebten Lebensweise sei auch in den Großstädten Afghanistans möglich.

Den Geschwistern der BF würde alleine aufgrund ihres Alters beziehungsweise vor dem Hintergrund der Situation von Kindern in Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit physische und/oder psychische Gewalt mit asylrelevanter Intensität drohen.

Im gegenständlichen Verfahren wird festgestellt, dass der BF alleine aufgrund ihres Alters beziehungsweise vor dem Hintergrund der Situation von Kindern in Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit physische und/oder psychische Gewalt mit asylrelevanter Intensität droht. Sie ist im Herkunftsstaat alleine aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Sie ist in Afghanistan wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen ihrer Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.

Für die BF wurde kein gesondertes asylrelevantes Vorbringen erstattet und ergibt sich ein solches auch nicht aus den Akteninhalten.

1.3.    Zum (Privat)Leben der BF in Österreich und zu ihrer Rückkehr nach Afghanistan:

Die BF lebt in Österreich im Familienverband gemeinsam mit den mit ihr eingereisten Eltern, Geschwistern und Onkeln, die aufgrund ihres Alters nach wie vor ihre engsten Bezugspersonen darstellen. Sie leidet an keinen Krankheiten oder gesundheitlichen Einschränkungen. Die BF besucht in Österreich eine Pflichtschule. Besonders intensive soziale Bindungen außerhalb der Familie bestehen nicht.

Wie mit den Erkenntnissen vom 19.03.2021 zu ihren Familienmitgliedern rechtswirksam festgestellt wurde, ist es dem Vater der BF möglich und zumutbar, sich nach einer Rückkehr in Herat oder auch in Mazar-e Sharif niederzulassen. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) vertraut. Er ist in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen und verfügt über berufliche Erfahrungen als Autospengler und Taxilenker. Er verfügt zwar derzeit über keine familiären Anknüpfungspunkte, angesichts seines guten Gesundheitszustandes, seiner Arbeitsfähigkeit und seiner Berufserfahrung kann er sich dennoch neuerlich in Herat oder in Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern, wobei er seine Berufserfahrung als Taxilenker oder Auto-Spengler nutzen kann. Der Vater der BF konnte auch nach der 2010 erfolgten Rückkehr seiner Familie nach Afghanistan durch seine beruflichen Tätigkeiten für sich und seine Familie sorgen. Damals war es ihm möglich, zunächst eine wirtschaftliche Basis und eine eigene Unterkunft für seine Familie zunächst in Herat und dann auch in Helmand zu sichern, wobei er unternehmerisch erfolgreich agierte. Ihm ist daher neuerlich der Aufbau einer Existenzgrundlage für die Familie und somit auch für die BF in Afghanistan möglich. Der Vater ist in der Lage, eine einfache Unterkunft für sich und die Familie zu finden. Er hat zudem die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Im Ergebnis ist aufgrund der Arbeitsfähigkeit und der bisherigen Berufserfahrung von einer Selbst- und Familienerhaltungsfähigkeit des Vaters der BF auszugehen.

Der Mutter der BF ist es alleine nicht möglich und zumutbar, sich in Herat oder in Mazar-e Sharif niederzulassen. Sie verfügt über keine Berufsausbildung und ist noch nie selbst für ihren Unterhalt aufgekommen. Da jedoch der Ehemann für ihren Unterhalt sorgen kann und dies auch in der Vergangenheit seit der Eheschließung getan hat, ist der Mutter eine Rückkehr im Familienverband sehr wohl möglich und zumutbar.

Beim älteren Onkel der BF handelt es sich um einen gesunden jungen Mann mit Schulbildung, ihm ist eine Teilnahme am Erwerbsleben zumutbar. Es ist dem Onkel der BF möglich, für seinen Lebensunterhalt in Afghanistan aufzukommen, zumal er auch schon vor seiner Ausreise mit dem Vater der BF als Autospengler gearbeitet hat. Bei einem vorerst weiteren Verbleib im Familienverband nach der Rückkehr kann der Onkel im Zusammenwirken mit dem Vater der BF ohne Schwierigkeiten zu seinem und zum Familieneinkommen beitragen.

Bei der BF sowie bei ihren Geschwistern handelt es sich um unmündige Minderjährige, die im Familienverband leben und weder über eigenes Vermögen noch über eine eigene Möglichkeit der Existenzsicherung verfügen. Da jedoch der Vater der BF bisher schon in ausreichendem Maß für das Familieneinkommen aufgekommen ist und kein Grund zur Annahme besteht, dass dies nun nicht mehr der Fall sein könnte, sind die Kinder, darunter auch die BF, keinem realen Risiko ausgesetzt, in eine existenzbedrohende Lage zu geraten.

Die BF würde im Familienverband nach Afghanistan zurückkehren und wie ihre Geschwister von ihren Eltern versorgt werden. Für die Familie besteht daneben die Möglichkeit, staatliche Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung der BF nach Afghanistan stellt daher keine reale Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung beziehungsweise einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention dar, oder würde für die BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Mit Stand 19.03.2021 scheinen in Afghanistan 56.044 Fälle und 2.462 Todesfälle auf. Die Feststellungen zu den derzeitigen Informationen betreffend COVID-19 sind amtsbekannt und der weltweiten Gesamtberichterstattung zu entnehmen. Die Feststellungen hinsichtlich der Anzahl der erkrankten und verstorbenen Personen Afghanistan stammen von der John Hopkins University & Medicine (https://coronavirus.jhu.edu/map.html, abgerufen am 19.03.2021).

Die BF ist körperlich gesund und gehört mit Blick auf ihr junges Alter und das Fehlen einschlägiger physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Auch Kleinkinder sind nicht von einem erhöhten Ansteckungsrisiko betroffen und verläuft eine Infektion bei Kindern meist symptomlos. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf beziehungsweise mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung beziehungsweise einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Auch der Vater der BF als Familienerhalter ist keinem erhöhten Risiko ausgesetzt.

Ferner kann in Zusammenhang mit der weltweiten Ausbreitung des COVID-19-Erregers unter Zugrundelegung der medial ausführlich kolportieren Entwicklungen (auch) im Herkunftsland der BF bislang keine derartige Entwicklung erkannt werden, die im Hinblick auf eine Gefährdung nach Art. 2 und Art. 3 EMRK eine entscheidungsrelevante Lageänderung erkennen lässt. Die Familie des Vaters der BF ist finanziell abgesichert und liegen keine Hinweise darauf vor, dass sie infolge der Pandemie nicht mehr in der Lage wäre, die Familie bei einer Rückkehr zu unterstützen.

Was die Folgen der COVID-19-Pandemie in Afghanistan betrifft, ist überdies festzuhalten, dass es sich hierbei definitionsgemäß um eine weltweite Problematik handelt und kein Staat absolute Sicherheit vor dieser Erkrankung bieten kann; dies wird etwa auch durch die aktuellen Entwicklungen in der Europäischen Union und in den Vereinigten Staaten von Amerika belegt. Wie erwähnt gehört die BF keiner Risikogruppe an und ist sohin auch aus diesem Grund von keiner realen Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder Art. 3 EMRK auszugehen. In einer Gesamtbetrachtung lässt sich im Entscheidungszeitpunkt nicht schließen, dass eine Rückkehr der BF nach Afghanistan aufgrund der derzeitigen Gesundheits- und Versorgungslage nicht zumutbar ist.

1.4.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Stand 14.12.2020:

COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuss (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020)

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020, RFE/RL 2.6.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 1.6.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.9.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020, UNSC 27.5.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Balkh

Letzte Änderung: 14.12.2020

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA Balkh 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Balkh 2019).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1,509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif (NSIA 1.6.2020). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) (PAJ Balkh o.D.; vgl. NPS Balkh o.D.) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (AAN 8.7.2020).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul (TD 5.12.2017). Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab (OSM o.D.; vgl. TD 5.12.2017). Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan (LCA 4.7.2018).

Entlang des Highway 1 westlich der Stadt Balkh in Richtung der Provinz Jawzjan befindet sich der volatilste Straßenabschnitt in der Provinz Balkh, es kommt dort beinahe täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Auch besteht auf diesem Abschnitt in der Nähe der Posten der Regierungstruppen ein erhöhtes Risiko von IEDs - nicht nur entlang des Highway 1, sondern auch auf den Regionalstraßen (STDOK 21.7.2020). In Gegenden mit Talibanpräsenz, wie zum Beispiel in den südlichen Distrikten Zari (AAN 23.5.2020), Kishindeh und Sholgara, ist das Risiko, auf Straßenkontrollen der Taliban zu stoßen, höher (STDOK 21.7.2020; vgl. TN 20.12.2019).

In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (Kam Air Balkh o.D.; BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert (KP 10.2.2020; STDOK 21.7.2020), da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen (KP 10.2.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen (STDOK 21.7.2020). Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten (LWJ o.D.).

Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen (STDOK 21.7.2020). Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskräften (NYT 16.12.2019; REU 14.3.2019).

Auf Regierungsseite befindet sich Balkh im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) "Shaheen" Corps (USDOD 1.7.2020; TN 22.4.2018), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Das Hauptquartier des 209. Afghan National Army (ANA) "Shaheen" Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Die meisten Soldaten der deutschen Bundeswehr sind in Camp Marmal stationiert (SP 7.4.2019). Weiters unterhalten die US-amerikanischen Streitkräfte eine regionale Drehscheibe in der Provinz (USDOD 1.7.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020). Im Zeitraum 1.1.-30.9.2020 dokumentierte UNAMA 553 zivile Opfer (198 Tote, 355 Verletzte) in der Provinz, was mehr als eine Verdopplung gegenüber derselben Periode im Vorjahr ist (UNAMA 10.2020). Im ersten Halbjahr 2020 war hinsichtlich der Opferzahlen die Zivilbevölkerung in den Provinzen Balkh und Kabul am stärksten vom Konflikt in Afghanistan betroffen (UNAMA 7.2020).

Der UN-Generalsekretär zählte Balkh in seinen quartalsweise erscheinenden Berichten über die Sicherheitslage in Afghanistan im März und Juni 2020 zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes (UNGASC 17.6.2020; UNGASC 17.3.2020; vgl. LWJ 10.3.2020) und auch im September galt Balkh als eine der Provinzen mit den schwersten Talibanangriffen im Land (BAMF 14.9.2020). Es kam zu direkten Kämpfen (UNOCHA 23.9.2020; AJ 1.5.2020; DH 8.4.2020) und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren (UNOCHA 23.7.2020; REU 1.5.2020; UNOCHA 26.2.2020) oder Sicherheitsposten (NYTM 1.10.2020; NYTM 28.8.2020; AnA 18.3.2020; XI 7.1.2020). Die Regierungskräfte führten Räumungsoperationen durch (AN 25.6.2020; MENAFN 24.3.2020; AA 18.3.2020; XI 25.1.2020).

Ebenso wurde von IED-Explosionen, beispielsweise durch Sprengfallen am Straßenrand (NYTM 28.8.2020), aber auch an Fahrzeugen befestigten Sprengkörpern (vehicle-borne IEDs, VBIEDs) (TN 25.8.2020; RFE/RL 25.8.2020; vgl. NYTM 28.8.2020) sowie Selbstmordanschlägen berichtet (TN 25.8.2020; RFE/RL 25.8.2020; RFE/RL 19.9.2020). Auch in Mazar-e Sharif kam es wiederholt zu IED-Anschlägen (NYTM 1.10.2020; AN 19.9.2020; TN 1.7.2020; AP 14.1.2020; TN 4.1.2020). Zudem wurde von der Entführung (DH 8.4.2020) und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet (NYTM 1.10.2020; DH 8.4.2020).

Herat

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA Herat 4.2014). Herat ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Enjil, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kuhna, Obe, Pashtun Zarghun, Zendahjan und die „temporären“ Distrikte Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar, Kozeor), Zawol und Zerko (NSIA 1.6.2020; IEC Herat 2019), die aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Ihre Schaffung wurde vom Präsidenten nach Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, während das Parlament seine Zustimmung (noch) nicht erteilt hat (AAN 16.8.2018). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (NSIA 1.6.2020). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ Herat o.D.).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Herat im Zeitraum 2020-21 auf 2,140.662 Personen, davon 574.276? in der Provinzhauptstadt (NSIA 1.6.2020). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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