TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/23 W216 2189046-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.03.2021
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Entscheidungsdatum

23.03.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §68 Abs1
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W216 2189046-4/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marion STEINER über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH (BBU), p.A. Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.03.2021, Zahl: XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1., abgeschlossenes Verfahren:

Der Beschwerdeführer stellte am 21.05.2016 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Bei seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 22.05.2016 gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken sunnitisch-muslimischen Glaubens sei. Seine Muttersprache sei Dari. Er stamme aus der Provinz Maidan Wardak und habe zehn Jahre die Schule besucht. Zuletzt sei er als Landarbeiter tätig gewesen. Seine Eltern und seine drei Brüder würden sich in Kabul aufhalten. Als Fluchtgrund gab er an, dass er Afghanistan aufgrund des Krieges und der Taliban verlassen habe. Die Taliban hätten die Beendigung jeglicher Beziehungen zur Regierung gefordert und einen Schulbesuch verunmöglicht. Die Sicherheitslage sei sowohl in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers als auch in Kabul schlecht gewesen.

Anlässlich der am 20.02.2018 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich (im Folgenden: BFA), wiederholte der Beschwerdeführer seine Angaben hinsichtlich Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Herkunftsprovinz, Familienstand, Schulbesuch, Berufserfahrung in der familieneigenen Landwirtschaft und Aufenthaltsort seiner Angehörigen. Er gab an, dass er gesund und arbeitsfähig sei. Er erläuterte seinen Fluchtgrund, wobei er wiederholte Rekrutierungsversuche, Spionagevorwürfe und Todesdrohungen seitens der Taliban in seiner Heimatprovinz geltend machte. Nachdem der Beschwerdeführer mit seiner Familie nach Kabul gezogen sei, habe er auch dort mehrere Drohanrufe erhalten und sei von Unbekannten verfolgt worden. Der Beschwerdeführer legte seine Tazkira und Unterlagen zum Beweis seiner Integration in Österreich vor.

Mit Bescheid des BFA vom 21.02.2018 wurde dieser erste Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

Die gegen diesen Bescheid vom Beschwerdeführer fristgerecht erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.06.2020, Zl. W238 2189046-1/14E, vollinhaltlich als unbegründet abgewiesen. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus:

"Zu den vorgebrachten Fluchtgründen wird vom erkennenden Gericht im Einzelnen Folgendes festgestellt:

Weder war der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat einer individuellen gegen ihn gerichteten Verfolgung – etwa in Form einer versuchten Zwangsrekrutierung, einer ihm unterstellten Spionagetätigkeit für die Regierung oder Todesdrohungen seitens der Taliban – ausgesetzt noch wäre er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen ausgesetzt.

Auch kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder (von staatlichen Organen geduldet:) durch Private, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit (Tadschike), seiner Religion (sunnitischer Islam), Nationalität (Afghanistan), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätte.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert und hatte auch mit den Behörden des Herkunftsstaates keine Probleme. Der Beschwerdeführer war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an. Es gibt insgesamt keinen stichhaltigen Hinweis, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer (asylrelevanten) Verfolgung ausgesetzt wäre.

1.1.3. Der Beschwerdeführer ist jung, arbeitsfähig und gesund.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende – auch in Afghanistan aufgetretene – Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist völlig gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Der Beschwerdeführer besuchte in Afghanistan zehn Jahre die Schule. Er kann lesen und schreiben.

In Afghanistan unterstützte der Beschwerdeführer seinen Vater in der familieneigenen – 20 Jirib umfassenden – Landwirtschaft.

Zum Zeitpunkt der Ausreise des Beschwerdeführers aus Afghanistan lebten die Eltern und Geschwister (drei Brüder) in der Stadt Kabul; zwei Tanten und ein Onkel lebten im Heimatdorf. Der aktuelle Aufenthaltsort seiner Angehörigen ist dem Beschwerdeführer nicht bekannt, da er etwa seit einem Jahr keinen Kontakt mehr zu seiner Kernfamilie hat.

Eine Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Maidan Wardak scheidet aus, weil ihm dort aufgrund der vorherrschenden Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Der Beschwerdeführer kann sich stattdessen im Rückkehrfall in einer der relativ sicheren Städte Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen und mittelfristig dort eine Existenz aufbauen. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache vertraut und wuchs in einem afghanischen Familienverband auf. Der Beschwerdeführer lebte zwar nie in Herat oder Mazar-e Sharif und verfügt dort auch über keine familiären Anknüpfungspunkte. Angesichts seiner zehnjährigen schulischen Ausbildung, seiner Schreib- und Lesekompetenz, seiner Sprachkenntnisse (Dari, Paschtu, Deutsch), seiner uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit sowie seiner in der Landwirtschaft gewonnenen beruflichen Erfahrungen und seiner in Österreich erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten (z.B. Absolvierung des Pflichtschulabschlusses, Arbeit auf dem Bauhof seiner Wohnsitzgemeinde) könnte sich der Beschwerdeführer dennoch sowohl in Herat als auch in Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese zumindest anfänglich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Ihm wäre der Aufbau einer Existenzgrundlage in Herat oder Mazar-e Sharif möglich. Er ist in der Lage, in Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Er hat weiters die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Er kann die Städte Herat und Mazar-e Sharif grundsätzlich auf dem Luftweg (via Kabul) sicher erreichen.

1.1.4. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. In Österreich hat der Beschwerdeführer keine Verwandten.

Der Beschwerdeführer verfügt über freundschaftliche Kontakte zu österreichischen Privatpersonen und brachte mehrere Unterstützungsschreiben in Vorlage.

Sein Unterkunftgeber, geschäftsführender Gemeinderat der Wohnsitzgemeinde des Beschwerdeführers, beschreibt ihn – unter Bezugnahme auf dessen Tätigkeiten für die Gemeinde – als ehrgeizig, zuverlässig, überdurchschnittlich engagiert und hilfsbereit.

Der Beschwerdeführer absolvierte Deutschkurse und legte den Nachweis einer bestandenen Deutschprüfung auf Niveau B1 vor. Zum Zeitpunkt der Verhandlung wies der Beschwerdeführer gute Deutschkenntnisse auf.

Er nahm am Kurs „Poleposition Asyl“ teil und absolvierte in Österreich den Pflichtschulabschluss (u.a. mit den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik). Weiters nahm er am Workshop „Zirkus und Pantomime“ teil und besucht regelmäßig Veranstaltungen des Vereins „Grenzenlos XXXX “. Er verrichtet laufend gemeinnützige Tätigkeiten für seine Wohnsitzgemeinde – darunter etwa Rasenmähen, Bearbeitung von Grünflächen mit der Motorsense, Unkraut jäten, Hilfsarbeiten am Bauhof –, für die er eine geringfügige Entlohnung erhält. Ansonsten bezieht er Leistungen aus der Grundversorgung

Die Bindung des Beschwerdeführers zu Afghanistan ist angesichts seiner langen Aufenthaltsdauer im Herkunftsstaat – insbesondere auch unter dem Aspekt seiner Sozialisierung in einem afghanischen Familienverband, seiner Muttersprache Dari und der daraus abgeleiteten Verbundenheit mit der afghanischen Kultur – deutlich intensiver als jene zu Österreich. Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Asylantragstellung am 21.05.2016 im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer ist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur Lage in Afghanistan

1.2.1. Betreffend die Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 18.05.2020, die in der Kurzinformation der Staatendokumentation zu COVID-19 vom 09.04.2020, die in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie die in Berichten von EASO – EASO Country Guidance Afghanistan von Juni 2018 und Juni 2019, EASO Afghanistan Security Situation von Juni 2019, EASO Country of Origin Information Report Afghanistan Key socio-economic indicators Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City von April 2019 – enthaltenen Informationen wie folgt auszugsweise festgestellt:

[ … ]"

2., abgeschlossenes Verfahren:

In der Folge begab sich der Beschwerdeführer über Frankreich in die Niederlande, wo er sich vom 23.206.2020 bis zum 27.8.2020 aufgehalten hat. Der Beschwerdeführer betrieb in den Niederlanden ein Asylverfahren wurde jedoch aufgrund der europäischen Zuständigkeitsnormen gemäß der Dublin III-VO nach Österreich rücküberstellt, wo er am 27.08.2020 den zweiten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich einbrachte.

Im Verlauf seiner Erstbefragung nach dem Asylgesetz durch die Landespolizeidirektion Niederösterreich am 27.08.2020 gab der Beschwerdeführer an, dass seine alten Asylgründe immer noch gelten würden. Aufgrund seiner alten Asylgründe seien seine Eltern und seine drei Brüder getötet worden. Er habe keine weiteren Gründe für eine Asylantragstellung.

Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme am 23.09.2020 vor dem BFA gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er bisher im Verfahren wahrheitsgemäße Angaben erstattet habe, sowie dass er keine identitätsbezeugenden Dokumente oder Beweismittel vorlegen könne. In gesundheitlicher Hinsicht gehe es ihm heute gut, er leide jedoch unter psychischen Problemen, wogegen er Tabletten bekommen habe, die er immer vor dem Schlafen einnehmen müsse. Er habe weder familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich, noch lebe er mit einer sonstigen Person in einer familienähnlichen Lebensgemeinschaft. Seine Fluchtgründe seien jene, die er hier angegeben habe. Er sei von den Taliban als Spion betrachtet und bedroht worden. Danach sei er nach Kabul geflüchtet und habe in der Folge Afghanistan alleine verlassen, damals habe seine Familie noch in Afghanistan gelebt. Nunmehr sei der Kontakt abgebrochen, er habe versucht seine Familie zu erreichen, jedoch sei das Telefon ausgeschaltet gewesen, er sei auch nicht zurückgerufen worden. Auf die Frage, was sich seit der rechtskräftigen Beendigung seines ersten Asylverfahrens geändert habe, gab der Beschwerdeführer an, dass er den Vater eines Freundes in Afghanistan angerufen habe, der ihm mitgeteilt habe, dass seine Familie eine Zeit lang in Kabul gelebt und danach wieder ins Heimatdorf zurückgegangen sei. Dort hätten die Taliban seine Familie mitgenommen und getötet. Diese Informationen habe erhalten, als er sich in Paris aufgehalten habe. Er könne weder den Vater des Freundes noch den Freund selbst erreichen. Dieser habe ihn mittlerweile "geblockt" und die Freundschaft gelöscht. Telefonnummern habe er niemals gehabt, er habe über das Internet mit seinen Bekannten gesprochen. Hier im Bundesgebiet lebe er von der Grundversorgung, er bekomme Taschengeld, aktuell arbeite er nirgendwo, er sei auch aktuell in keinem Verein tätig. Er habe einen Deutschkurs für das Sprachniveau B1 gemacht und könne einen Hauptschulabschluss aufweisen. Er spreche die Sprachen Paschto, Englisch und Deutsch. In Afghanistan sei er von den Taliban nur angerufen, nicht aber persönlich aufgesucht worden. Er sei aber auch verfolgt worden, von Leuten, die ihn gekannt hätten. Er habe bemerkt, dass ihn diese Leute verfolgen. Er habe gesehen, dass sie vorbeigingen und ihn beobachtet hätten. Angegriffen worden sei er von diesen Leuten nie.

Mit Bescheid vom 08.10.2020 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG (Spruchpunkt II.) wegen entschiedener Sache zurück. Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idgF gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) idgF erlassen (Spruchpunkt IV.),sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), ihm wurde gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt (Spruchpunkt VI.) und es wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend wurde zu den Spruchpunkten I. und II. ausgeführt, dass kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt habe festgestellt werden können. Da weder in der maßgeblichen Sachlage noch im Begehren und auch nicht in den anzuwendenden Rechtsnormen eine Änderung eingetreten sei, welche eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages nicht von vornherein als ausgeschlossen erscheinen ließe, stehe die Rechtskraft des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.06.2020 dem neuerlichen Antrag entgegen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung unter Spruchpunkt IV. sei zulässig, weil der Beschwerdeführer in Österreich kein Familienleben führe, nicht berufstätig sei, sich in Grundversorgung befinde, keine Schule oder Universität besuche und auch nicht Mitglied in einem Verein sei. Angehörige habe er in Österreich keine, es bestünden somit keine nennenswerten privaten Bindungen in Österreich. Die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan sei zulässig und angesichts der zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG bestehe gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise. Da der Beschwerdeführer seit seiner ersten Einreise in das österreichische Bundesgebiet ausschließlich von öffentlichen Mitteln lebe und daher den Besitz von Mitteln zur Bestreitung seines Unterhalts nicht nachweisen könne, sei der Tatbestand des § 53 Abs. 2 Z 6 FPG erfüllt. Zudem habe der Beschwerdeführer seine Ausreiseverpflichtung missachtet und sei offensichtlich nicht bereit, die österreichische Rechtsordnung sowie rechtskräftige behördliche bzw. gerichtliche Entscheidungen zu beachten, sodass sein Aufenthalt in Österreich eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Die Erlassung eines Einreiseverbotes in der angegebenen Dauer unter Spruchpunkt VII. sei daher gerechtfertigt und notwendig, um die von ihm ausgehende Gefährdung zu verhindern.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer im Wege seiner Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde, worin lediglich geltend gemacht wurde, dass der Beschwerdeführer in freier Erzählung sowie auch auf Nachfrage konkrete und detaillierte Angaben zu seinen Fluchtgründen vorgebracht habe. Seine Angaben seien hinreichend substantiiert, plausibel und glaubhaft gewesen und nachvollziehbar dargelegt worden. Er verweise auf die bereits bisher im Verfahren getätigten Angaben.

Mit Schreiben vom 16.10.2020 teilte das BFA anher mit, dass beim Beschwerdeführer der Krankheitsverdacht betreffend COVID-19 vorliege und die Absonderung des Beschwerdeführers behördlicherseits verfügt worden sei. Unter einem wurde der Bescheid der Bezirkshauptmannschaft XXXX vom 15.10.2020 vorgelegt, mit dem aufgrund des Verdachts auf die Erkrankung an der Lungenkrankheit COVID-19 beginnend mit 15.10.2020 die Absonderung des Beschwerdeführers angeordnet worden ist. Laut amtswegig eingeholter Auskunft vom 21.10.2020 ist der Beschwerdeführer positiv auf COVID-19 getestet worden.

Mit ho. Beschluss vom selben Tag, Zl. W144 2189046- /5Z, wurde der Beschwerde gemäß § 17 Abs. 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Mit Schreiben vom 28.10.2020 übermittelte das BFA einen Bescheid der BH XXXX vom 25.10.2020, mit dem die mit Bescheid vom 16.10.2020 angeordnete Absonderung des Beschwerdeführers mit Ablauf des 25.10.2020 aufgehoben wurde. Begründend wurde ausgeführt, dass aufgrund der nachweislichen Erkrankung des Beschwerdeführers an der Lungenkrankheit COVID-19 seine häusliche Absonderung angeordnet worden sei. Da seit dem Zeitpunkt der bescheidmäßig festgelegte Mindestzeitraum der Absonderung vergangen sei und der Beschwerdeführer laut seinen Angaben seit mindestens 48 Stunden symptom- und fieberfrei sei, habe im Zusammenhang mit seiner Gesundmeldung aufgrund der medizinischen Erkenntnisse über die Genesung die Absonderung aufgehoben werden können.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.10.2020, W144 2189046-2/8E, wurde die gegen den Bescheid des BFA vom 08.10.2020 erhobene Beschwerde vollinhaltlich als unbegründet abgewiesen. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass im Folgeverfahren keine Bedrohungslage geltend gemacht worden sei, welche nicht auch bereits vor dem rechtskräftigen Abschluss seines ersten Asylverfahrens vorgebracht und die bereits vormals thematisiert worden wäre.

3., gegenständliches Verfahren:

In der Folge verließ der Beschwerdeführer erneut das österreichische Bundesgebiet und wurde am 18.12.2020 aus Deutschland wieder nach Österreich überstellt, wo er am selben Tag den gegenständlichen dritten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich einbrachte.

Im Verlauf seiner Erstbefragung nach dem Asylgesetz durch die Polizeiinspektion Schwechat (FGA) am 18.12.2020 gab der Beschwerdeführer an, dass seine alten Asylgründe immer noch aufrecht seien. Er habe keine neuen Fluchtgründe. Bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland befürchte er, von den Taliban getötet zu werden.

Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme am 12.01.2021 vor dem BFA gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er keine identitätsbezeugenden Dokumente oder Beweismittel vorlegen könne. In gesundheitlicher Hinsicht gab er an, dass er glaube, an einer psychischen Krankheit zu leiden, er vertraue jedoch keinem Arzt und habe sich auch bisher nicht in einer psychiatrischen Behandlung in Österreich befunden. In Deutschland sei er bei einem Arzt gewesen, dieser habe ihm jedoch lediglich gesagt, dass es ihm egal sei, was mit dem Beschwerdeführer sei. Er habe weder familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich, noch lebe er mit einer sonstigen Person in einer familienähnlichen Lebensgemeinschaft. Seine Eltern seien vor ca. fünf oder sechs Monaten von den Taliban getötet worden. Er habe einen Onkel und eine Tante mütterlicherseits und eine Tante väterlicherseits, wisse aber nicht, wo sich diese derzeit befänden und habe keinen Kontakt mehr zu ihnen. Er habe in Österreich die Schule besucht und Deutsch gelernt und sei nicht vorbestraft. Es sei auch kein Gerichtsverfahren in Österreich gegen ihn anhängig. Während seines Aufenthaltes in Österreich habe er für eine Gemeinde gearbeitet. Er habe Österreich zweimal nach Antragstellung verlassen, da er sich vor einer Abschiebung nach Afghanistan gefürchtet habe. Er könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil er dort niemanden mehr habe und sein Leben dort in Gefahr sei. Seine gesamte Familie sei von den Taliban getötet worden.

Mit Bescheid vom 02.03.2021 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 18.12.2020 sowohl bezüglich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück.

Begründend wurde ausgeführt, dass kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt habe festgestellt werden können. Der Beschwerdeführer stütze sich nach wie vor auf seine Angaben, welche er bereits im Erstverfahren getätigt habe und habe – wie bereits während des zweiten Asylverfahrens – vorgebracht, dass seine Eltern und Brüder von den Taliban getötet worden wären. Dieses Vorbringen sei – auch unter Vorlage eines Schreibens der Dorfbewohner – nach wie vor nicht glaubhaft. Einen neu entstandenen Sachverhalt oder neue Gründe, welche den Beschwerdeführer an einer Rückkehr hindern würden, habe er nicht angeführt. Die im gegenständlichen Verfahren dargestellten Angaben hinsichtlich seines Fluchtgrundes würden keine Veränderung seiner Fluchtgründe darstellen und könne daher keinesfalls ein neu entstandener Sachverhalt erkannt werden. Es habe sich zum jetzigen Zeitpunkt auch hinsichtlich der im Erstverfahren getroffenen Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan keine wesentliche Änderung ergeben und werde diese daher nach wie vor für zulässig erachtet. Da der objektive und entscheidungsrelevante Sachverhalt unverändert sei, liege sohin entschiedene Sache im Sinne von § 68 AVG vor. Der Beschwerdeführer verfüge über keinerlei familiäre oder verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte in Österreich. Der Beschwerdeführer halte sich zwar seit ungefähr Mitte des Jahres 2016 mit Unterbrechungen im Bundesgebiet auf, habe aber niemals über einen anderen als einen vorübergehenden, asylrechtlichen Aufenthaltstitel verfügt. Da der Beschwerdeführer keine Verwandten im Bundesgebiet habe, allfällige freundschaftliche Beziehungen zu einem Zeitpunkt eingegangen sei, an dem er sich seiner prekären aufenthaltsrechtlichen Position bewusst gewesen sei, illegal eingereist und auf Dauer nicht selbsterhaltungsfähig sei, könne keinesfalls von einer gelungenen Integration gesprochen werden. In Summe betrachtet sei eine Verletzung des Rechts auf Privatleben durch die Ausweisung nicht zu erkennen. Weder aus seinem Vorbringen im gegenständlichen Verfahren, noch aus den im letzten Asylverfahren zugrunde gelegten Feststellungen zu seinem Heimatland, unter Berücksichtigung von aktualisierten Versionen des im Vorverfahren verwendeten Quellenmaterials, würden sich Hinweise auf eine sich seit dem rechtskräftigen Abschluss des Erstverfahrens maßgeblich geänderte Lage in seinem Heimatland ergeben. Da weder in der maßgeblichen Sachlage noch im Begehren und auch nicht in den anzuwendenden Rechtsnormen eine Änderung eingetreten sei, welche eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages nicht von vornherein als ausgeschlossen erscheinen ließe, stehe die Rechtskraft des Vorverfahrens seinem neuerlichen Antrag entgegen, weswegen die Asylbehörde zu seiner Zurückweisung verpflichtet sei. Eine aufrechte Rückkehrentscheidung iSd § 59 Abs. 5 FPG liege dann vor, wenn gleichzeitig ein aufrechtes Einreiseverbot bestehe. Diese Konstellation liege im Fall des Beschwerdeführers vor, daher liege eine aufrechte Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot vor und sei keine neuerliche Rückkehrentscheidung zu erlassen.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer im Wege seiner Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde, worin im Wesentlichen geltend gemacht wurde, dass sich die Lage seit der Erstantragstellung des Beschwerdeführers wesentlich und nachhaltig geändert habe. Seine Kernfamilie sei bereits verstorben. Diese sei bei einem Angriff der Taliban auf sein Heimatdorf ums Leben gekommen. Zu etwaigen Verwandten habe er keinen Kontakt. Eine Rückkehr und Ansiedlung außerhalb der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers, insbesondere in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat, sei dem Beschwerdeführer aufgrund seiner individuellen Umstände nicht zumutbar, zumal der Beschwerdeführer in Afghanistan weder über ein tragfähiges soziales- bzw. familiäres Netzwerk noch über ausreichend finanziellen Mittel verfüge, mit dessen Unterstützung ihm der Aufbau einer Existenzgrundlage möglich wäre.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Festgestellt wird zunächst der oben dargelegte Verfahrensgang.

1.2. Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, sunnitisch-muslimischen Glaubens. Die Identität steht des Beschwerdeführers steht nicht fest.

Weiters wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer im gegenständlichen zweiten Folgeverfahren keine Bedrohungslage geltend gemacht hat, die er nicht auch bereits vor dem rechtskräftigen Abschluss seines ersten und zweiten Asylverfahrens vorgebracht hat und die bereits zweimal thematisiert worden ist. Zum bereits im zweiten Asylverfahren erstatteten Vorbringen, wonach seine Eltern und Brüder von den Taliban getötet worden seien, legte der Beschwerdeführer nunmehr ein kurzes Schreiben der Dorfbewohner vor, dem jedoch keine Beweiskraft zukommt und das zu keiner geänderten Sachlage führen kann.

Festgestellt wird somit, dass kein glaubhafter, neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt festgestellt werden kann, welcher nach rechtskräftigem Abschluss des ersten Asylverfahrens entstanden ist.

Auch in Bezug auf die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Herkunftsstaat seit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz kann im Vergleich zu jenem, über den das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnissen vom 16.06.2020 sowie vom 29.10.2020 rechtskräftig entschieden hat, keine maßgebliche Änderung erkannt werden, welche nunmehr in seinem dritten Asylverfahren eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit die Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz gebildet haben, aufzeigen würde.

Eine maßgebliche Änderung der abschieberelevanten Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers kann ebenso nicht auf die auch in Afghanistan vorherrschenden Situation betreffend das Virus Sars-CoV-2 bzw. die Krankheit COVID-19 gestützt werden. Denn der Beschwerdeführer war bereits an COVID-19 erkrankt, ist mittlerweile wieder genesen und er gehört als 23-jähriger junger und gesunder Mann ohne Vorerkrankungen keiner Risikogruppe an, bei der im Falle einer Ansteckung ein schwererer Krankheitsverlauf zu befürchten ist.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer an einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung leidet. Er hat keinerlei Befunde vorgelegt und befand sich zu keiner Zeit in ärztlicher Behandlung oder Therapie.

Ebenso sind hinsichtlich der familiären und privaten Beziehungen des Beschwerdeführers in Österreich und in seinem Herkunftsstaat gegenüber den in den rechtskräftig abgeschlossenen Vorverfahren getroffenen Feststellungen keine entscheidungsmaßgeblichen Änderungen (zu Gunsten der privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet) eingetreten.

Der Beschwerdeführer verfügt weiterhin über keine Familienangehörigen, Verwandten oder sonstigen engen Nahebeziehungen im Bundesgebiet, war in Österreich nie selbsterhaltungsfähig und bezieht nach wie vor Leistungen im Rahmen der Grundversorgung. Er besuchte Deutschkurse, bestand die ÖSD-Deutschprüfung für das Sprachniveau B1, bestand den Pflichtschulabschluss und verrichtete gemeinnützige Tätigkeiten für seine Wohnsitzgemeinde.

Seit dem 31.10.2020 besteht gegen den Beschwerdeführer eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot für Österreich für die Dauer von zwei Jahren.

1.3. Zur allgemeinen politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan wird aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan, mit Stand vom 16.12.2020, Folgendes – auszugsweise – festgestellt:

"Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020)

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020 vgl.; BBC 25.3.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 6.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020, RFE/RL 2.6.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 1.6.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.9.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020, UNSC 27.5.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban, Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020) und verfügt über Kontakte zu IS (RA KBL 12.10.2020; vgl. EASO 8.2020). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani [auch Sirajuddin Haqqani] (EASO 8.2020c; cf. UNSC 27.5.2020).

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019). Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika und Khost aktiv. Sie verfügen jetzt über mehr Macht als in den Vorjahren und führen mehr Operationen durch. Es gibt keine größeren Gegenmaßnahmen der afghanischen Regierung oder der Sicherheitskräfte gegen das Netzwerk (RA KBL 12.10.2020)

Die afghanische Regierung entließ drei führende Mitglieder des Netzwerks im Zuge des Gefangenenaustausches im November 2019 (RA KBL 12.10.2020; vgl. NYT 19.11.2019, BBC 19.11.2019). Das Haqqani-Netzwerk ist an den aktuellen Friedensverhandlungen beteiligt (RA KBL 12.10.2020)

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Es ist aber nicht erwiesen, ob er mit dem IS im Irak und in Syrien verbunden ist oder nicht. (RA KBL 12.10.2020). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019) bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern (EASO 8.2020). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020; vgl. RA KBL 12.10.2020), da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region (SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfe

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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