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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
B-VG Art133 Abs4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, in der Rechtssache der Revision des A R in W, vertreten durch Mag. Simone Prath, Rechtsanwältin in 7540 Güssing, Badstraße 12, gegen das am 13. August 2020 mündlich verkündete und am 25. September 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W172 2162435-1/42E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, schiitischen Glaubens und der Volksgruppe der Hazara zugehörig, stellte am 24. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005, den er damit begründete, dass seine Familie mehrfach von den Taliban bedroht worden sei. In Pakistan, wo der Revisionswerber vor seiner Ausreise gelebt habe, sei zudem die Sicherheitslage für Hazara schlecht und es gebe Terroranschläge.
2 Mit Bescheid vom 1. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit am 13. August 2020 mündlich verkündetem und am 25. September 2020 schriftlich ausgefertigtem Erkenntnis nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Der Revisionswerber erhob gegen das angefochtene Erkenntnis Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 24. Februar 2021, E 4006/2020-13, deren Behandlung ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Daraufhin brachte der Revisionswerber die gegenständliche Revision ein.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
8 Der Revisionswerber macht zur Begründung der Zulässigkeit seiner Revision Verfahrensfehler geltend. Er bringt vor, das Bundesverwaltungsgericht habe seine Ermittlungspflicht verletzt, weil es das gleichbleibende Vorbringen in den Stellungnahmen wie in den mündlichen Verhandlungen zum Bedrohungsszenario außer Acht gelassen und sich einzig auf Erhebungen des Sachverständigen gestützt habe. Es hätte die offenen Punkte durch eingehende Befragung des Revisionswerbers sowie von Zeugen und ergänzende Erhebungen klären müssen. Im Rahmen der amtswegigen Ermittlungspflicht habe es das Verwaltungsgericht unterlassen, den Revisionswerber zur Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur schiitischen Minderheit der Hazara und zur Verfolgung als Rückkehrer aus Europa zu befragen. Zudem hätte es bei Berücksichtigung aktueller Berichte auch eine Gruppenverfolgung als Hazara nicht ausschließen dürfen.
9 Werden Verfahrensmängel - wie hier Ermittlungs-, Feststellungs- und Begründungsmängel - als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass - auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise darzulegen (vgl. VwGH 9.3.2021, Ra 2021/20/0044, mwN).
10 Die Frage, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt außerdem einer einzelfallbezogenen Beurteilung. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn die Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. VwGH 23.6.2020, Ra 2020/20/0188, mwN).
11 Eine konkrete Relevanzdarstellung lässt die Revision indes hinsichtlich der von ihr behaupteten Ermittlungs-, Feststellungs- und Begründungsmängel vermissen. Weder ist der Zulässigkeitsbegründung zu entnehmen, welche konkreten Ergebnisse weitere Ermittlungen im Revisionsfall hätten erbringen können, noch wird ausgeführt, welche konkreten entscheidungsrelevanten Feststellungen aufbauend auf diesen Ergebnissen zu treffen gewesen wären. Auch hinsichtlich der gerügten unterlassenen (weiteren) Befragung des Revisionswerbers und allfälliger - nicht namentlich benannter - Zeugen wird nicht ausgeführt, weshalb das Bundesverwaltungsgericht von der Notwendigkeit weiterer Befragungen hätte ausgehen müssen, zumal dem Revisionswerber mehrfach die Möglichkeit geboten worden war, im Rahmen der mündlichen Verhandlung in einer freien Erzählung ein weiteres Vorbringen zu erstatten. Ebenso wird nicht dargetan, weshalb das Bundesverwaltungsgericht von der Notwendigkeit weiterer amtswegiger Ermittlungen hätte ausgehen müssen.
12 Soweit die Revision eine Aktenwidrigkeit geltend macht, weil das Bundesverwaltungsgericht davon ausgegangen sei, die Tante des Revisionswerbers - und nicht, wie vom Revisionswerber im Rahmen der Verhandlung angegeben, eine Cousine seiner Mutter - sei in dessen Herkunftsregion zurückgekehrt, macht sie mit diesen Ausführungen ebenfalls einen Verfahrensmangel geltend, ohne jedoch dessen Relevanz auf den Verfahrensausgang aufzuzeigen (vgl. zur Relevanzdarlegung bei einer vorgebrachten Aktenwidrigkeit etwa VwGH 9.2.2018, Ra 2018/20/0008, mwN).
13 Wenn die Revision auch darin eine Aktenwidrigkeit verortet, dass das Bundesverwaltungsgericht davon ausgehe, die Tante des Revisionswerbers lebe unbehelligt in Afghanistan, ist dem entgegenzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht dies nicht angenommen hat. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass die Tante des Revisionswerbers in Pakistan lebe und dass andere Familienangehörige des Revisionswerbers, nämlich eine Cousine seiner Mutter samt ihrer Familie, in Afghanistan lebten.
14 Dass - infolge der vorgebrachten Aktenwidrigkeit - die Beweiswürdigung als unvertretbar anzusehen wäre, zeigt die Revision nicht auf (vgl. zum insoweit im Revisionsverfahren maßgeblichen Prüfkalkül etwa VwGH 15.3.2021, Ra 2021/20/0047, mwN).
15 Die Revision wendet sich im Zulässigkeitsvorbringen weiters gegen die Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz und die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, dem Revisionswerber stehe in Mazar-e Sharif und Herat eine innerstaatliche Fluchtalternative, deren Inanspruchnahme auch zumutbar sei, offen. In diesem Zusammenhang bringt die Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht habe die persönlichen Umstände des Revisionswerbers nicht hinreichend berücksichtigt. Der Revisionswerber sei schiitischer Hazara mit fehlender Schul- und Berufsausbildung, geringer Berufserfahrung, ohne soziales Netzwerk und er habe sich lange Zeit außerhalb Afghanistans aufgehalten. Zudem habe sich das Bundesverwaltungsgericht nicht hinreichend mit den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie beschäftigt. Mit diesem Vorbringen zeigt die Revision jedoch keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf.
16 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Frage der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative letztlich eine Entscheidung im Einzelfall dar, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit zu treffen ist (vgl. VwGH 13.1.2021, Ra 2020/14/0287 und 0288, mwN).
17 Es entspricht weiters der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 14.9.2020, Ra 2020/14/0314, mwN). In der Rechtsprechung wurde auch bereits wiederholt festgehalten, dass für sich nicht entscheidungswesentlich ist, wenn sich für einen Asylwerber infolge der seitens afghanischer Behörden zur Verhinderung der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus und von Erkrankungen an Covid-19 gesetzten Maßnahmen die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellte, weil es darauf bei der Frage, ob im Fall seiner Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu gewärtigen ist, nicht ankommt, solange diese Maßnahmen nicht dazu führen, dass die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse als nicht mehr gegeben anzunehmen wäre. Das gilt auch für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative (vgl. auch VwGH 9.11.2020, Ra 2020/20/0373, mwN).
18 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung, dass weder EASO (Leitfaden vom Juni 2018 und Juni 2019) noch UNHCR (Richtlinien vom 30. August 2018) von der Notwendigkeit der Existenz eines sozialen Netzwerkes in Mazar-e Sharif und Herat für einen alleinstehenden, gesunden, erwachsenen Mann ohne besondere Vulnerabilität für die Verfügbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausgehen. Es entspricht zudem der - auch zu dieser Berichtslage ergangenen - Rechtsprechung, dass einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrscht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut ist und die Möglichkeit hat, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden kann, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat, sondern in Pakistan aufgewachsen und dort in die Schule gegangen ist (vgl. VwGH26.2.2021, Ra 2021/14/0044; 12.10.2020, Ra 2020/20/0001; 26.6.2020, Ra 2020/14/0249, jeweils mwN).
19 Das Bundesverwaltungsgericht traf im angefochtenen Erkenntnis unter Beachtung der von UNHCR und EASO herausgegebenen Richtlinien konkrete, sowohl die persönliche Situation des Revisionswerbers als auch die allgemeine Lage (Sicherheits- und Versorgungslage; Auswirkungen der Covid-19-Pandemie) im Herkunftsstaat betreffende Feststellungen. Unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Revisionswerbers - darunter auch sämtliche von der Revision ins Treffen geführte Umstände - verwies es den Revisionswerber auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat. Die Revision zeigt nicht auf, dass die Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts am Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichtshofes zu beanstanden wäre (vgl. dazu auch VwGH 22.1.2021, Ra 2020/20/0439, mwN).
20 Insoweit sich der Revisionswerber schließlich gegen die im Rahmen der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorgenommene Interessenabwägung wendet, ist er auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist (vgl. VwGH 23.2.2021, Ra 2021/20/0023, mwN).
21 Mit dem pauschalen Vorbringen, das Bundesverwaltungsgericht habe bei der Interessenabwägung „die gebotene gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen mit dem persönlichen Interesse des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich unberücksichtigt gelassen“, verabsäumt es der Revisionswerber, konkret jene Umstände zu bezeichnen, auf die er sich dabei bezieht. Die Revision vermag daher nicht aufzuzeigen, dass das Bundesverwaltungsgericht die Interessenabwägung in einer unvertretbaren Weise vorgenommen hätte oder die Gewichtung der einbezogenen Umstände den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien widerspräche.
22 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 17. Mai 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020200399.L00Im RIS seit
11.06.2021Zuletzt aktualisiert am
06.07.2021