Entscheidungsdatum
29.03.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W169 2227319-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Barbara MAGELE als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Indien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.12.2019, Zl. 1252882109-191190802, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.02.2021, zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. – VI. gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF, und §§ 52, 55 FPG idgF als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes VII. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und das befristete Einreiseverbot ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler, schlepperunterstützter Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 20.11.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Folgetag gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, dass er aus dem Bundesstaat Rajasthan stamme und die Sprachen Hindi und Punjabi spreche. Er gehöre der Religionsgemeinschaft der Hindus und Volksgruppe der Brahmanen an. Er sei ledig. Im Herkunftsstaat habe der Beschwerdeführer zwölf Jahre die Grundschule besucht. Er habe keine Berufsausbildung und nicht gearbeitet. In Indien würden die Eltern und zwei Schwestern des Beschwerdeführers leben. Zu seinem Ausreisegrund führte er an, dass er sich in seiner Heimatstadt in ein Mädchen verliebt habe. Sie seien seit zwei Jahren zusammen gewesen und hätten auch später heiraten wollen. Ihre Familie sei aber gegen die Beziehung gewesen. Aus diesem Grund sei die Freundin des Beschwerdeführers mehrere Male von ihrer Familie geschlagen und mit dem Tod bedroht worden. Der Beschwerdeführer sei ebenfalls von ihrem Bruder mit dem Tod bedroht worden.
Der Beschwerdeführer sei auch einmal von ihrem Bruder geschlagen und am Kopf verletzt worden. In weiterer Folge sei er dann auch verfolgt worden. Aus diesem Grund habe er beschlossen, Indien zu verlassen. Im Falle einer Rückkehr habe der Beschwerdeführer Angst, von der Familie seiner Freundin umgebracht zu werden.
2. Anlässlich seiner Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 03.12.2019 gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, dass er aus dem Bundesstaat Rajasthan stamme. Er spreche Hindi, ein wenig Punjabi und Englisch. Er gehöre der Religionsgemeinschaft der Hindus und der Volksgruppe der Brahmanen an. Im Herkunftsstaat habe er zwölf Jahre die Schule besucht. Er habe im Herkunftsstaat nicht gearbeitet. Er habe mit seinen Eltern und seinen Schwestern im gemeinsamen Haushalt gelebt. Seine Angehörigen hätten ein Haus und ein Geschäft, in dem alle arbeiten würden. Der Beschwerdeführer habe keinen Kontakt zu seiner Familie.
Zu seinem Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer vor, dass er vor zwei Jahren, als er in der Schule gewesen sei, ein muslimisches Mädchen kennengelernt habe. Sie hätten sich verliebt, ihre Familie sei jedoch dagegen gewesen. Der Beschwerdeführer sei von ihrer Familie gehasst worden. Der Bruder des Mädchens habe guten Kontakt zu Gangstern und kriminellen Gruppen gehabt. Als ihr Bruder von der Beziehung erfahren habe, seien Anschläge gegen den Beschwerdeführer verübt worden. Einmal sei er so brutal geschlagen worden, dass er zwei Monate lang nur zuhause gewesen sei, weil er Depressionen gehabt habe. Seine Familie habe ihn nach Delhi geschickt, jedoch sei der Aufenthaltsort vom Bruder des Mädchens aufgedeckt worden. Er sei nach Delhi gekommen und habe den Beschwerdeführer verprügelt. Das Mädchen heiße XXXX , der Bruder nenne sich XXXX , heiße aber XXXX . Die Mutter des Mädchens heiße XXXX und der Vater XXXX . Als der Beschwerdeführer in Delhi vom Bruder des Mädchens geschlagen worden sei, habe ein Freund den Fall gemeldet. Auch dieser Freund sei im Nachhinein von ihnen geschlagen worden. Die Freundin des Beschwerdeführers sei sogar ermordet worden. Ein anderer Freund habe ihm vom Mord berichtet und ihn gewarnt. Ihr Bruder habe auch versucht den Beschwerdeführer zu töten, aber er habe es nicht geschafft, da er zuvor geflüchtet sei. Der Beschwerdeführer habe sich versteckt und seinem Vater von diesem Vorfall erzählt. Dieser habe einen Schlepper kontaktiert und die Flucht organisiert. Als der Beschwerdeführer auf der Flucht gewesen sei, sei der Bruder des Mädchens zur Familie des Beschwerdeführers gekommen und habe sie belästigt. Sogar die Schwester des Beschwerdeführers habe er belästigt. Der Beschwerdeführer habe, nachdem er mit seiner Familie telefoniert habe, erfahren, dass seine Familie, speziell seine Schwestern, gefoltert worden seien. Er habe seinem Vater gesagt, dass er zurückkommen werde und das Problem lösen wolle. Sein Vater habe ihn gewarnt und gesagt, dass er das auf keinen Fall tun solle. Er habe gesagt, dass er es nicht ertragen könnte, das tote Gesicht des Beschwerdeführers zu sehen. Zuletzt, als der Beschwerdeführer Kontakt gehabt habe, habe er erfahren, dass seine Schwestern brutalst gefoltert werden würden und er auf keinen Fall zurückkehren solle. Sie würden wollen, dass zumindest der Beschwerdeführer am Leben sei. Danach habe er den Kontakt verloren, da ihm sein Handy nicht zurückgegeben worden sei. Der letzte Satz seines Vaters sei gewesen, dass er nicht zurückkehren solle, da er ansonsten getötet werde. Der Beschwerdeführer habe mit seinem Handy den Standort aufdecken und schauen wollen, wo er sei. Er habe dies aber nicht können, da er sein Handy nicht gehabt habe. Er sei mitten auf dem Weg ausgesetzt worden. Er sei zwei Tage hin und her gegangen. Er sei in einem Tempel in Wien gewesen und dort sei ihm gesagt worden, dass er hier her (gemeint: in das Asylquartier) kommen und einen Asylantrag stellen müsse. Das Leben des Beschwerdeführers sei in Gefahr. Sein Vater sei des Öfteren von der Familie des Mädchens mitgenommen und gefoltert worden. Seine zwei Schwestern würden ebenso belästigt werden. Es seien bereits zwei Anschläge auf sie verübt worden.
Zu den Lebensumständen in Österreich führte der Beschwerdeführer an, dass er hier keine Verwandtschaft habe und zu niemandem in einem Abhängigkeitsverhältnis stehe.
Dem Beschwerdeführer wurde am Ende der Einvernahme die Möglichkeit geboten, in die aktuellen Länderberichte zur Situation in Indien Einsicht zu nehmen und eine diesbezügliche Stellungnahme abzugeben. Der Beschwerdeführer gab hierzu zu Protokoll, dass sein Vater und seine Schwester belästigt werden würden. Der Vater des Mädchens habe eine hohe Macht, da er in der Politik tätig sei. Er habe guten Kontakt zu hohen Behörden. Er habe seine eigene Tochter töten lassen. Der Beschwerdeführer sei ein Fremder, der angeblich seine Ehre zerstört habe. Natürlich erwarte ihn der Tod bei der Rückkehr. Man sehe auch im Internet, dass es in Indien nicht sicher sei. Es gebe viele Fälle. Vor kurzem habe es den Dr. Prinkal – Fall gegeben. Man habe Geld genommen und dann habe man sie verbrannt. Der Bruder habe guten Kontakt zu einem bekannten Gangster in Indien.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wurde ein einjähriges Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt VI.).
4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und wurde nach Wiederholung der Fluchtgründe insbesondere ausgeführt, dass bekannt sei, dass Beziehungen unter unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in Indien mit massiven Problemen verbunden sein könnten. Es sei von der belangten Behörde nicht in Abrede gestellt worden, dass der Beschwerdeführer aus dem „Punjab“ stamme und der Religionsgemeinschaft der „Sikh“ angehöre, weshalb er aufgrund der Unabhängigkeitsbestrebungen in seiner Heimatregion verfolgt worden sei.
5. Mit Strafverfügung vom 12.02.2020, Zl. XXXX , wurde über den Beschwerdeführer gemäß § 121 Abs. 2 zweiter Fall FPG iVm § 15a AsylG eine Geldstrafe von EUR 100,- verhängt, weil er am 25.01.2020 seine Meldeverpflichtung gemäß § 15a Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG verletzt habe.
6. Am 11.02.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche, mündliche Verhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist entschuldigt ferngeblieben. Im Rahmen der Beschwerdeverhaltung wurde der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen, Rückkehrbefürchtungen und Integrationsbemühungen in Österreich befragt und ihm eine Frist von zwei Wochen zur Abgabe einer Stellungnahme zu den übermittelten Länderberichten gewährt (siehe Verhandlungsprotokoll OZ 7Z).
7. Am 24.02.2021 brachte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu den Länderberichten ein und führte im Wesentlichen aus, dass diese keine genauen Informationen zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie enthalten würden. In Indien sei durch die COVID-19-Pandemie Chaos ausgebrochen, in welchem der Beschwerdeführer sich nicht zurechtfinden würde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Indien aus dem Bundesstaat Rajasthan, gehört der Religionsgemeinschaft der Hindus und der Volksgruppe bzw. Kaste der Brahmanen an. Seine Identität steht nicht fest. Er spricht die Sprachen Hindi, Punjabi und Englisch. Im Herkunftsstaat besuchte er zwölf Jahre die Grundschule. Der Beschwerdeführer hat im gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern und seinen zwei Schwestern gelebt. Seine Eltern besitzen ein eigenes Haus und ein Restaurant, in dem der Beschwerdeführer mitgeholfen hat. Die finanzielle Lage des Beschwerdeführers war gut. Der Beschwerdeführer ist kinderlos und gesund.
Die Verfolgungsbehauptungen des Beschwerdeführers sind nicht glaubhaft. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer in Indien eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende Verfolgung droht. Er hatte keine persönlichen Probleme mit den Behörden im Heimatland. Dem Beschwerdeführer steht in Indien eine inländische Schutz- bzw. Fluchtalternative offen.
Der Beschwerdeführer hat keine Verwandtschaft in Österreich, keinen Deutschkurs besucht und spricht auf sehr elementarem Niveau Deutsch. Er hat auch keine sonstigen Kurse besucht und ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Er hat in Österreich Bekannte und eine Freundin, mit der kein gemeinsamer Haushalt besteht. Der Beschwerdeführer bezieht keine Leistungen aus der Grundversorgung. Er hat als Zeitungszusteller gearbeitet und erhält von Freunden im Ausland Geld für Aktienberatungen. Er ist strafgerichtlich unbescholten. Der Beschwerdeführer steht im erwerbsfähigen Alter. Die Eltern und die beiden Schwestern des Beschwerdeführers leben in der Heimatstadt des Beschwerdeführers. Dort hat der Beschwerdeführer auch noch einen Onkel, der in einer Baufirma arbeitet, und zwei Cousins. Er hat Kontakt mit seiner Familie.
Mit Strafverfügung vom 12.02.2020, Zl. XXXX , wurde über den Beschwerdeführer gemäß § 121 Abs. 2 zweiter Fall FPG iVm § 15a AsylG eine Geldstrafe von EUR 100,- verhängt, weil er am 25.01.2020 seine Meldeverpflichtung gemäß § 15a Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG verletzt hat. Der Beschwerdeführer erschien selbständig am 26.01.2020 und gab an, vergessen zu haben, sich am Vortag zu melden.
1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat wird Folgendes festgehalten:
1. COVID-19
Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängte die indische Regierung am 25. März 2020 eine Ausgangssperre über das gesamte Land, die nur in Einzelfällen (Herstellung lebensnotwendiger Produkte und Dienstleistungen, Einkaufen für den persönlichen Bedarf, Arztbesuche, usw.) durchbrochen werden durfte. Trotz der Ausgangssperre sanken die Infektionszahlen nicht. Seit der ersten Aufsperrphase, die am 8. Juni 2020 begann, schießt die Zahl der Infektionen noch steiler als bisher nach oben. Größte Herausforderung während der Krise waren die Millionen von Wanderarbeitern, die praktisch über Nacht arbeitslos wurden, jedoch auf Grund der Ausgangssperre nicht in ihre Dörfer zurückkehren konnten. Viele von ihnen wurden mehrere Wochen in Lagern unter Quarantäne gestellt (also de facto eingesperrt), teilweise mit nur schlechter Versorgung (ÖB 9.2020). Nach Angaben des indischen Gesundheitsministeriums vom 11. Oktober 2020 wurden seit Beginn der Pandemie mehr als sieben Millionen Infektionen mit SARS-CoV-2 registriert. Die täglichen offiziellen Fallzahlen stiegen zwar zuletzt weniger schnell als noch im September, die Neuinfektionen nehmen in absoluten Zahlen jedoch schneller zu als in jedem anderen Land der Welt. Medien berichten in einigen Teilen des Landes von einem Mangel an medizinischem Sauerstoff in Krankenhäusern (BAMF 12.10.2020).
Sorge bereitet die zunehmende Ausbreitung von COVID-19-Infektionen in Kleinstädten und ländlichen Gebieten, wo der Zugang zur medizinische Versorgung teilweise nur rudimentär oder gar nicht vorhanden ist (WKO 10.2020). Durch die COVID-Krise können Schätzungen zu Folge bis zu 200 Mio. in die absolute Armut gedrängt werden. Ein Programm, demzufolge 800 Mio. Menschen gratis Lebensmittelrationen erhalten, wurde bis November 2020 verlängert. Die Ausmaße dieses Programms verdeutlichen, wie hart Indien von der COVID-Pandemie und dem damit verbundenen Einbruch der Wirtschaft betroffen ist (ÖB 9.2020).
Quellen:
? BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (12.10.2020): https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw42-2020.pdf;jsessionid=91E533F0FC7A0F35C0751A9F00F3D711.internet572?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 12.10.2020
? ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
? WKO - Aussenwirtschaft Austria (10.2020): Aussen Wirtschaft Wirtschaftsbereich Indien, WIRTSCHAFTSBERICHT Indien (Q1–Q22020), https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/indien-wirtschaftsbericht.pdfhttps://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/indien-wirtschaftsbericht.pdf, Zugriff 21.10.2020
2. Rechtsschutz / Justizwesen
In Indien sind viele Grundrechte und -freiheiten verfassungsmäßig verbrieft und die verfassungsmäßig garantierte unabhängige indische Justiz bleibt vielmals wichtiger Rechtegarant. Die häufig überlange Verfahrensdauer aufgrund überlasteter und unterbesetzter Gerichte sowie verbreitete Korruption, vor allem im Strafverfahren, schränken die Rechtssicherheit aber deutlich ein (AA 23.9.2020). Eine systematisch diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis lässt sich nicht feststellen, allerdings sind vor allem die unteren Instanzen nicht frei von Korruption. Vorurteile z.B. gegenüber Angehörigen niederer Kasten oder Indigenen dürften zudem eine nicht unerhebliche Rolle spielen (AA 23.9.2020).
Das Gerichtswesen ist von der Exekutive getrennt (FH 4.3.2020). Das Justizsystem gliedert sich in den Supreme Court, das Oberste Gericht mit Sitz in Delhi; das als Verfassungsgericht die Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Unionsstaaten regelt. Es ist auch Appellationsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen wie etwa bei Todesurteilen. Der High Court bzw. das Obergericht besteht in jedem Unionsstaat. Es ist Kollegialgericht als Appellationsinstanz sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen und führt auch die Dienst- und Personalaufsicht über die Untergerichte des Staates aus, um so die Justiz von den Einflüssen der Exekutive abzuschirmen. Subordinate Civil and Criminal Courts sind untergeordnete Gerichtsinstanzen in den Distrikten der jeweiligen Unionsstaaten und nach Zivil- und Strafrecht aufgeteilt. Fälle werden durch Einzelrichter entschieden. Richter am District und Sessions Court entscheiden in Personalunion sowohl über zivilrechtliche als auch strafrechtliche Fälle (als District Judge über Zivilrechtsfälle, als Sessions Judge über Straffälle). Unterhalb des District Judge gibt es noch den Subordinate Judge, unter diesem den Munsif für Zivilsachen. Unter dem Sessions Judge fungiert der 1st Class Judicial Magistrate und, unter diesem der 2nd Class Judicial Magistrate, jeweils für minder schwere Strafsachen (ÖB 9.2020).
Das Gerichtswesen ist auch weiterhin überlastet und verfügt nicht über moderne Systeme zur Fallbearbeitung. Der Rückstau bei Gericht führt zu langen Verzögerungen oder der Vorenthaltung von Rechtsprechung. Eine Analyse des Justizministeriums vom September 2018 hat ergeben, dass von insgesamt 1.079 Planstellen an den 24 Obergerichten des Landes 414 Stellen nicht besetzt waren (USDOS 11.3.2020). Die Regeldauer eines Strafverfahrens (von der Anklage bis zum Urteil) beträgt mehrere Jahre; in einigen Fällen dauern Verfahren bis zu zehn Jahre (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 23.9.2020). Auch der Zeugenschutz ist mangelhaft, was dazu führt, dass Zeugen aufgrund von Bestechung und/oder Bedrohung, vor Gericht häufig nicht frei aussagen (AA 23.9.2020).
Insbesondere auf unteren Ebenen der Justiz ist Korruption verbreitet und die meisten Bürger haben große Schwierigkeiten, ihr Recht bei Gericht durchzusetzen. Das System ist rückständig und stark unterbesetzt, was zu langer Untersuchungshaft für eine große Zahl von Verdächtigen führt. Vielen von ihnen bleiben so länger im Gefängnis, als es der eigentliche Strafrahmen wäre (FH 4.3.2020). Die Dauer der Untersuchungshaft ist entsprechend zumeist exzessiv lang. Außer bei mit Todesstrafe bedrohten Delikten, soll der Haftrichter nach Ablauf der Hälfte der drohenden Höchststrafe eine Haftprüfung und eine Freilassung auf Kaution anordnen. Allerdings nimmt der Betroffene mit einem solchen Antrag in Kauf, dass der Fall über lange Zeit gar nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile sind ca. 70 Prozent aller Gefangenen Untersuchungshäftlinge, viele wegen geringfügiger Taten, denen die Mittel für eine Kautionsstellung fehlen (AA 23.9.2020).
In der Verfassung verankerte rechtsstaatliche Garantien (z.B. das Recht auf ein faires Verfahren) werden durch eine Reihe von Sicherheitsgesetzen eingeschränkt. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt (AA 23.9.2020).
Die Inhaftierung eines Verdächtigen durch die Polizei ohne Haftbefehl darf nach den allgemeinen Gesetzen nur 24 Stunden dauern. Eine Anklageerhebung soll bei Delikten mit bis zu zehn Jahren Strafandrohung innerhalb von 60, in Fällen mit höherer Strafandrohung innerhalb von 90 Tagen erfolgen. Diese Fristen werden regelmäßig überschritten. Festnahmen erfolgen jedoch häufig aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr sowie im Rahmen der Sondergesetze zur inneren Sicherheit, z.B. aufgrund des Gesetzes über nationale Sicherheit („National Security Act“, 1956) oder des lokalen Gesetzes über öffentliche Sicherheit („Jammu and Kashmir Public Safety Act“, 1978). Festgenommene Personen können auf Grundlage dieser Gesetze bis zu einem bzw. zwei Jahren (in Fällen des Public Safety Act) ohne Anklage in Präventivhaft gehalten werden. Auch zur Zeugenvernehmung können gemäß Strafprozessordnung Personen über mehrere Tage festgehalten werden, sofern eine Fluchtgefahr besteht. Fälle von Sippenhaft sind nicht bekannt (AA 23.9.2020).
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet werden, insbesondere um ein Geständnis zu erlangen. Das gilt insbesondere bei Fällen mit terroristischem oder politischem Hintergrund oder solchen mit besonderem öffentlichem Interesse. Es ist nicht unüblich, dass Häftlinge misshandelt werden, in einigen Fällen sogar mit Todesfolge. Folter durch Polizeibeamte, Armee und paramilitärische Einheiten bleibt häufig ungeahndet, weil die Opfer ihre Rechte nicht kennen oder eingeschüchtert werden (AA 23.9.2020).
Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung, ausgenommen bei Anwendung des „Unlawful Activities Prevention Act (UAPA)“, und sie haben das Recht, ihren Anwalt frei zu wählen. Das Strafgesetz sieht öffentliche Verhandlungen vor, außer in Verfahren, in denen die Aussagen Staatsgeheimnisse oder die Staatssicherheit betreffen können. Es gibt kostenfreie Rechtsberatung für bedürftige Angeklagte, aber in der Praxis ist der Zugang zu kompetenter Beratung oft begrenzt (USDOS 11.3.2020). Gerichte sind verpflichtet Urteile öffentlich zu verkünden und es gibt effektive Wege der Berufung auf beinahe allen Ebenen der Justiz. Angeklagte haben das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht schuldig zu bekennen (USDOS 11.3.2020).
Gerichtliche Ladungen in strafrechtlichen Angelegenheiten sind im Criminal Procedure Code 1973 (CrPC, Chapter 4, §§61-69), in zivilrechtlichen Angelegenheiten im Code of Civil Procedure 1908/2002 geregelt. Jede Ladung muss schriftlich, in zweifacher Ausführung ausgestellt sein, vom vorsitzenden Richter unterfertigt und mit Gerichtssiegel versehen sein. Ladungen werden gemäß CrPC prinzipiell durch einen Polizeibeamten oder durch einen Gerichtsbeamten an den Betroffenen persönlich zugestellt. Dieser hat den Erhalt zu bestätigen. In Abwesenheit kann die Ladung an ein erwachsenes männliches Mitglied der Familie übergeben werden, welches den Erhalt bestätigt. Falls die Ladung nicht zugestellt werden kann, wird eine Kopie der Ladung an die Residenz des Geladenen sichtbar angebracht. Danach entscheidet das Gericht, ob die Ladung rechtmäßig erfolgt ist, oder ob eine neue Ladung erfolgen wird. Eine Kopie der Ladung kann zusätzlich per Post an die Heim- oder Arbeitsadresse des Betroffenen eingeschrieben geschickt werden. Falls dem Gericht bekannt wird, dass der Betroffene die Annahme der Ladung verweigert hat, gilt die Ladung dennoch als zugestellt. Gemäß Code of Civil Procedure kann die Ladung des Gerichtes auch über ein gerichtlich genehmigtes Kurierservice erfolgen (ÖB 9.2020).
Indische Einzelpersonen - oder NGOs im Namen von Einzelpersonen oder Gruppen - können sogenannte Rechtsstreitpetitionen von öffentlichem Interesse („Public Interest Litigation petitions“, PIL) bei jedem Gericht einreichen, oder beim Obersten Bundesgericht, dem „Supreme Court“ einbringen, um rechtliche Wiedergutmachung für öffentliche Rechtsverletzungen einzufordern (CM 2.8.2017).
Im ländlichen Indien gibt es auch informelle Ratssitzungen, deren Entscheidungen manchmal zu Gewalt gegen Personen führt, die soziale Regeln brechen - was besonders Frauen und Angehörige unterer Kasten betrifft (FH 4.3.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020
? CM – Citizen Matters (2.8.2017): A guide to filing a Public Interest Litigation (PIL), http://citizenmatters.in/a-guide-to-filing-a-public-interest-litigation-pil-4539, Zugriff 13.8.2019
? Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025925.html, Zugriff 9.3.2020
? ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
? USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
3. Sicherheitsbehörden
Die indische Polizei (Indian Police Service) ist keine direkte Strafverfolgungs- oder Vollzugsbehörde (BICC 7.2020) und untersteht den Bundesstaaten (AA 23.9.2020). Sie fungiert vielmehr als Ausbildungs- und Rekrutierungsstelle für Führungsoffiziere der Polizei in den Bundesstaaten. Im Hinblick auf die föderalen Strukturen ist die Polizei dezentral in den einzelnen Bundesstaaten organisiert. Die einzelnen Einheiten haben jedoch angesichts eines nationalen Polizeigesetzes, zahlreichen nationalen Strafrechten und der zentralen Rekrutierungsstelle für Führungskräfte eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Allgemein ist die Polizei mit der Strafverfolgung, Verbrechensprävention und -bekämpfung sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut und übt gleichzeitig eine teilweise Kontrolle über die verschiedenen Geheimdienste aus. Innerhalb der Polizei gibt es eine Kriminalpolizei (Criminal Investigation Department - CID), in die wiederum eine Sondereinheit (Special Branch) integriert ist. Während erstere mit nationalen und die Bundesstaaten übergreifenden Verbrechen betraut ist, hat die Sondereinheit Informationsbeschaffung und Überwachung jeglicher subversiver Elemente und Personen zur Aufgabe. In fast allen Bundesstaaten sind spezielle Polizeieinheiten aufgestellt worden, die sich mit Frauen und Kindern beschäftigen. Kontrolliert wird ein Großteil der Strafverfolgungsbehörden vom Innenministerium (Ministry of Home Affairs) (BICC 7.2020).
Ein Mangel an Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Polizei entsteht neben den strukturellen Defiziten auch durch häufige Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtliche Tötungen und Drohungen, die mutmaßlich durch die Polizei verübt wurden (BICC 7.2020; vgl. FH 4.3.2020). Es gab zwar Ermittlungen und Verfolgungen von Einzelfällen, aber eine unzureichende Durchsetzung wie auch ein Mangel an ausgebildeten Polizeibeamten tragen zu einer geringen Effizienz bei (USDOS 11.3.2020). Es mangelt nach wie vor an Verantwortlichkeit für Misshandlung durch die Polizei und an der Durchsetzung von Polizeireformen (HRW 14.1.2020).
Das indische Militär ist der zivilen Verwaltung unterstellt und hat in der Vergangenheit wenig Interesse an einer politischen Rolle gezeigt. Der Oberbefehl obliegt dem Präsidenten. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Armee zwar die „Beschützerin der Nation“, aber nur im militärischen Sinne (BICC 7.2020). Das Militär kann im Inland eingesetzt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit notwendig ist (AA 23.9.2020; vgl. BICC 7.2020). Paramilitärischen Einheiten werden als Teil der Streitkräfte, vor allem bei internen Konflikten eingesetzt, so in Jammu und Kaschmir sowie in den nordöstlichen Bundesstaaten. Bei diesen Einsätzen kommt es oft zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen (BICC 7.2020).
Den Sicherheitskräften, sowohl der Polizei, den paramilitärischen Einheiten als auch dem Militär, werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei ihren Einsätzen in den Krisengebieten des Landes nachgesagt (BICC 7.2020).
Für den Einsatz von Streitkräften - vor allem von Landstreitkräften - in Unruhegebieten und gegen Terroristen wird als Rechtsgrundlage der „Armed Forces Special Powers Act“ (AFSPA) zur Aufrechterhaltung von „Recht und Ordnung“ herangezogen (USDOS 11.3.2020). Das Gesetz gibt den Sicherheitskräften in „Unruhegebieten“ weitgehende Befugnisse zum Gebrauch von Gewalt, zu Festnahmen ohne Haftbefehl und Durchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl (AA 23.9.2020; vgl. FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020). Das Gesetz zur Verhinderung ungesetzlicher Aktivitäten (Unlawful Activities Prevention Act, UAPA) gibt den Behörden die Möglichkeit, Personen in Fällen im Zusammenhang mit Aufständen oder Terrorismus festzuhalten (USDOS 11.3.2020). Den Sicherheitskräften wird weitgehende Immunität gewährt (AA 23.9.2020; vgl. FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020).
Im Juli 2016 ließ das Oberste Gericht in einem Zwischenurteil zum AFSPA in Manipur erste Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes erkennen. Der Schutz der Menschenrechte sei auch unter den Regelungen des AFSPA unbedingt zu gewährleisten. Das umstrittene Sonderermächtigungsgesetz wurde im April 2018 für den Bundesstaat Meghalaya aufgehoben, im Bundesstaat Arunachal Pradesh auf acht Polizeidistrikte beschränkt und ist seit April 2019 in drei weiteren Polizeidistrikten von Arunachal Pradesh teilweise aufgehoben. Unverändert in Kraft ist es in folgenden als Unruhegebiete geltenden Staaten: Assam, Nagaland sowie in Teilen von Manipur. Für den Bundesstaat Jammu & Kashmir existiert eine eigene Fassung (AA 23.9.2020).
Die unter anderem auch in den von linksextremistischen Gruppen (sogenannten Naxaliten) betroffenen Bundesstaaten Zentralindiens eingesetzten paramilitärischen Einheiten Indiens unterstehen zu weiten Teilen dem Innenministerium (AA 23.9.2020). Dazu zählen insbesondere die National Security Guard (NSG), aus Angehörigen des Heeres und der Polizei zusammengestellte Spezialtruppe für Personenschutz, auch als „Black Cat“ bekannt, die Rashtriya Rifles, eine Spezialtruppe zum Schutz der Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen bei inneren Unruhen und zur Bekämpfung von bewaffneten Rebellionen, die Central Reserve Police Force (CRPF) - die Bundesreservepolizei, eine militärisch ausgerüstete Polizeitruppe für Sondereinsätze - die Border Security Force (BSF - Bundesgrenzschutz) als größte und am besten ausgestattete Miliz zum Schutz der Grenzen zu Pakistan, Bangladesch und Myanmar. Sie wird aber auch zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in anderen Landesteilen eingesetzt. Die sogenannten Assam Rifles sind zuständig für Grenzverteidigung im Nordosten - die Indo-Tibetan Border Force (ITBP) werden als Indo-Tibetische Grenzpolizei, die Küstenwache und die Railway Protective Force zum Schutz der nationalen Eisenbahn und die Central Industrial Security Force zum Werkschutz der Staatsbetriebe verantwortlich (ÖB 9.2020). Besonders in Unruhegebieten haben die Sicherheitskräfte zur Bekämpfung sezessionistischer und terroristischer Gruppen weitreichende Befugnisse, die oft exzessiv genutzt werden (AA 23.9.2020).
Die Grenzspezialkräfte („Special Frontier Force") unterstehen dem Büro des Premierministers. Die sogenannten Grenzspezialkräfte sind eine Eliteeinheit, die an sensiblen Abschnitten im Grenzgebiet zu China eingesetzt werden. Sie agieren im Rahmen der Geheimdienste, des sogenannten Aufklärungsbüros ("Intelligence Bureau" - Inlandsgeheimdienst) und dem Forschungs- und Analyseflügel ("Research and Analysis Wing“ - Auslandsgeheimdienst) (War Heros of India, 15.1.2017).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (23.9.2020): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2038579/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Juni_2020%29%2C_23.09.2020.pdf, Zugriff 15.10.2020
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4. Korruption
Korruption ist weit verbreitet (AA 23.9.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Indien scheint im Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index) von Transparency International (TI) im Jahre 2019 mit einer Bewertung von 40 (von 100) (0 sehr korrupt, 100 kaum korrupt) auf dem 80. Rang von 180 Staaten auf (TI 2019).
NGOs berichten, dass üblicherweise Bestechungsgelder bezahlt werden, um Dienstleistungen wie Polizeischutz, Schuleinschreibung, Zugang zu Wasserversorgung oder Beihilfen zu beschleunigen (USDOS 13.3.2019). Die unteren Bereiche des Gerichtswesens sind von Korruption betroffen und die meisten Bürger haben Schwierigkeiten, Recht durch die Gerichte zu erhalten (FH 3.4.2020). Korruption ist auf allen Regierungsebenen vertreten (USDOS 11.3.2020).
Obwohl Politiker und Beamte regelmäßig bei der Entgegennahme von Bestechungsgeldern erwischt werden, gibt es zahlreiche Korruptionsfälle, die unbemerkt und unbestraft bleiben (FH 4.3.2020). Das Gesetz sieht Strafen für Korruption im öffentlichen Dienst vor, in der Praxis kommen Staatsdiener mit korrupten Praktiken häufig straflos davon (USDOS 11.3.2020).
Die breite Öffentlichkeit hat im Allgemeinen Zugang zu Informationen über die Regierungsgeschäfte, dennoch ist der gesetzliche Rahmen, welcher Transparenz gewährleisten soll, in den letzten Jahren zunehmend unter Druck geraten. Die Änderungen des Whistleblowers Protection Act seit seiner Verabschiedung im Jahr 2014 wurden dahingehend kritisiert, dass sie die Effektivität des Gesetzes aushöhlen, die ohnehin als begrenzt eingestuft wurde. Das Gesetz über das Recht auf Information (RTI) von 2005 wird weithin genutzt, um die Transparenz zu erhöhen und korrupte Aktivitäten aufzudecken. Jedes Jahr werden Millionen von Anträgen auf der Grundlage dieses Gesetzes eingereicht. Laut der Menschenrechtsinitiative des Commonwealth wurden jedoch mehr als 80 Nutzer des Informationsrechts und Aktivisten ermordet und Hunderte wurden angegriffen oder bedroht (FH 4.3.2020).
Gemäß Angaben der Zentralen Untersuchungsbehörde (Central Bureau of Investigation - CBI) unterhält jeder Bundesstaat in Indien mindestens ein Büro unter der Leitung eines Polizeichefs, in welchem Beschwerden per Post, Fax oder persönlich eingereicht werden können. Dabei kann auf Wunsch auch die Identität des Beschwerdeführers geheim gehalten werden. 2018 und 2019 wurden 43.946 Beschwerden im Zusammenhang Korruption registriert. 41.775 Beschwerden wurden abgelehnt. Im Untersuchungszeitraum zwischen Jänner und Anfang Mai 2019 wurden vom CBI insgesamt 412 Korruptionsfälle registriert (CBI o.D.; vgl. USDOS 11.3.2020).
Eine von Transparency International und Local Circles durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass ein Einsatz von Bestechungsgeldern immer noch das effizienteste Mittel darstellt, um die Arbeit von Regierungsstellen abzuwickeln. Die Zahl jener Personen, die zugaben, ein Bestechungsgeld bei Behörden erlegt zu haben, lag 2019 bei 51 Prozent (2017: 45 Prozent). Die drei korruptionsanfälligsten Bereiche sind Grundbucheintragungen und Grundstücksangelegenheiten, sowie die Polizei und die kommunalen Vertretungen (IT, 26.11.2019; vgl. IT 11.10.2018).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (23.9.2020): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2038579/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Juni_2020%29%2C_23.09.2020.pdf, Zugriff 16.10.2020
? CBI (o.D.): Join us in Fighting Corruption, http://www.cbi.gov.in/contact.php, Zugriff 7.11.2018
? Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025925.html, Zugriff 9.3.2020
? IT – India Times (26.11.2019): Incidents of bribery in India reduced by 10 pc since last year: Survey., https://www.indiatoday.in/india/story/incidents-of-bribery-in-india-reduced-by-10-pc-since-last-year-survey-1622859-2019-11-26, Zugriff 17.3.2020
? IT – India Times (11.10.2018): Bribery records 11 per cent growth in one year, finds survey, https://www.indiatoday.in/india/story/56-per-cent-paid-bribe-in-last-one-year-91-per-cent-don-t-know-about-anti-corruption-helpline-survey-1360392-2018-10-11, Zugriff 7.11.2018
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? TI - Transparency International (2018): Corruption Perceptions Index 2017, https://www.transparency.org/news/feature/corruption_perceptions_index_2017#regional, Zugriff 7.11.2018
? TI - Transparency International (2017): Corruption Perceptions Index 2016, https://www.transparency.org/news/feature/corruption_perceptions_index_2016, Zugriff 7.11.2018
? USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
5. Allgemeine Menschenrechtslage
Indien hat 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet (AA 23.9.2020). Die nationale Gesetzgebung in Menschenrechtsangelegenheiten ist breit angelegt. Alle wichtigen Menschenrechte sind verfassungsrechtlich garantiert (ÖB 9.2020). Die Umsetzung dieser Garantien ist allerdings häufig nicht in vollem Umfang gewährleistet (AA 23.9.2020). Eine Reihe von Sicherheitsgesetzen schränken die rechtsstaatlichen Garantien, z.B. das Recht auf ein faires Verfahren, ein. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt. Besonders in Unruhegebieten haben die Sicherheitskräfte zur Bekämpfung sezessionistischer und terroristischer Gruppen weitreichende Befugnisse, die oft exzessiv genutzt werden. Es gibt glaubhafte Berichte über extralegale Tötungen (AA 23.9.2020).
Menschenrechtsprobleme umfassen unter anderem Hinweise auf willkürliche Hinrichtungen, Verschleppung, Folter und Vergewaltigung. Korruption bleibt weit verbreitet. Gesellschaftliche Gewalt auf der Grundlage von Konfession und Kaste gibt nach wie vor Anlass zur Sorge. Muslime und Dalit-Gruppen aus den unteren Kasten sind auch weiterhin am stärksten gefährdet (USDOS 11.3.2020).
Eine verallgemeinernde Bewertung der Menschenrechtslage ist für Indien kaum möglich: Drastische Grundrechtsverletzungen und Rechtsstaatsdefizite koexistieren mit weitgehenden bürgerlichen Freiheiten, fortschrittlichen Gesetzen und engagierten Initiativen der Zivilgesellschaft. Vor allem die Realität der unteren Gesellschaftsschichten, die die Bevölkerungsmehrheit stellen, ist oftmals von Grundrechtsverletzungen und Benachteiligung geprägt (AA 23.9.2020). Ursache vieler Menschenrechtsverletzungen in Indien bleiben tief verwurzelte soziale Praktiken, nicht zuletzt das Kastenwesen (AA 23.9.2020). Frauen, Mitglieder ethnischer und religiöser Minderheiten sowie niederer Kasten werden systematisch diskriminiert (BICC 7.2020). Während die Bürger- und Menschenrechte von der Regierung größtenteils respektiert werden, ist die Lage in Regionen, in denen es interne Konflikte gibt, teilweise sehr schlecht. Dies trifft insbesondere auf Jammu und Kaschmir und den Nordosten des Landes zu. Den Sicherheitskräften, sowohl der Polizei, den paramilitärischen Einheiten als auch dem Militär, werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei ihren Einsätzen in den Krisengebieten des Landes angelastet. Dem Militär und den paramilitärischen Einheiten werden Entführungen, Folter, Vergewaltigungen, willkürliche Festnahmen und außergerichtliche Hinrichtungen vorgeworfen. Insbesondere hinsichtlich der Spannungen zwischen Hindus und Moslems, welche im Jahr 2002 zu Tausenden von Todesfällen führten, wird den Sicherheitskräften Parteilichkeit vorgeworfen. Die Stimmung wird durch hindunationalistische Parteien angeheizt, welche auch in der Regierung vertreten sind (BICC 7.2020; vgl. USDOS 11.3.2020, FH 4.3.2020, ÖB 9.2020).
In manchen Bundesstaaten schränkt das Gesetz die religiöse Konversion ein (USDOS 10.6.2020), Einschränkungen in Bezug auf die Bewegungsfreiheit dauern an (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (23.9.2020): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2038579/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Juni_2020%29%2C_23.09.2020.pdf, Zugriff 16.10.2020
? BICC - Bonn International Centre for Conversion (7.2020): Informationsdienst - Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte: Länderinformation Indien, http://ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/indien/2020_Indien.pdf, Zugriff 20.10.2020
? FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025925.html, Zugriff 18.3.2020
? ÖB – Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020: Asylländerbericht Indien
? USDOS – US Department of State (10.6.2020): 2019 Report on International Religious Freedom: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2031372.html, Zugriff 22.7.2020
? USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
6. Religionsfreiheit
Die Verfassung garantiert Religionsfreiheit (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 23.9.2020), sieht einen säkularen Staat vor, fordert den Staat auf, alle Religionen unparteiisch zu behandeln und verbietet Diskriminierung auf religiöser Basis. Nationales und bundesstaatliches Recht gewähren die Religionsfreiheit jedoch unter dem Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral (USDOS 10.6.2020). Religionsfreiheit wird im Allgemeinen auch in der Praxis respektiert (FH 4.3.2020) und kaum eingeschränkt (AA 23.9.2020). Das friedliche Nebeneinander im multiethnischen und multireligiösen Indien ist zwar die Norm, allerdings sind in einigen Unionsstaaten religiöse Minderheiten immer wieder das Ziel fundamentalistischer Fanatiker, oft auch mit Unterstützung lokaler Politiker (ÖB 9.2020). Trotz des insgesamt friedlichen Zusammenlebens existieren zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften Spannungen, die in der Vergangenheit auch zu massiven Gewaltausbrüchen („riots“, Pogrome) führten (AA 23.9.2020). Im Jahr 2019 verschlechterten sich die Bedingungen für Religionsfreiheit weiter drastisch und religiöse Minderheiten werden zunehmend bedroht. Nach der Wiederwahl der Bharatiya Janata Party (BJP) im Mai nutzte die nationale Regierung ihre gestärkte parlamentarische Mehrheit, um auf nationaler Ebene die Religionsfreiheit einzuschränken. Besonders betroffen von diesen Maßnahmen sind Angehörige der Muslime (USCIRF 28.04.2020). Berichten zufolge kommt es zu religiös motivierten Diskriminierungen, Morden, Überfällen, Unruhen, Zwangskonversionen, Aktionen, die das Recht des Einzelnen auf Ausübung seiner religiösen Überzeugung einschränken sollen sowie zu Diskriminierung und Vandalismus (USDOS 10.6.2020). In den letzten Jahren häufen sich Berichte, wonach die Religionszugehörigkeit noch mehr als zuvor zu einem bestimmenden Identitätsmerkmal für den Einzelnen in der indischen Gesellschaft wird, wodurch Angehörige religiöser Minderheiten ein Gefühl des Ausgeschlossen-Werdens entwickeln (AA 23.9.2020). Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 9.2020).
Die größten religiösen Gruppen, nach ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung bei der Volkszählung aus dem Jahr 2011, sind Hindus (79,8 Prozent), Muslime (14,2 Prozent), Christen (2,3 Prozent) und Sikhs (1,7 Prozent) (CIA 9.10.2020). Muslime, Sikhs, Christen, Parsis, Janais und Buddhisten gelten als gesetzlich anerkannte Minderheitengruppen unter den religiösen Gruppierungen (USDOS 10.6.2020). Das Gesetz legt fest, dass die Regierung die Existenz dieser religiösen Minderheiten schützt und Konditionen für die Förderung ihrer individuellen Identitäten begünstigt. Bundesstaatliche Regierungen sind dazu befugt, religiösen Gruppen gesetzlich den Status von Minderheiten zuzuerkennen (USDOS 10.6.2020).
Die Gesetzgebung in mehreren Staaten mit hinduistischer Mehrheit verbietet religiöse Konversion, die aus Zwang oder „Verlockung“ erfolgt, was sehr weit ausgelegt werden kann, um Personen, die missionarisch tätig sind, zu verfolgen. Manche Bundesstaaten fordern für Konversion eine Genehmigung der Regierung (FH 4.3.2020). Neun der 28 Bundesstaaten haben Gesetze, die religiöse Konversion einschränken: Arunachal Pradesh, Chhattisgarh, Gujarat, Himachal Pradesh, Jharkhand, Madhya Pradesh, Odisha, Rajasthan und Uttarakhand. Ein solches Gesetz in Rajasthan, das 2008 verabschiedet wurde, wurde 2017 von der Zentralregierung zurückgewiesen und ist nach wie vor nicht implementiert. Im August 2019 fügte die Legislative des Bundesstaates Himachal Pradesh "Nötigung" der Liste der Konversionsverbrechen hinzu, die auch Bekehrung durch „Betrug“, „Gewalt“ und „Anstiftung“ umfassen. Die Definition von „Verführung“ wurde erweitert und umfasst nun auch „das Angebot einer Versuchung“ (USDOS 10.6.2020).
Die Nationale Kommission für Minderheiten, welcher Vertreter der sechs ausgewiesenen religiösen Minderheiten und der Nationalen Menschenrechtskommission angehören, untersucht Vorwürfe von religiöser Diskriminierung. Das Ministerium für Minderheitenangelegenheiten ist auch befugt, Untersuchungen anzustellen. Diese Stellen verfügen jedoch über keine Durchsetzungsbefugnisse, sondern legen ihre gewonnenen Erkenntnisse zu Untersuchungen auf Grundlage schriftlicher Klagen durch Beschwerdeführer bei, welche strafrechtliche oder zivilrechtliche Verstöße geltend machen, und legen ihre Ergebnisse den Strafverfolgungsbehörden zur Stellungnahme vor. 18 der 28 Bundesstaaten des Landes und das National Capital Territory of Delhi verfügen über staatliche Minderheitenkommissionen, die auch Vorwürfe religiöser Diskriminierung untersuchen (USDOS 10.6.2020).
Gewalt gegen religiöse Minderheiten, wurde 2017 in Indien zu einer zunehmenden Bedrohung (HRW 18.1.2018), doch hat es die Regierung verabsäumt, Richtlinien des Obersten Gerichtshofs zur Verhinderung, wie auch der Untersuchung von Angriffen auf religiöse Minderheiten und andere gefährdete Gemeinschaften, welche häufig von BJP-Anhängern angeführt werden, umzusetzen (HRW 14.1.2020). 2019 hat es die Regierung verabsäumt, die Vorgaben des Obersten Gerichtshofs zur Verhinderung und Aufklärung von Übergriffen des in vielen Fällen von Bharatiya Janata Party (BJP)-Anhängern angeführten Mobs auf religiöse Minderheiten und andere vulnerable Bevölkerungsgruppen umzusetzen (HRW 14.1.2020).
Personenstandsgesetze gelten nur für bestimmte Religionsgemeinschaften in Fragen der Ehe, Scheidung, Adoption und Vererbung. Das hinduistische, das christliche, das Parsi und das islamische Personenstandsgesetz sind rechtlich anerkannt und gerichtlich durchsetzbar (USDOS 10.6.2020).
Der Wahlsieg der Hindu-nationalistischen BJP im Jahr 2014 löste in der Öffentlichkeit eine intensive Diskussion über das Spannungsfeld zwischen den Werten einer säkularen Verfassung und einer in Teilen zutiefst religiösen Bevölkerung aus; und ging auch mit der Zunahme eines strammen (Hindu-) Nationalismus einher. Den erneuten deutlichen Wahlsieg der BJP 2019 sehen einzelne Gruppen daher mit Sorge (AA 23.9.2020). Die Datenlage zur Entwicklung von Hassverbrechen in Indien in den letzten Jahren ist uneinheitlich und erschwert eine genaue Einordnung. Die Zahl stieg von insgesamt 701 Vorfällen (116 Tote, 2138 Verletzte) im Jahr 2010 zunächst auf 823 Vorfälle (133 Tote, 2269 Verletzte) 2013 an, um dann nach einem Rückgang 2014 wieder auf 822 Vorfälle (111 Tote, 2384 Verletzte) im Jahr 2017 anzusteigen. Seit 2018 hat die Regierung bislang keine Zahlen vorgelegt (AA 23.9.2020). Nach Angaben des Innenministeriums (MHA) fanden zwischen 2008 und 2017 7.484 Vorfälle gemeinschaftlicher Gewalt statt, bei denen mehr als 1.100 Menschen getötet wurden. Daten des Innenministeriums für 2018 bis 2019 liegen nicht vor, doch halten Vorfälle kommunaler Gewalt an (USDOS 10.6.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (23.9.2020): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2038579/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Juni_2020%29%2C_23.09.2020.pdf, Zugriff 16.10.2020
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? CIA - Central Intelligence Agency (9.10.2020): The World Factbook - India, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/in.html, Zugriff 16.10.2020
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7. Muslime
Die mit Abstand größte religiöse Minderheit (rund 14,2 Prozent Gesamtbevölkerung) sind die Muslime (USDOS 10.6.2020). Sie sind weiterhin in wesentlichen Lebensbereichen (Gesundheit, Bildung, Arbeit) besonders häufig benachteiligt (AA 23.9.2020). Es gibt große muslimische Gemeinschaften in den Bundesstaaten Uttar Pradesh, Bihar, Maharashtra, West-Bengalen, Telangana, Karnataka und Kerala. Muslime machen 68,3 Prozent der Bevölkerung im ehemaligen Bundesstaat Jammu und Kaschmir aus, dem einzigen Staat, in dem Muslime die Mehrheit bildeten. Der Großteil der muslimischen Bevölkerung konzentriert sich im Kaschmirtal, während Jammu und Ladakh eine hinduistische bzw. buddhistische Mehrheit aufweisen (USDOS 10.6.2020).
Spannungen zwischen den beiden größten Glaubensgemeinschaften – den Hindus und den Muslimen haben eine lange Vergangenheit. Im Zuge der Erstarkung der BJP wird der Narrativ von nationalistischen Hindus in jene Richtung gelenkt, dass alle Nicht-Hindus keine echten Inder sein könnten und daher bekämpft oder unterdrückt werden müssten. Vor allem den Muslimen wird bei Kritik an der Regierung gerne das Prädikat eines „pakistanischen Spions“ umgehängt. Wichtige Initiativen der BJP-Regierung, wie u.a. die Abschaffung der Kaschmir-Autonomie, das neue Staatsbürgerschaftsgesetz oder der National Register of Citizens in Assam sind bewusst gegen die muslimische Minderheit gerichtet, auch wenn das von der Regierung in ihren offizielle Stellungnahmen freilich in Abrede gestellt wird (ÖB 9.2020).
Im Hinduismus gilt die Kuh als heilig. Der Schutz von Kühen wird von der BJP und der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) als zentrales politisches Anliegen propagiert. Artikel 48 der indischen Verfassung weist den Staat an, Maßnahmen zu ergreifen, um das Schlachten von Kühen und Kälbern zu verbieten. 21 Staaten kriminalisieren das Schlachten von Kühen in verschiedenen Formen (USCIRF 28.4.2020). Die Zentralregierung verfügte im Mai 2017, dass Rinder nur für den Einsatz im Ackerbau verkauft werden dürfen, was den Handel von Rindern als Schlachtvieh de facto verbot. Der Oberste Gerichtshof hat das Verbot im Juli 2017 ausgesetzt (FH 27.1.2018).
Mob-Angriffe gewalttätiger Hindu-Gruppen gegen Minderheitengemeinschaften, darunter auch Muslime, setzten sich das ganze Jahr über fort, wobei Gerüchte kursierten, die Opfer hätten Kühe für Rindfleisch gehandelt oder getötet. Die Behörden versäumen es oft, die Täter solcher "Kuhwachen", zu denen Tötungen, Mobgewalt und Einschüchterungen gehören, strafrechtlich zu verfolgen. Einigen NGOs zufolge schützen die Behörden die Täter oft vor Strafverfolgung und erheben Anklage gegen die Opfer (USDOS 10.6.2020; vgl. FH 4.3.2020, USCIRF 28.4.2020).
Muslime werfen der Bharatiya Janata Party (BJP) vor, im Namen der Religion begangene Gewalttaten zu dulden. Dazu zählen etwa von „Kuhrächern“ verübte Morde an Muslimen zum Schutz der im Hinduismus heiligen Kühe (FH 4.3.2020; vgl. DS 31.7.2019). Seit Mai 2015 wurden bei solchen Angriffen 50 Menschen getötet und mehr als 250 Menschen verletzt (HRW 14.1.2020).
Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Umsetzung der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts vor allem Muslime diskriminiere (SWP 2.1.2020; vgl. TG 26.2.2020) und machen die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewaltausbrüche verantwortlich, bei welchen Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet und hunderte verletzt worden sind (FAZ 26.2.2020; vgl. DW 27.2.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (23.9.2020): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2038579/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Juni_2020%29%2C_23.09.2020.pdf, Zugriff 16.10.2020
? DS – Der Standard (31.7.2019): Hindu-Extremisten verbrennen muslimischen Jugendlichen, https://www.derstandard.at/story/2000106904334/hindu-extremisten-verbrennen-muslimischen-jugendlichen, Zugriff 5.8.2019
? FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025925.html, Zugriff 18.3.2020
? FH - Freedom House (27.1.2018): Freedom in the World 2018 – India, https://www.ecoi.net/de/dokument/1142635.html, Zugriff 22.10.2018
? HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022689.html, Zugriff 13.3.2020
? ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
? USCIRF – US Commission on International Religious Freedom (28.4.2020): United States Commission on International Religious Freedom 2020 Annual Report; USCIRF – Recommended for Countries of Particular Concern (CPC): India, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028963/India.pdf, Zugriff 5.5.2020
? USDOS – US Department of State (10.6.2020): 2019 Report on International Religious Freedom: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2031372.html, Zugriff 22.7.2020
8. Bewegungsfreiheit
Das Gesetz gewährt landesweite Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Migration und Repatriierung, und die Regierung respektiert diese Rechte im Allgemeinen (USDOS 11.3.2020). Das staatliche Gewaltmonopol wird gebietsweise von den Aktivitäten der „Naxaliten“ in Frage gestellt. Abgesehen davon ist Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes gewährleistet (AA 23.9.2020).
Die Regierung lockerte Einschränkungen für ausländische Reisende in Bezug auf Reisen nach Arunachal Pradesh, Nagaland, Mizoram, Manipur und Teilen von Jammu und Kaschmir, außer für Ausländer aus Pakistan, China und Myanmar. Das Innenministerium und die Bundesstaatenregierungen verlangen vor Reiseantritt von den Bürgern spezielle Genehmigungen, um in bestimmte gesperrte Regionen bzw. Sperrzonen zu reisen (USDOS 11.3.2020).
Es gibt kein staatliches Melde- oder Registrierungssystem, sodass ein Großteil der Bevölkerung keinen Ausweis besitzt. Dies begünstigt die Niederlassung in einem anderen Landesteil im Falle von Verfolgung. Auch bei laufender strafrechtlicher Verfolgung ist nicht selten ein unbehelligtes Leben in ländlichen Bezirken eines anderen Landesteils möglich, ohne dass die Person ihre Identität verbergen muss. Die Einführung der Aadhaar-Karte im Jahre 2009 hat hieran nichts geändert, da die Registrierung nach wie vor auf freiwilliger Basis erfolgt (AA 23.9.2020).
In den großen Städten ist die Polizei jedoch personell und materiell besser ausgestattet, sodass die Möglichkeit, aufgespürt zu werden, dort größer ist. Bekannte Persönlichkeiten („high profile“ persons) können nicht durch einen Umzug in einen anderen Landesteil der Verfolgung entgehen, wohl aber weniger bekannte Personen („low profile“ people) (ÖB 9.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (23.9.2020): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/203