TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/31 W204 2195764-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.03.2021
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Entscheidungsdatum

31.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W204 2195764-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde des A XXXX XXXX I XXXX , geb. am XXXX .1996 alias XXXX .1994, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Mag. Jasmin Gerges, Mag. Iris Schönböck, BA, Mag. Eva Widhalm, M.A., für die österreichische Caritaszentrale, Albrechtskreithgasse 19-21, 1160 Wien (ohne Zustellvollmacht), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.04.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein afghanischer Staatsbürger, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am 31.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Am 02.12.2015 wurde der BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Wien niederschriftlich erstbefragt. Befragt nach seinen Fluchtgründen führte der BF aus, es gebe Grundstücksstreitigkeiten mit den Taliban, weswegen auch bereits Familienmitglieder getötet und verletzt worden seien.

I.3. Am 13.04.2018 wurde der BF von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson unter anderem zu seinem Gesundheitszustand, seiner Identität, seinen Lebensumständen in Afghanistan, seinen Familienangehörigen und seinen Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die den BF bewogen, seine Heimat zu verlassen, gab er an, sein Großvater und sein Onkel seien wegen eines Grundstücksstreits getötet und sein Vater verletzt worden. Sein Vater sei zudem auch für den Tod eines Gegners verantwortlich gemacht worden. Sein Vater habe den BF daraufhin gedrängt, das Land zu verlassen.

I.4. Mit Bescheid vom 16.04.2018, dem BF am 18.04.2018 durch Hinterlegung zugestellt, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das BFA aus, der BF habe keine individuellen Fluchtgründe geltend gemacht, weswegen ihm der Status eines Asylberechtigten nicht gewährt werden könne. Dem BF sei eine Rückkehr nach Kabul möglich und zumutbar. Auch der Status des subsidiär Schutzberechtigten könne daher nicht gewährt werden. Gemäß § 57 AsylG sei auch eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nicht zu erteilen, da die Voraussetzungen nicht vorlägen. Letztlich hätten auch keine Gründe festgestellt werden können, wonach bei einer Rückkehr des BF gegen Art. 8 Abs. 2 EMRK verstoßen werde, weswegen auch eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

I.5. Mit Verfahrensanordnung vom 16.04.2018 wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.6. Gegen den unter I.4. genannten Bescheid richtet sich die Beschwerde des BF vom 14.05.2018 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung und der Verletzung von Verfahrensvorschriften, in der beantragt wurde, eine Beschwerdeverhandlung anzuberaumen, dem BF den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren, in eventu die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären und dem BF einen Aufenthaltstitel zu erteilen, in eventu den Bescheid zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.

Begründend wurde vorgebracht, die Länderinformationen seien lediglich allgemeiner Natur und würden sich nicht mit dem Fluchtvorbringen des BF befassen. Darüber hinaus seien die Feststellungen unvollständig und veraltet. Es wurden Berichte zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan im Allgemeinen und Kabul im Speziellen vorgelegt. Darüber hinaus sei auch die Beweiswürdigung des BFA mangelhaft. Im Gegensatz zur Ansicht des BFA sei das Vorbringen des BF glaubhaft und ihm deshalb der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Unabhängig davon sei ihm aufgrund der Sicherheits- und Versorgungslage der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren.

I.7. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 18.05.2018 vorgelegt, wobei das BFA auf die Durchführung und Teilnahme an einer Verhandlung verzichtete und beantragte, die Beschwerde abzuweisen.

I.8. Am 11.12.2020 legte der BF Integrationsunterlagen vor.

I.9. Am 15.12.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der der BF und seine damalige Rechtsvertretung teilnahmen. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu seiner Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, seinen Familienangehörigen, seinen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.

I.10. Am 12.01.2021 bevollmächtigte der BF die BBU GmbH, ihn im vorliegenden Verfahren zu vertreten. Diese Vollmacht wurde dem Bundesverwaltungsgericht erst am 02.02.2021 vorgelegt.

I.11. Am 22.01.2021 legte die im Rubrum genannte Vertretung die vom BF mit 20.01.2021 erteilte Vollmacht vor, in der er alle anderweitigen Vertretungsverhältnisse für aufgelöst erklärte und mitteilte, dass keine Zustellvollmacht erteilt werde, weshalb alle Zustellungen zu seinen Handen zu erfolgen hätten. Einlangend mit selbigem Tag nahm der BF durch die im Spruch genannte Vertretung Stellung zu zuvor übermittelten aktuellen Länderberichten und übermittelte den Sozialbericht vom 11.12.2020.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle;

-        Befragung des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 15.12.2020;

-        Einsicht in die im Rahmen des Verfahrens vorgelegten Unterlagen und Stellungnahmen;

-        Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;

-        Einsicht in das Strafregister, in das Grundversorgungssystem und in das Zentrale Melderegister.

II. Feststellungen:

II.1. Zur Person des BF:

Der BF führt den Namen A XXXX XXXX I XXXX und das Geburtsdatum XXXX .1996. Seine Identität steht nicht fest. Er ist afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Usbeken und sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, das er in Wort und Schrift beherrscht. Außerdem spricht er Urdu und Englisch. Der BF ist ledig und kinderlos.

Der BF ist in Afghanistan in D XXXX Q XXXX im Distrikt I XXXX S XXXX in der Provinz Kunduz geboren. Er lebte die ersten vier Jahre in seinem Heimatdorf. Danach zog er mit seiner Familie in die Stadt Kunduz, wo er bis zu seiner Ausreise gemeinsam mit seiner Familie in einem Haus wohnte. Er hat insgesamt sechs Jahre eine öffentliche Schule und ein paar Jahre eine Moscheeschule besucht sowie mehrere Jahre als Autolackierer in der Stadt Kunduz gearbeitet. Die letzten zwei Jahre vor seiner Ausreise aus Afghanistan betrieb der BF eine eigene Werkstätte im selben Stadtteil von Kunduz. Er konnte selbst für seinen Lebensunterhalt aufkommen.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

II.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF wurde nicht wegen Grundstücksstreitigkeiten oder wegen der Beschuldigung, seine Familie sei an der Ermordung eines der Gegner beteiligt, bedroht. Er wird in Afghanistan nicht gesucht.

Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Der BF ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.

II.3. Zum (Privat-)Leben des BF in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 31.10.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom selben Tag in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF besuchte mehrere Deutschkurse bis zum Niveau B1 und hat die Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau B1 bestanden. Der BF spricht und versteht gut Deutsch. Der BF wohnt in einem von der Diakonie organisierten Heim in einer Wohnung mit zwei Zimmern gemeinsam mit zwei afghanischen und einem iranischen Mitbewohner. Der BF betätigte sich bei „ XXXX “ ehrenamtlich im dortigen Reinigungsteam. Außerdem arbeitete er freiwillig in einer Fahrradwerkstätte.

Der BF hat eine freundschaftliche Beziehung zu einem österreichischen Staatsbürger aufgebaut, mit dem er seine Freizeit verbringt und Videospiele spielt. Dieser hilft ihm beim Deutschlernen. Der BF hilft den Familienmitgliedern dieses Freundes bei Arbeiten im Haus und Garten. Sonst verbringt der BF seine Freizeit mit Treffen mit seinen Freunden aus der Türkei, Afghanistan und Österreich. Seine afghanischen Freunde gehören den Volksgruppen der Paschtunen und Hazara an. Freunde des BF stammen aus Herat. Früher spielte der BF Fußball in einem afghanischen Team.

Der BF hat in Österreich von 11.09.2018 bis 02.10.2018 selbstständig als Essensauslieferer gearbeitet. Danach arbeitete er von Oktober 2018 bis April 2020 durchgängig bei verschiedenen Dienstgebern geringfügig als Autolackierer. Seit 09.11.2020 arbeitet der BF wiederum bei einem weiteren Dienstgeber geringfügig als Autolackierer. Zwischen dem BF und seinem aktuellen Dienstgeber besteht ein bis 31.01.2021 befristeter Arbeitsvorvertrag, der verlängert werden kann.

Der BF führt in Österreich seit etwa vier Monaten eine Beziehung zu einer aus Afghanistan stammenden österreichischen Staatsangehörigen.

Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten und bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Das Taschengeld und das Bekleidungsgeld wurden aufgrund des durch das Einkommen entstandenen Überbezugs von privaten GVS-Leistungen vom 01.08.2020 bis zum 31.10.2025 eingestellt.

Der BF hat in Österreich einen gefälschten afghanischen Führerschein vorgelegt.

II.4. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Die Eltern und die Geschwister des BF leben in der Türkei. Der Familie geht es dort gut. Seine beiden Brüder arbeiten. Überdies bekommt die Familie Sozialleistungen vom türkischen Staat, weil sein Vater eine Behinderung am Bein hat. Der BF hat zu diesen Verwandten Kontakt. Die Familie verfügt über Grundstücksbesitz im Geburtsort des BF, wobei die Grundstückspapiere jedenfalls beim Gericht in Kunduz hinterlegt sind. Die Familie der Mutter des BF besitzt Grundstücke in Q XXXX Z XXXX , in der Stadt Kunduz und in Mazar-e Sharif. In Mazar-e Sharif leben die Stiefbrüder seiner Mutter.

Zwei verheiratete Tanten väterlicherseits leben im Heimatdistrikt des BF. Ein Cousin des BF lebt und arbeitet in der Türkei. Dessen Töchter sind verheiratet und leben in Afghanistan. Eine angeheiratete Tante väterlicherseits lebt bei ihrer Mutter in Kunduz, P XXXX A XXXX . Die Familie des BF hat Kontakt zu den Verwandten in Afghanistan.

Der BF kann bei einer Rückkehr nach Afghanistan von seinen Familienangehörigen finanziell und organisatorisch unterstützt werden. Ebenfalls kann er Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen und auch von seinen österreichischen Freunden Hilfe annehmen. Der BF kann auch sein Gehalt für eine Wiederansiedlung nutzen.

Dem BF könnte bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Der BF ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Dem BF wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Herat Stadt oder Mazar-e Sharif kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Die Städte sind über den Luftweg sicher erreichbar.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in den vergleichsweise sicheren Gebieten Afghanistans wie Herat Stadt oder Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Der BF kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und dort einer Arbeit nachgehen und sich selbst erhalten. In Mazar-e Sharif kann der BF zumindest anfangs von der Stieffamilie seiner Mutter unterstützt werden. In Herat profitiert er vom Netzwerk seines von dort stammenden, sich aktuell auch in Österreich aufhaltenden Freundes.

Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

II.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB);

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR);

-        UNHCR: Afghanistan, Compilation of Country of Origin Information (COI) Relevant for Assessing the Availability of an Internal Flight, Relocation or Protection Alternative (IFA/IRA/IPA) to Kabul, December 2019;

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019);

-        EASO Country Guidance Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO 2020);

-        EASO Bericht Afghanistan Networks (EASO Netzwerke);

-        EASO: Afghanistan - Key-socio-economic indicators. Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (August 2020) (EASO Indikatoren);

-        EASO: Afghanistan - Security Situation (September 2020) (EASO Security);

-        EASO: Afghanistan - State Structure and Security Forces (August 2020) (EASO State);

-        EASO: Afghanistan - Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs) (August 2020) (EASO AGEs);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat) und

-        Ecoi.net-Themedossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Sharif (ecoi).

II.5.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktszentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten (LIB, Kapitel 5). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B). Zwischen 01.03.2019 und 30.06.2020 wurden 15.287 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, wovon 573 Vorfälle sich gegen Zivilisten richteten (EASO Security, 1.3.). Während des ersten Viertels 2020 blieb der Konflikt in Afghanistan einer der tödlichsten der Welt für Zivilisten. Zwischen 01.01.2020 und 30.06.2020 dokumentierte UNAMA 3.458 zivile Vorfälle, inkludierend 1.282 Tote und 2.176 Verletzten. Das stellt einen Rückgang von 13% zur Vorjahresperiode dar. Dieser allgemeine Rückgang ist auf einen Rückgang von Luftschlägen und einer Reduzierung der IS Aktivitäten zurückzuführen (EASO Security, 1.4.1.). Zwischen 01.01.2020 und 30.09.2020 wurden von UNAMA 5.939 zivile Opfer gezählt, das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang um 13% und den niedrigsten Wert seit 2012 (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus. High-Profile Angriffe (HPAs) ereigneten sich insbesondere in der Hauptstadtregion (LIB, Kapitel 5). Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant (LIB, Kapitel 5).

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 4).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet, wobei die afghanische Regierung daran weder beteiligt war noch von ihr unterzeichnet wurde. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen ist von der Einhaltung der Taliban an ihren Teil der Abmachung abhängig. Die Taliban haben im Abkommen unter anderem zugesichert, terroristischen Gruppierungen keine Zuflucht zu gewähren und innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (LIB, Kapitel 4).

Die Taliban haben jedoch die politische Krise aufgrund der Präsidentschaftswahl als Vorwand genutzt, den Einstieg in die Verhandlungen hinauszuzögern. Außerdem werfen sie der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung nicht einzuhalten und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4). Diese Angriffe der Taliban richten sich gegen die ANDSF und nicht gegen internationale Kräfte (EASO Security, 1.3.). Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gewalt hat allerdings trotzdem nicht nachgelassen (LIB, Kapitel 4).

II.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant (LIB, Kapitel 22).

Einer Prognose der Weltbank vom Juli 2020 zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Afghanistans im Jahr 2020 als Folge der COVID-19-Maßnahmen zwischen 5,5 und 7,4 % schrumpfen, was die Armut verschlimmern und zu einem starken Rückgang der Staatseinnahmen führen werde. Schon 2019 ist das absolute BIP trotz Bevölkerungswachstums das zweite Jahr in Folge gesunken. Seit 2013 ist auch das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf stark zurückgegangen, von rund 660 auf 540 US-Dollar im Jahr 2019 (EASO Indikatoren, Kapitel 2.1.1.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (LIB, Kapitel 22).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor, der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tägliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).

Die Lage am afghanischen Arbeitsmarkt, der vom Agrarsektor dominiert wird, bleibt angespannt und die Arbeitslosigkeit hoch. Es treten viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, der nicht in der Lage ist, ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, allerdings beratende Unterstützung, die auch Rückkehrende in Anspruch nehmen können (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020 Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5). In den ländlichen Gebieten leben bis zu 60% der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze, in den urbanen Gebieten rund 41,6% (LIB, Kapitel 22).

Afghanistan ist weit von einem Wohlfahrtsstaat entfernt. Afghanen rechnen auch nicht mit staatlicher Unterstützung. Die fehlende staatliche Unterstützung wird von verschiedenen Netzwerken ersetzt und kompensiert (LIB, Kapitel 22).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungssicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. Im ersten Halbjahr 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt (LIB, Kapitel 3).

Ebenfalls infolge der COVID-19-Maßnahmen, insbesondere aufgrund von Grenzschließungen und Exporteinschränkungen, kam es ab März 2020 zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittelpreise. So ist etwa der Preis für Weizenmehl in ganz Afghanistan gestiegen. Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) geht davon aus, dass viele Haushalte aufgrund reduzierter Kaufkraft nicht in der Lage sein werden, ihren Ernährungs- und essentiellen Nicht-Ernährungs-Bedürfnissen nachzukommen. UNOCHA zufolge hat sich der Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren in den meisten Teilen Afghanistans verschlechtert, wobei in 25 der 34 Provinzen Notfalllevels an akuter Unterernährung erreicht würden (EASO Indikatoren, Kapitel 2.4.1.).

Zur Beeinflussung des Arbeitsmarkts durch COVID-19 gibt es keine offiziellen Regierungsstatistiken, es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat. Die afghanische Regierung warnt vor einer Steigerung der Arbeitslosigkeit um 40%. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen habe in einer Befragung bis Juli 2020 84% angegeben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Fall einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten, bei einer vierwöchigen Quarantäne steigt diese Zahl auf 98%. Insgesamt ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war. 2019 waren 10,2 Millionen von Lebensmittelunsicherheit betroffen, während 11,3 Millionen humanitäre Hilfe benötigen (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Der Finanzsektor in Afghanistan entwickelt sich und es gibt mittlerweile mehrere Banken. Auch ist es relativ einfach, ein Bankkonto zu eröffnen. Außerdem kann über das sogenannte Hawala-System Geld einfach und kostengünstig weltweit transferiert werden (LIB, Kapitel 22).

II.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es 2018 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei rund 87 % der Bevölkerung eine solche innerhalb von zwei Stunden erreichen könnten. Laut WHO gab es 2018 134 Krankenhäuser, 26 davon in Kabul (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.1.; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Staatsbürger zur Verfügung zu stellen. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Voraussetzung dafür ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis oder Tazkira. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet jedoch kaum bis gar nicht statt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist allerdings sichergestellt, weniger dagegen auf der Ebene von Distrikten und Dörfern. Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Das ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (LIB, Kapitel 23).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 23).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sowie auch spezialisierte Kliniken sind grundsätzlich verfügbar. Außerdem werden sie als in der afghanischen Gesellschaft als schutzbedürftig betrachtet und werden als Teil der Familie gepflegt (LIB, Kapitel 23.1).

II.5.3.1. COVID-19

Der erste offizielle Fall in Afghanistan wurde Ende Februar 2020 festgestellt. Nach einer Umfrage des afghanischen Gesundheitsministeriums hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (LIB, Kapitel 3).

Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Bevölkerung unabhängig von etwaigen Ausgangsbeschränkungen dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).

Durch die COVID-19-Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. 53% der Bevölkerung haben nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten (LIB, Kapitel 3).

II.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 18).

Usbeken stellen mit etwa 9% die viertgrößte Bevölkerungsgruppe dar. Sie sind Sunniten und leben vorwiegend im Norden des Landes. Die usbekische Minderheit ist im nationalen Durchschnitt mit etwa 8% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (LIB, Kapitel 18.4.).

II.5.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 17).

II.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 12).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

II.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 20).

Nach Schließung einiger Grenzübergänge aufgrund der COVID-19 Pandemie sind nunmehr alle Grenzübergänge wieder geöffnet. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen. Auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt. Ebenso verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führ zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 3).

Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. In Kabul ist die Fluktuation aufgrund verschiedener Faktoren größer, was oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht, dass man seine Nachbarn nicht mehr kenne (LIB, Kapitel 20).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 20.1).

II.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 5).

Taliban:

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und –pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt. Sie bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (LIB, Kapitel 5).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 5).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug geschätzt etwa 40.000-85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf 100.000 ansteigt. (LIB, Kapitel 5).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami bekannt ist. Diese Gruppe ist gegen den US-Taliban Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (LIB, Kapitel 5).

Laut dem unabhängigen Afghanistan-Experten Borhan Osman rekrutieren die Taliban in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos, in Madrasas und ethnisch paschtunisch ausgebildet sind.138 Die Rekrutierung erfolgt normalerweise über die Militärkommission der Gruppe und den Einsatz in Moscheen sowie über persönliche Netzwerke und Familien von Kämpfern, von denen viele motiviert sind, "die westlichen Institutionen und Werte, die die afghanische Regierung ihren Verbündeten abgenommen hat, zutiefst zu verabscheuen". Anstatt Gehälter zu zahlen, übernehmen die Taliban die Kosten (EASO AGEs, 2.4.). Die Taliban Kämpfer werden von einem Bericht in zwei Kategorien eingeteilt. Einerseits professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (LIB, Kapitel 5).

Haqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida und verfügt über Kontakte zu IS. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 5).

Islamischer Staat (IS/Daesh) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Der IS bezeichnet sich in Afghanistan selbst als Khorosan Zweig des IS. Eine Verbindung mit dem IS im Irak und in Syrien ist aber nicht erwiesen Die Stärke des ISKP variiert zwischen 2.500 und 4.000, bzw. 4.500 und 5.000 Kämpfern (LIB, Kapitel 5).

Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. In letzter Zeit geriet der ISKP unter großem Druck und verlor auch seine Hochburg in Ostafghanistan. Er soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKO hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfern reduziert (LIB, Kapitel 5).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Verlust des Territoriums ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel 5).

Der ISKP ist mit den Taliban verfeindet und betrachtet diese als Abtrünnige. Während die Taliban ihre Angriffe auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB, Kapitel 5).

Al-Qaida:

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB, Kapitel 5).

II.5.9 Provinzen und Städte

II.5.9.1. Herkunftsprovinz Kunduz:

Kunduz liegt im Norden Afghanistans. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Hazara, Aymaq und Pashai. Die Provinz hat geschätzte 1.113.676 Einwohner (LIB, Kapitel 5.19).

Kunduz war die letzte Taliban Hochburg vor deren Sturz 2001. Die Sicherheitslage der Provinz hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. 2015, 2016 und 2019 konnten die Taliban Kunduz Stadt kurzzeitig einnehmen. Auch 2020 wurde die Provinzhauptstadt angegriffen Die meisten Distrikte stehen auch derzeit weitgehend oder vollständig unter der Kontrolle der Taliban. Al Qaida ist in der Provinz verdeckt aktiv. Darüber hinaus operiert das unter dem Kommando und der finanziellen Kontrolle der Taliban stehende Islamic Movement of Uzbekistan und das Eastern Turkestan Islamic Movement in Kunduz. In Kunduz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Bei diesen werden unter anderem auch Aufständische getötet und Luftangriffe durchgeführt. Es kam auch zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den Sicherheitskräften. Im Jahr 2019 gab es 492 zivile Opfer (141 Tote und 351 Verletzte) in der Provinz Kunduz. Dies entspricht einer Steigerung von 46% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Luftangriffen. Laut Bewohnern der Provinz stellt die Unsicherheit auf den Landrouten eine große Herausforderung dar. Aufständische errichteten auf den Straßen Kontrollpunkte (LIB, Kapitel 5.19).

In der Provinz Kunduz reicht eine „bloße Präsenz“ in dem Gebiet nicht aus, um ein reales Risiko für ernsthafte Schäden gemäß Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie festzustellen. Es wird dort jedoch ein hohes Maß an willkürlicher Gewalt erreicht, und dementsprechend ist ein geringeres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um die Annahme zu begründen, dass ein Zivilist, der dieses Gebiet zurückgekehrt ist, einem realen Risiko eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie ausgesetzt ist (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

II.5.9.2. Balkh

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel 5.5).

Balkh zählte zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert. Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, auch wenn sich im Jahr 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge ereignet haben. Diese fanden meist in der Nähe der Blauen Moschee statt. Ziel der Anschläge sind Sicherheitskräfte, es fallen ihnen jedoch auch Zivilisten zum Opfer. Im Jahr 2019 gab es 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (LIB, Kapitel 5.5). Balkh zählt zwar nach wie vor zu einer Provinz, in der die Taliban eine kleinere Präsenz als im übrigen Nordens Afghanistans haben, allerdings hat sich ihr Einfluss im Jahr 2019 vergrößert (EASO Security, 2.5.2.).

In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

Im Jahr 2020 zählte die Provinz nach Angaben des UN Generalsekretärs zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes (LIB, Kapitel 5.5.). Das Konfliktmuster im Distrikt Mazar-e Sharif, zu dem auch die Provinzhauptstadt gehört, unterschied sich vom allgemeinen Muster in der Provinz Balkh und in den verschiedenen Distrikten. Auch Mazar-e Sharif war einer der Bezirke in der Provinz Balkh, in denen eine geringere Anzahl von Vorfällen gemeldet wurde (EASO Security, 2.5.3.1.).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt sowie im Distrikt Marmul findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

II.5.9.3. Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.140.662 Einwohner, davon geschätzt 574.276 in der Provinzhauptstadt Herat Stadt. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 5.13).

Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktsebene unterscheidet sich voneinander. Während einige Distrikte als unsicher gelten, kam es in Herat Stadt in den letzten Jahren zwar zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, allerdings nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die einen Einfluss auf das tägliche Leben gehabt hätten. Je weiter man sich von der Stadt Herat (die als sehr sicher gilt) und ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban. Im Jahr 2019 gab es 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 5.13, EASO Security 2.13.3.1.).

In der Provinz Herat - mit Ausnahme in der Stadt Herat - kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

II.5.9.4. Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat geschätzt 4.434.550 Einwohner. Andere Berichte schätzen die Einwohnerzahl zwischen 3.5 und 6.5 Millionen. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 5.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 5.1 und Kapitel 5.35).

In den von neu eingewanderten Bewohnern bewohnten Stadtvierteln entsteht eine dofgesellschaftsähnliche Gemeinschaft. Die Verbindung dieser zu ihren früheren Herkunftsorten ist meistens direkter als zum Zentrum Kabuls (LIB, Kapitel 5.5.).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul und alle Distrikte gelten las unter Regierungskontrolle. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen in den letzten Jahren insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 5.1). Anschläge der regierungsfeindlichen Gruppierungen in Kabul richten sich zumeist gegen Regierungsinstitutionen, militärische und zivile Einrichtungen der afghanischen Regierung und internationaler Organisationen sowie Justizbedienstete, Gesundheitsbedienstete, Entwicklungshelfer und Menschenrechtsaktivisten. Zusätzlich wird auch von Angriffen gegen Medien berichtet. Vom 01.03.2019 bis zum 30.06.2020 richteten sich demnach von insgesamt 142 Vorfällen 22 gegen Zivilisten. Die Zahl der Anschläge ging nach einem Anstieg im ersten Halbjahr 2018 zudem seitdem bis 2019 zurück, während sich im dritten Quartal 2019 – wie in gesamt Afghanistan – die Zahl der Anschläge wieder erhöhte. Seitdem ging die Zahl wieder zurück, während sie seit dem zweiten Quartal 2020 wieder stieg. Die Anschläge richten sich jedoch nicht mehr so häufig wie früher auf „high-profile“ Ziele, sondern es stieg vielmehr die Zahl gezielter Tötungen vor allem von Regierungsangehörigen. Die Anschläge richteten sich in der überwiegenden Zahl gegen Regierungseinrichtungen (EASO Security, 2.1.3.1.).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

Rund ein Drittel aller Rückkehrer nach Afghanistan lebt entweder in Kabul oder Nangarhar. Während 2018 landesweit 46 % der Binnenvertriebenen angaben, der Zugang ihres Haushalts zu wichtigen Lebensgrundlagen wäre eingeschränkt, war die Situation in Kabul mit einem Anteil von 33 % etwas besser (EASO Indikatoren, Kapitel 2.2.3.). Während aus Kabul keine gewaltbedingte Vertreibung feststellbar ist, nimmt Kabul nach wie vor gewaltbedingt Vertriebene und Rückkehrer auf (EASO Security, 2.1.3.2.).

Intern Vertriebene in Kabul siedeln sich oftmals in den Außenbezirken der Stadt wie Bagrami an, wo sie sich oftmals mit anderen vulnerablen Gruppen, wie Armen, Rückkehrern und Wirtschaftsmigranten vermischen. Der Mangel an adäquaten Land und leistbaren Häusern im städtischen Gebiet zwingt die meisten neuen und langwierig Binnenvertriebene in Zelten, Lehmhäusern oder unter Planen in einen der mehr als 55 informell und illegalen Siedlungen zu leben. Diese Informalen (Kabul) Siedlungen (ISET oder KIS) variieren in Größe von dutzenden bis hunderten Wohnungen und inkludieren einige der ärmsten und vulnerabelsten Haushalte in der Stadt. Aufgrund der limitierten Jobmöglichkeiten, der geringen oder keiner schützenden sozialen Netze, der schlechten Unterbringungs-/Lebensbedingungen, des behinderten Zugangs zu Bildung und Gesundheitsversorgung und der anhaltenden Angs vor Räumung sind die Vertriebenen an den KIS Standorten prekären Lebensbedingungen und erhöhten Schutzrisiken in ihrem täglichen Leben ausgesetzt. Sie werden häufig zu sekundären Vertreibungs- und negativen Bewältigungsstrategien wie Kinderarbeit, Drogenkonsum / Sucht, frühzeitiger Heirat und Verringerung der Quantität und Qualität von Lebensmitteln gezwungen (EASO Security, 2.1.3.2.).

Abgesehen von internen Vertreibungen aufgrund von Konflikten kommen in Kabul große Zuströme afghanischer Flüchtlinge aus den Nachbarländern (Pakistan und Iran) oder aus der Türkei (nach der Deportation aus Europa), was die Dienstleistungen der Stadt und ihre Wiedereingliederungskapazität weiter belastet. Viele Rückkehrer landen in der Hauptstadt wegen der relativ höheren Sicherheit als in ihren Herkunftsregionen und wegen der Erwartung von mehr Beschäftigungsmöglichkeiten, besseren Unterstützungsdiensten und Aussichten auf soziale Akzeptanz. Es werden nur wenige Spannungen gemeldet, aber ein erhöhter Druck auf die lokalen Ressourcen, Arbeitsplätze, Dienstleistungen und Einrichtungen, die sowohl bei Rückkehrern als auch bei Aufnahmegemeinschaften Angst hervorrufen, werden aus mehreren Quellen beschrieben. Die meisten Rückkehrer in Kabul Stadt sind auf Verwandte angewiesen, um Unterkunft und andere Sachleistungen zu erhalten. Die Bedeutung sozialer Netzwerke wird als entscheidend für Rückkehrer angegeben. Wenn Rückkehrer ursprünglich nicht aus Kabul stammen und kein Sicherheitsnetz oder keine Großfamilie in der Hauptstadt haben, haben sie Schwierigkeiten, sich selbst zu ernähren, Arbeit zu finden oder eine Unterkunft zu mieten. Hazara-Rückkehrer, die nach Kabul kommen, können im Allgemeinen auf eine bessere Unterstützung durch eine Reihe hoch entwickelter sozialer Netzwerke in ihrer gut organisierten und zusammenhängenden Gemeinschaft zählen (EASO Security 2.1.3.2.).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 72% der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 5).

II.5.9.5. Mazar-e Sharif, Herat Stadt und Kabul Stadt

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer eth

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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