Entscheidungsdatum
06.04.2021Norm
ASVG §430 Abs3bSpruch
W228 2234424-1/10Z
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald Wögerbauer, als Einzelrichter in der Beschwerdesache von Frau XXXX , vertreten durch XXXX Rechtsanwälte GmbH, gegen den Bescheid des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz vom 30.06.2020, Zl. XXXX , beschlossen:
A)
I. Gemäß Art. 140 Abs. 1 Z 1 lit. a B-VG wird (in Verbindung mit Art. 89 und Art. 135 Abs. 4 B-VG) an den Verfassungsgerichtshof der Antrag gestellt, § 430 Abs. 3b letzter Satz Allgemeines Sozialversicherungsgesetz – ASVG, BGBl. Nr. 189/1955, in der Fassung des Sozialversicherungs-Organisationsgesetzes – SV-OG, BGBl. I Nr. 100/2018, als verfassungswidrig aufzuheben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 9 B-VG in Verbindung mit § 25a Abs. 3 VwGG nicht zulässig.
Text
Begründung:
Zu A)
I. Sachverhalt
Beim Bundesverwaltungsgericht ist ein Verfahren betreffend eine Beschwerde gegen einen Bescheid des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (im Folgenden kurz: BMSGPK) anhängig, dem folgender Sachverhalt zugrunde liegt:
Mit Schreiben vom 31.01.2020 beantragte die Beschwerdeführerin des Verfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht als weitere Versicherungsvertreterin in der Hauptversammlung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) die Erlassung eines Bescheides des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz gemäß § 450 ASVG und begehrte die Feststellung, dass ihr als Versicherungsvertreterin, die nicht dem Verwaltungsrat oder einem Landesstellenausschuss zugehörig sei, das passive Wahlrecht für die Funktion des Vorsitzes der Hauptversammlung unabhängig von der wahlwerbenden Gruppe, von der sie vorgeschlagen wurde, zukomme.
Für die Funktion in einem Verwaltungskörper zu kandidieren, sei ein zentrales, verfassungsgesetzlich garantiertes (Grund-)Recht. Es handle sich demnach um ein Recht der Versicherungsvertreter/innen. Die Vorsitzführung in der Hauptversammlung, in der die Satzung beschlossen werden würde und der Kontrollbefugnisse zukommen würden, sei zentral für die Funktionsweise des Versicherungsträgers. Diese sicherzustellen sei eine Pflicht der angelobten Versicherungsvertreter/innen.
Mit Bescheid vom 30.06.2020 stellte der BMSGPK fest, dass der Beschwerdeführerin als Versicherungsvertreterin, die nicht dem Verwaltungsrat oder einem Landesstellenausschuss zugehörig sei, das passive Wahlrecht für die Funktion des Vorsitzes in der Hauptversammlung der AUVA unabhängig von der wahlwerbenden Gruppe, von der die Beschwerdeführerin vorgeschlagen worden sei, gemäß § 430 Abs. 3b letzter Satz ASVG nicht zukomme.
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin sei von der Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte mit Wirkung vom 01.01.2020 als Versicherungsvertreter aus der Gruppe der Dienstnehmer/innen in die Hauptversammlung der AUVA entsendet worden. Sie gehöre weder dem Verwaltungsrat noch einem Landesstellenausschuss dieses Versicherungsträgers an. Als Stellvertreterin des Obmannes des Verwaltungsrates der AUVA sei Mag.a XXXX der Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen (FSG) als wahlwerbenden Gruppe zuzurechnen. Die Beschwerdeführerin gehöre ebenfalls dieser wahlwerbenden Gruppe an.
Gemäß § 430 Abs. 3b ASVG wähle die Hauptversammlung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt für ihre Amtsdauer aus ihrer Mitte eine/n Vorsitzende/n. Er/Soe müsse der Gruppe der Dienstgeber/innen angehören. Ebenfalls aus der Mitte der Hauptversammlung sei für den/die Vorsitzende/n ein Stellvertreter/eine Stellvertreterin aus der Gruppe der Dienstnehmer/innen zu wählen. Der/Die Vorsitzende sowie sein/seine/ihr/ihre Stellvertreter/in dürften weder dem Verwaltungsrat noch einem Landesstellenausschuss angehören. Darüber hinaus dürften diese Personen nicht derselben wahlwerbenden Gruppe angehören, der der Obmann/die Obfrau des Verwaltungsrates bzw. sein/seine/ihr/ihre Stellvertreter/in zuzurechnen sei. Da die Beschwerdeführerin derselben wahlwerbenden Gruppe angehöre, der die Stellvertreterin des Obmannes des Verwaltungsrates der AUVA (nämlich der Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen) zuzurechnen sei, komme der Beschwerdeführerin gemäß § 430 Abs. 3b ASVG das passive Wahlrecht für die Funktion der Stellvertreterin des Vorsitzes in der Hauptversammlung der AUVA nicht zu.
Dagegen richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 28.07.2020. Der Ausschluss einzelner bzw. einer ganzen Gruppe von Versicherungsvertreter/innen vom passiven Wahlrecht für die Funktion des/der Vorsitzenden der Hauptversammlung der AUVA aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten wahlwerbenden Gruppe verstoße sowohl gegen die verfassungsrechtlichen Prinzipien der Selbstverwaltung (Art. 120a ff B-VG), insbesondere die Wahl der Organe der Selbstverwaltungskörper aus dem Kreis der Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen abzuhalten, als auch gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 7 B-VG, Art. 2 StGG, Art. 14 EMRK, da diese Bestimmung eine Diskriminierung aufgrund der politischen Zugehörigkeit und eine unsachliche Ungleichbehandlung sei. Zudem werde gegen Art. 3 StGG, wonach alle öffentlichen Ämter für alle Staatsbürger gleich zugänglich seien, verstoßen.
Die Beschwerde wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 26.08.2020 zur Entscheidung vorgelegt.
Die belangte Behörde wurde mit Schreiben vom 03.09.2020 zur Stellungnahme aufgefordert.
Diese nahm mit Schreiben datierend auf 22.09.2020 insofern Stellung, als die belangte Behörde auf die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zuletzt G78/2019) verwies und ergänzte, dass dem Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung der demokratischen Repräsentation in den Organen des Versicherungsträgers ein erheblicher rechtspolitischer Gestaltungsspielraum eingeräumt werde. Vor dem Hintergrund der in dieser Judikatur als verfassungskonform beurteilten Parität von Dienstgeber- und Dienstnehmervertreter/innen erscheine die Ansicht konsequent, dass auch eine paritätische Besetzung nach Zugehörigkeit zu den wahlwerbenden Parteien eine Abgrenzung durch ein objektives und sachlich gerechtfertigtes Moment darstelle.
Nach Übermittlung dieser Stellungnahme mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.12.2020 trat die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 20.01.2021 den Ausführungen der belangten Behörde, wonach eine paritätische Besetzung nach Zugehörigkeit zu den wahlwerbenden Parteien sachlich sei, entgegen. Neben umfassenden Ausführungen zum Modus der Mandatsverteilung in der Hauptversammlung der AUVA und ÖGK verwies die Beschwerdeführerin auf Unterschiede der auf Unselbständige (AUVA, PVA, ÖGK und BVAEB) und Selbständige (SVS) anzuwendenden gesetzlichen Grundlagen. § 24 Abs. 2a SVSG sehe im Unterschied zu den entsprechenden Regelungen des ASVG und B-KUVG eine Ausnahmeregelung dergestalt vor, wonach Personen nicht derselben wahlwerbenden Gruppe angehören dürfen, der der Obmann/die Obfrau des Verwaltungsrates bzw. sein/seine/ihr/ihre Stellvertreter/in zuzurechnen sei, „es sei denn, es steht keine Person einer anderen wahlwerbenden Gruppe zur Verfügung.“ Damit seien die Bestimmungen im ASVG wohl unsachlich, da der Gesetzgeber in einer Insich-Betrachtung Gleiches ungleich behandle und damit gegen den auch für die Selbstverwaltung wesentlichen Art. 7 B-VG verstoße. Darüber hinaus gäbe es in keinem anderen Selbstverwaltungskörper entsprechende „Fraktionssperren“. Weder der Verfassungsgerichtshof, noch andere Höchstgerichte hätten zur Frage der Fraktionssperre bereits Entscheidungen getroffen.
Nach Aufforderung der belangten Behörde zur Vorlage einer aktuellen Liste sämtlicher Mitglieder der Verwaltungskörper mit Fraktionszugehörigkeitsausweis durch das Bundesverwaltungsgericht vom 25.02.2021, wurden die Listen mit Schreiben der belangten Behörde vom 04.03.2021 vorgelegt. Die belangte Behörde verwies auf Ihre frühere Stellungnahme und ergänzte, dass die hier anzuwendende Bestimmung weiterhin dem aktuellen Rechtsbestand angehöre und daher – solange sie nicht als verfassungswidrig aufgehoben wurde – von der belangten Behörde bei der Erlassung des Bescheides anzuwenden sei.
Am 12.03.2021 wurde seitens des Bundesverwaltungsgerichtes fernmündlich von der belangten Behörde erhoben, dass sowohl die Wahl als auch die Angelobung zum Vorsitzenden der Hauptversammlung am 31.01.2020 erfolgte. Bezüglich Frau XXXX werde angegeben, dass diese der Liste der FSG angehöre.
II. Rechtslage
§ 430 ASVG, BGBl. Nr. 189/1955, in der Fassung des SV-OG, BGBl. I Nr. 100/2018, lautet auszugsweise wie folgt (die zur Prüfung beantragte Stelle ist durch Unterstreichung hervorgehoben):
„Vorsitz in den Verwaltungskörpern
§ 430. […]
(3b) Die Hauptversammlung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt hat für ihre Amtsdauer aus ihrer Mitte eine/n Vorsitzende/n zu wählen. Er/Sie muss der Gruppe der Dienstgeber/innen angehören. Für die Wahl ist die einfache Mehrheit aller Mitglieder der Hauptversammlung erforderlich. Bei Stimmengleichheit entscheidet die einfache Mehrheit in der Gruppe der Dienstgeber/innen. Im Anschluss an die Wahl des/der Vorsitzenden ist für diese/n aus der Mitte der Hauptversammlung ein Stellvertreter/eine Stellvertreterin aus der Gruppe der Dienstnehmer/innen zu wählen. Der/Die Vorsitzende sowie sein/seine/ihr/ihre Stellvertreter/in dürfen weder dem Verwaltungsrat noch einem Landesstellenausschuss angehören. Darüber hinaus dürfen diese Personen nicht derselben wahlwerbenden Gruppe angehören, der der Obmann/die Obfrau des Verwaltungsrates bzw. sein/seine/ihr/ihre Stellvertreter/in zuzurechnen ist.
[…]“
III. Zur Zulässigkeit des Antrags
1. Anfechtungsberechtigtes Gericht
Das Bundesverwaltungsgericht ist gemäß Art. 89 in Verbindung mit Art. 135 Abs. 4 und Art. 140 Abs. 1 Z 1 lit. a B-VG verpflichtet, an den Verfassungsgerichtshof den Antrag auf Aufhebung eines Gesetzes zu stellen, gegen dessen Anwendung es aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit Bedenken hat.
Derartige Bedenken hegt das Bundesverwaltungsgericht gegen § 430 Abs. 3b letzter Satz ASVG aus Anlass des Verfahrens über die unter Punkt I. erwähnte Beschwerde. Gemäß § 452a ASVG ist das Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung über die verfahrensgegenständliche Beschwerde gegen den Bescheid des BMSGPK als Aufsichtsbehörde gemäß § 448 Abs. 1 ASVG vom 30.06.2020 zuständig. Es ist daher zur Anfechtung berechtigt (und verpflichtet).
2. Zur Anfechtung zuständiger Spruchkörper
Soweit die Bundes- oder Landesgesetze nicht die Entscheidung durch den Senat vorsehen, entscheidet das Verwaltungsgericht durch Einzelrichter bzw. Rechtspfleger (vgl. Art. 135 Abs. 1 B-VG, § 2 VwGVG; § 6 BVwGG).
Zur Entscheidung über die den Anlass des Gesetzesprüfungsantrags bildende Beschwerdesache in merito ist gemäß § 6 BVwGG die Zuständigkeit des Einzelrichters gegeben, da keine Senatszuständigkeit vorgesehen ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist dieser daher der anfechtungslegitimierte Spruchkörper des Bundesverwaltungsgerichts.
3. Präjudizialität
Bei seiner Entscheidung darüber, ob die Beschwerde in der Sache erfolgreich ist, hat der Einzelrichter jene Rechtsvorschriften anzuwenden, die diese Entscheidung gesetzlich determinieren. Im Beschwerdefall gehört zu diesen Rechtsvorschriften jedenfalls § 430 Abs. 3b letzter Satz ASVG in der angefochtenen Fassung. Die angefochtene Rechtsvorschrift ist daher präjudiziell. Eine Aufhebung würde den gegenständlich anwendbaren Ausschluss der Beschwerdeführerin vom passiven Wahlrecht aufgrund Zugehörigkeit zu einer wahlwerbenden Gruppe von Vorstands- bzw. Stellvertreterfunktionen beseitigen. Die Anwendbarkeit der Bestimmung wird durch den Schriftsatz der belangten Behörde vom 04.03.2021 untermauert.
Eine Unzulässigkeit des Feststellungsbegehrens in Hinblick darauf, dass sowohl die Wahl als auch die Angelobung zum Vorsitzenden der Hauptversammlung am 31.01.2020 erfolgte, ist nach derzeitiger Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes nicht erkennbar. Mangels entsprechender, speziellerer Wahlregeln wie bei anderen Selbstverwaltungskörpern (z.B.: bei der Arbeiterkammer die Arbeiterkammerwahlordnung) sind keine wahlrechtlichen Einspruchsverfahren mit verkürzten Entscheidungsfristen normiert, die dem gegenständlichen Feststellungsbegehren als grundsätzlich subsidiärem Rechtsbehelf vorgehen würden.
Soweit die Beschwerde meint, darüber hinaus in § 430 Abs. 3b ASVG auch im System der Sozialversicherung nach dem SV-OG im Hinblick auf § 24 Abs. 2a SVSG eine weitere unsachliche Differenzierung zu erkennen, ist wie folgt darauf einzugehen. § 24 Abs. 2a SVSG lautet auszugsweise wie folgt:
„[…] Der/Die Vorsitzende sowie sein/seine/ihr/ihre Stellvertreter/in dürfen weder dem Verwaltungsrat noch einem Landesstellenausschuss angehören. Darüber hinaus dürfen diese Personen nicht derselben wahlwerbenden Gruppe angehören, der der Obmann/die Obfrau des Verwaltungsrates bzw. sein/seine/ihr/ihre Stellvertreter/in zuzurechnen ist, es sei denn, es steht keine Person einer anderen wahlwerbenden Gruppe zur Verfügung.“
Soweit die Beschwerde keine sachliche Rechtfertigung dafür sieht, aus welchem Grund im Regime des Sozialversicherungsrechts der Selbständigen eine Ausnahme normiert wurde, diese in ASVG bzw. B-KUVG jedoch ausgespart wurde, können diese Ausführungen mangels Präjudizialität dahingestellt bleiben, da fallgegenständlich Vertreter zweier weiterer wahlwerbender Gruppen verbleiben, die nicht vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind und somit das Fehlen einer vergleichbaren Bestimmung wie in § 24 Abs. 2a SVSG im ASVG keine Auswirkungen zeitigen kann.
IV. Bedenken
1. Zusammenfassung
Das Bundesverwaltungsgericht hält die Regelung des § 430 Abs. 3b letzter Satz ASVG für verfassungswidrig, weil der Bundesgesetzgeber damit die ihm durch Art. 120c Abs. 1 B-VG (Grundsätze der Selbstverwaltung, insbesondere die Wahl der Organe der Selbstverwaltungskörper aus dem Kreis der Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen), Art. 7 Abs. 1 B-VG, Art. 2 StGG, Art. 14 EMRK sowie Art. 3 StGG (Gleichheitssatz, gleiche Zugänglichkeit öffentlicher Ämter) und Art. 6 Abs. 1 StGG (Erwerbsfreiheit) gezogenen Grenzen überschritten hat, da ähnliche Ausschlüsse des passiven Wahlrechts von Vertretern einzelner oder mehrerer wahlwerbender Gruppen von Vorstands- bzw. Stellvertreterfunktionen, aus Sicht des antragstellenden Richters, dem österreichischen (Wahl-)Recht bisher in dieser Dimension unbekannt sind.
2. Darstellung von Literatur und Judikatur
Den Erläuterungen der Regierungsvorlage ist zu § 430 Abs. 3b letzter Satz ASVG keinerlei Ausführung zu entnehmen.
Bei der Literarturrecherche konnte konkret zum Thema Vorsitzendenwahl ein Beitrag von Aubauer und Rosenmayr-Khoshideh, Die Versicherungsvertreter nach dem SV-OG - Neue Gremienstrukturen in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in Festschrift Marhold (2020) 249 ausgehoben werden. Darin wird ausgeführt:
„V. Das Hauptversammlungsmitglied
A. Aufgaben des Gremiums
Die HV ist das rechtssetzende Organ, sie beschließt die Satzung und die Krankenordnung. Die Satzung bedarf – wie bisher – der Genehmigung der Aufsichtsbehörde. Weiters obliegt der HV die Beschlussfassung über den Jahresvoranschlag und über den Jahresbericht des VR, der auch den geprüften Rechnungsabschluss zu enthalten hat. Sie hat auch die Entlastung des VR vorzunehmen. Die Beauftragung des beeideten Wirtschaftsprüfers erfolgt durch die HV. In Ansehung dieser Aufgaben nimmt die HV auch die Rolle eines Kontrollorgans ein. Sie ist daher nicht mit der bisherigen Generalversammlung gleichzusetzen. Hinsichtlich der Mitgliedschaft von Verwaltungsratsmitgliedern auch in der HV sind – gerade in Ansehung der Kontrollfunktion der HV – insbesondere die Mehrheitsverhältnisse zu beachten, worauf auch Marhold in seinem bereits mehrfach genannten Vortrag hingewiesen hat. Damit es nicht in der Hand der Verwaltungsratsmitglieder liegt, sich selbst zu entlasten, ist es wesentlich, dass jene Mitglieder der HV zahlenmäßig überwiegen, die nicht auch gleichzeitig Mitglieder des geschäftsführenden Organs VR sind. Dies ist auch nach dem SV-OG erfüllt. Gem § 25 MGOHV kann die HV zur Vorbereitung und Prüfung des Jahresabschlusses sowie für damit in Zusammenhang stehende Geschäftsfälle einen Prüfungsausschuss einrichten. Dieser setzt sich aus dem Vorsitzenden und Vorsitzenden-Stellvertreter der HV sowie vier weiteren Mitgliedern der HV zusammen. Die Mitglieder dürfen nicht dem VR oder einem Landesstellenausschuss angehören. Damit wird für die Ausschusstätigkeit explizit eine Unvereinbarkeit mit Verwaltungsrats- und Landesstellenausschussmitgliedschaft statuiert, was konsequent ist, da Maßnahmen im Rahmen der Geschäftsführung einen Prüfgegenstand bilden können. Der Ausschuss soll insbesondere in Hinblick auf Rechtmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit prüfen sowie darauf achten, dass das Maß des Notwendigen nicht überschritten wird. Insbesondere soll damit wohl, neben der externen Prüfung des Rechnungsabschlusses durch einen Wirtschaftsprüfer, eine weitere Grundlage für den, in der Verantwortung der HV stehenden, Beschluss über die Entlastung des VR geschaffen werden. Auf die Tätigkeit des Prüfungsausschusses ist die MGOHV sinngemäß anzuwenden.
B. Zusammensetzung und Vorsitz
Die HV besteht in ÖGK und PVA aus 42, in der AUVA aus 32 stimmberechtigten Mitgliedern (§ 426). Sie setzen sich aus je zwölf VV aus der Gruppe der Dienstnehmer und der Dienstgeber zusammen, worunter auch die zwölf Verwaltungsratsmitglieder sind. Hinzukommen die Vorsitzenden der Landesstellenausschüsse und ihre Stellvertreter. Im Ergebnis liegt auch hier unter den stimmberechtigten Mitgliedern in ÖGK, PVA und AUVA eine paritätische Besetzung vor. Als nichtstimmberechtigte Mitglieder sind drei Seniorenvertreter und drei Behindertenvertreter in der HV vertreten. Lachmayer/Öhlinger 30) [30) Öhlinger/Lachmayer, Verfassungsrechtliche Fragen der Errichtung einer Österreichischen Gesundheitskasse, in Berka/Th. Müller/Schörghofer, Neuorganisation der Sozialversicherung 52f.] sehen durch die Verkleinerung der Gremien Probleme in Hinblick auf die demokratische Basis des Selbstverwaltungskörpers. Es sei durch die Vertretung von mehr als sechs Mio Menschen durch 42 Personen in der HV der ÖGK der „bestehende demokratische Mindeststandard“ unterschritten, der erforderlich sei, um die bestehende Interessenvielfalt abzubilden. Lachmayer/Öhlinger geben zum Vergleich an, dass 6,4 Mio Wahlberechtigte in Österreich durch 183 Nationalratsabgeordnete vertreten werden. Dazu lassen sich jedoch auch Gegenbeispiele finden, so werden etwa 373,5 Mio wahlberechtigte EU-Bürger durch 751 Abgeordnete im Europäischen Parlament vertreten. Die Angemessenheit im Sinne der Repräsentativität der Anzahl der Vertreter ist also durchaus relativ, je nachdem, welches Beispiel man heranzieht. Weiters wird die geforderte Repräsentation gerade durch die Entsendung durch die öffentlichrechtlichen Interessenvertretungen hergestellt. Der VV als solcher wird nach seiner Entsendung und während seine Amtsausübung auch keiner bestimmten Gruppe der Dienstnehmervertreter (Dienstgebervertreter) zugerechnet.31) [31) Siehe Pöltner/Pacic, ASVG § 423 Anm 1b.] Hinsichtlich der zu wählenden Größe des Gremiums ist hervorzuheben, dass der Gesetzgeber aus dem Effizienzprinzip heraus, welches wiederum eine Ausprägung des Sachlichkeitsprinzips darstellt, verpflichtet ist „Selbstverwaltungskörper gemessen an den ihnen übertragenen Aufgaben zweckmäßig, dh so zu gestalten, dass diese ihre Aufgaben sparsam, wirtschaftlich und zweckmäßig ausüben können“.32) [32) Stolzlechner, Art 120 c B-VG, in Kneihs/Lienbacher, Rill-Schäffer-Kommentar Rz 8 mit Hinweis auf die Judikatur des VfGH.]
Eine besondere Form der Minderheitenrechte kommt in der Vorsitzendenwahl zum Ausdruck. Diese dürfen zum einen nicht dem VR oder LStA angehören und zum anderen dürfen sie nicht derselben wahlwerbenden Gruppen angehören, der jeweils die zwei Obleute des VR (im Fall der AUVA der Vorsitzende und Vorsitzende-Stellvertreter) zuzurechnen sind.33) [33) Dh auf Vorschlag welcher Gruppe die Obleute als VV entsendet sind.]
C. Sitzungen und Beschlussfassung
Die HV wird vom VR nach Bedarf einberufen, dies jedoch mindestens zweimal jährlich (§ 433 Abs 1; § 3 MGOHV). Die Vorbereitung der Hauptversammlungsbeschlüsse obliegt dem VR (§ 432 Abs 1).
Alle gem § 433 Abs 1 der HV vorbehaltenen Beschlussfassungen bedürfen – mit Ausnahme des Jahresvoranschlages (§ 433 Abs 1 Z 1) – einer qualifizierten Mehrheit von zwei Drittel der abgegebenen Stimmen. Der Jahresvoranschlag und die Beauftragung des Wirtschaftsprüfers, die auch in der Kompetenz der HV liegen (§ 433 Abs 2), bedürfen einer einfachen Mehrheit. Dasselbe gilt für sonstige, in § 422 Abs 1 Z 2 – 4 nicht genannte, Beschlüsse (zB Ergänzung der Tagesordnung, bevor in diese eingegangen wird gem § 7 Abs 2 MGOHV). Lehnt die HV die Entlastung des VR ab, so entscheidet die Aufsichtsbehörde darüber, wie auch schon vor dem SV-OG im Fall einer Ablehnung der Entlastung durch die Generalversammlung (s § 433 Abs 3 letzter Satz idF vor dem SV-OG).“
Judikatur wurde zum Thema „allgemeine Ausschlussgründe für in Organe eines Selbstverwaltungskörpers zu entsendende Mitglieder“ im Erkenntnis des VfGH vom 13.12.2019, G78-81/2019, vorgefunden. Die Konstellation des Ausschlusses des passiven Wahlrechts von Vertretern einzelner oder mehrerer wahlwerbender Gruppen von Vorstands- bzw. Stellvertreterfunktionen wurde, soweit ersichtlich, vom VfGH nicht behandelt.
3. Verstoß gegen die Grundsätze der Selbstverwaltung, insbesondere die Wahl der Organe der Selbstverwaltungskörper aus dem Kreis der Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen:
Gemäß Art. 120c Abs. 1 B-VG sind die Organe der Selbstverwaltungskörper aus dem Kreis ihrer Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen zu bilden. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind (jedenfalls) die mit "entscheidungswichtigen Aufgaben und Befugnissen" betrauten Organe des Selbstverwaltungskörpers (die leitenden Organe, vgl. VfSlg. 11.469/1987) von diesem "autonom" (VfSlg. 8644/1979), dh. aus der Mitte seiner Angehörigen bzw. für die soziale Selbstverwaltung "abgeleitet" (VfSlg. 17.023/2003), zu bestellen, um demokratisch legitimiert zu sein. Diese demokratische Bestellung der Organe entspricht einem Kerngedanken der Selbstverwaltung (vgl. VfSlg. 17.023/2003 mwN).
In der Frage, in welcher Weise die demokratische Legitimation der Organe eines Selbstverwaltungskörpers gewährleistet wird, kommt dem Gesetzgeber ein weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu (VfSlg 17.023/2003; VfGH 13. 12. 2019, G 78/2019). Die für Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern geltenden Grundsätze (Art 26 Abs. 1, Art 95 Abs. 2, Art 117 Abs. 2 B-VG) sind als solche nicht anwendbar (VfSlg 8590/1979). In einer gegliederten Interessenvertretung würde ein Wahlrecht, das allen Grundsätzen des Art 26 Abs 1 entspricht, im Übrigen gar nicht zum erwünschten Ergebnis führen: Hier ist nämlich der Grundsatz der indirekten Wahl wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Interessen aller Gruppen in den obersten Organen der Selbstverwaltung vertreten sind (VfSlg 14.440/1996).
Allgemeine Ausschlussgründe für in diese Organe zu entsendende Mitglieder vorzusehen, ist dem Gesetzgeber zwar nicht schlechthin verwehrt, doch darf – abgesehen davon, dass diese Ausschlussgründe sachlich zu sein haben – keine Anforderung vorgesehen werden, die geeignet wäre, eine Entsendung nach demokratischen Grundsätzen zu konterkarieren. Damit könnte sich nämlich der Gesetzgeber über das verfassungsrechtliche Gebot des Art. 120c Abs. 1 B-VG hinwegsetzen (vgl. VfGH vom 13.12.2019, G78-81/2019) (Grabenwarter/Frank, B-VG Art 120c (Stand 20.6.2020, rdb.at) Rz 2).
Vor diesem Hintergrund sprach der VfGH aus, dass es dem Gesetzgeber nicht verwehrt sei, bei der Regelung der Entsendung von Versicherungsvertretern auf fachliche Qualifikationen Bedacht zu nehmen, es jedoch in einer Zusammenschau gegen Art. 120c Abs. 1 B-VG verstoße, dass er ein Instrumentarium in Form einer Prüfung mit von außerhalb des Selbstverwaltungskörpers festgelegten (überzogenen, wohl weit über das Notwendige hinausgehenden) Inhalten durch eine außerhalb des Selbstverwaltungskörpers einzurichtende Prüfungskommission schafft, gehe dies doch weit über die bis zum Inkrafttreten des SV-OG bestehende, verfassungsrechtlich unbedenkliche Voraussetzung der "fachlichen Eignung" hinaus (vgl. das zuvor genannte Erkenntnis vom 13.12.2019, G78-81/2019).
Im Hinblick auf die im gegenständlichen Beschwerdeverfahren zu beurteilende Besetzung einer leitenden Funktion eines Verwaltungskörpers des Sozialversicherungsträges aus dem Kreis der Versicherungsvertreter/innen, wirft die oben dargelegte Judikatur gleichermaßen erhebliche Bedenken gegen die im Beschwerdeverfahren strittige Regelung auf:
Gemäß § 428 Z 2 ASVG besteht die Hauptversammlung der AUVA aus 32 Versicherungsvertreter/innen. Gemäß § 426 Abs. 2 ASVG setzt sich die Hauptversammlung bei der AUVA (sowie auch bei ÖGK und PVA) zusammen aus zwölf Versicherungsvertreter/innen aus der Gruppe der Dienstnehmer/innen, zwölf Versicherungsvertreter/innen aus der Gruppe der Dienstgeber/innen, wobei die ersten sechs Mitglieder der jeweiligen Gruppe die Mitglieder des jeweiligen Verwaltungsrates sind, den Vorsitzenden der jeweiligen Landesstellenausschüsse samt ihren Stellvertreter/inne/n, jeweils drei Senior/inn/envertreter/inne/n, die vom Österreichischen Seniorenrat zu entsenden sind und jeweils drei Behindertenvertreter/inne/n, von denen je einer/eine vom ÖZIV Bundesverband, vom Österreichischen Behindertenrat und vom Kriegsopfer- und Behindertenverband Österreich zu entsenden ist.
Nach dem Grundsatz des allgemeinen Wahlrechts ist dafür Sorge zu tragen, dass das Recht gewählt zu werden (passives Wahlrecht) allen Staatsbürgern zukommt, ohne dass die Wahlberechtigung von Voraussetzungen — 'ohne Ansehung der Person und des Geschlechts und ohne Bedachtnahme auf Stand, Bildung, Religion, Steuerleistung etc' (Stolzlechner in Rill/Schäffer, Art 120c B-VG Rz 14), wozu auch die politische Weltanschauung zählt — abhängig gemacht werden darf, die nicht jeder Bürger im wahlfähigen Alter erfüllen kann. Das bedeutet für die Organisation von Selbstverwaltungskörpern der sonstigen Selbstverwaltung, dass das passive Wahlrecht allen dort zusammengefassten Personen zuzukommen hat.
Mit Stand 25.02.2021 setzt sich die Hauptversammlung der AUVA auf der Seite der Dienstnehmervertreter aus acht Mitgliedern der Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen (FSG), drei Mitgliedern der Fraktion Christlicher Gewerkschafter (FCG) sowie einem Mitglied der Fraktion Freiheitlicher Arbeitnehmer (FA) zusammen. Davon gehörten fünf Mitglieder der FSG und ein Mitglied der FCG zugleich dem Verwaltungsrat an. Dies hat zur Folge, dass aufgrund des Ausschlusses der Verwaltungsratsmitglieder und jener Mitglieder, die derselben wahlwerbenden Gruppe wie des Obmannes und der Obmann-Stellvertreterin des Verwaltungsrats (sohin Wirtschaftsbund (WB) und (FSG)) angehörten, auf Seite der Dienstnehmervertreter/innen lediglich vier Personen ein passives Wahlrecht für die Funktion des Vorsitzenden-Stellvertreters der Hauptversammlung zukommt.
Zwar ist nach der oben dargelegten Judikatur (in Bezug auf die Entsendung in den Kreis Versicherungsvertreter/in) im Regime des Art. 120c Abs. 1 B-VG nicht grundsätzlich ausgeschlossen, bestimmte in der Person gelegene Eigenschaften (z.B. fachliche Eignung) der Versicherungsvertreter vorauszusetzen. Indem bereits die Zugehörigkeit zu einer von zwei betroffenen bestimmten wahlwerbenden Gruppe – zumal diese im gegenständlichen Fall die Mehrzahl der Versicherungsvertreter/innen stellt und damit die Mehrzahl der Dienstnehmer/innen repräsentiert – schlechthin zum Ausschluss vom passiven Wahlrecht für die Funktion des Vorsitzenden der Hauptversammlung führt, geht diese Bestimmung jedoch weit darüber hinaus und wird der in Frage kommende Personenkreis so weit eingeschränkt, dass eine demokratische Legitimation des gewählten Organs durch Ausschluss der Mitglieder einer Fraktion vom passiven Wahlrecht nicht mehr gewährleistet ist.
Der Ausschluss vom passiven Wahlrecht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer von zwei betroffenen bestimmten wahlwerbenden Gruppe (politische Fraktion/Organisation) greift unter diesen vom VfGH aufgestellten Schranken und Kriterien zweifellos in verfassungswidriger und unzulässiger Weise in die Selbstverwaltung ein und verstößt daher gegen Art 120c B-VG.
Vergleichend sei auch noch darauf hingewiesen, dass Ausschlüsse vom passiven Wahlrecht in Artikel 26 Abs. 5 B-VG ihre Grundlage finden können und exemplarisch in § 41 Nationalratswahlordnung (NRWO) auch einfachgesetzliche Regelungen bezüglich des Ausschlusses rechtskräftig verurteilter Straftäter, bei Überschreiten bestimmter, definierter Strafausmaße, vorgesehen sind. Nun verfolgt der Regelungszweck des Ausschlusses im gegenständlichen Fall vermutlich ein anderes Ziel als jener von verurteilten Straftätern; durch den Vergleich soll jedoch veranschaulicht werden, dass der Gesetzgeber aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes die vom VfGH aufgestellten Schranken und Kriterien zweifellos in verfassungswidriger und unzulässiger Weise im Blick auf das österreichische System des Wahlrechts überschritten haben wird, da die fallgegenständliche Regelung ihrem Umfang (und nicht ihrem Zweck) nach einen Ausschluss gesamter Fraktionen vorsieht, während bei Straftätern nicht alle Straftäter als gesamte Gruppe vom Ausschluss umfasst sind.
Folglich sieht das Bundesverwaltungsgericht durch § 430 Abs. 3b letzter Satz ASVG den Grundsatz der Bildung der Organe der Selbstverwaltungskörper aus dem Kreis ihrer Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen verletzt.
4. Verstoß gegen den Gleichheitssatz; Verstoß gegen die gleiche Zugänglichkeit der öffentlichen Ämter:
Aus Art 120c B-VG folgt — bestätigt durch die ständige Rechtsprechung des VfGH (vgl. VfSlg 8644, 10.306, 11.469, 17.023) -, dass die Regelungen der Organkreation ein sachliches aktives und passives Wahlrecht beinhalten müssen (vgl. auch Stolzlechner in Rill/Schäffer, Art 120c B-VG). Das Wahlrecht ist trotz eines Spielraumes des Gesetzgebers ein gleiches, freies und geheimes (vgl. VfSlg 10.412). Auch das Stimmrecht der Mitglieder muss sachlich ausgestaltet sein (VfSlg 19.751).
Der Gleichheitssatz bindet auch die Gesetzgebung (vgl. VfSlg 13.327/1993, 16.407/2001). Er setzt ihr insofern inhaltliche Schranken, als er verbietet, unsachliche, durch tatsächliche Unterschiede nicht begründbare Differenzierungen und eine unsachliche Gleichbehandlung von Ungleichem (vgl. VfSlg 17.315/2004, 17.500/2005) sowie sachlich nicht begründbare Regelungen zu schaffen (vgl. VfSlg 14.039/1995, 16.407/2001). Innerhalb dieser Schranken ist es der Gesetzgebung jedoch von Verfassungs wegen nicht verwehrt, ihre (sozial-)politischen Zielvorstellungen auf die ihr geeignet erscheinende Art zu verfolgen (vgl. VfSlg 13.576/1993, 13.743/1994, 15.737/2000, 16.167/2001, 16.504/2002). Sie kann im Rahmen ihres rechtspolitischen Gestaltungsspielraumes einfache und leicht handhabbare Regelungen treffen und darf bei der Normsetzung generalisierend von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehen und auf den Regelfall abstellen (vgl. VfSlg 13.497/1993, 15.850/2000, 16.048/2000, 17.315/2004 und 17.816/2006, 19.722/2012, jeweils mwN) sowie auch Härtefälle in Kauf nehmen (vgl. VfSlg 16.771/2002 mwN).
Nach dem Wortlaut des § 430 Abs. 3b ASVG sind mit der Funktionsausübung des Vorsitzenden der Hauptversammlung aus der Gruppe der Dienstgeber/innen sowie mit der Funktionsausübung des Stellvertreters/einer Stellvertreterin aus der Gruppe der Dienstnehmer/innen Unvereinbarkeiten mit anderen Funktionen verbunden. Unvereinbar ist es, dass der Vorsitzende sowie der Stellvertreter/die Stellvertreterin der Hauptversammlung der AUVA dem Verwaltungsrat, einem Landesstellenausschuss oder derselben wahlwerbenden Gruppe wie der Obmann/Obfrau des Verwaltungsrates bzw. sein/seine/ihr/ihre Stellvertreter/in angehört (Abs. 3b).
Den Materialien zum SV-OG, BGBl. I Nr. 100/2018 (329 der Beilagen XXVI. GP) sind in Bezug auf diesen Punkt, wie auch zu den gleichlautenden Bestimmungen des § 430 Abs. 3a ASVG und des § 139 Abs. 2a B-KUVG, keinerlei erläuternde Bemerkungen zu entnehmen. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass dem Bundesverwaltungsgericht mit Ausnahme der soeben genannten Parallelbestimmungen, keine in Geltung stehenden gleich- oder ähnlich gelagerten gesetzlichen Bestimmungen, die die Zugehörigkeit zu einer von zwei betroffenen bestimmten wahlwerbenden Gruppe als Ausschlusskriterium definieren, bekannt sind.
Damit konterkariert der Gesetzgeber das in den Art 120a, b, c B-VG enthalte Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft und deren Selbstverwaltung und verwehrt den Akteuren der Selbstverwaltung der ÖGK selbst unter demokratischen Voraussetzungen die für ihre Aufgaben am besten geeigneten Personen auszuwählen. Dies ist rechtsstaatlich unzulässig. Überdies ist das Grundrecht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 3 StGG) — auch bei der gegenständlichen Position handelt es sich um ein solches öffentliches Amt (vgl. dazu Stolzlechner in Rill/Schäffer, Art 120c B-VG) - verletzt.
Selbst wenn man der Ansicht von „Aubauer und Rosenmayr-Khoshideh, Die Versicherungsvertreter nach dem SV-OG - Neue Gremienstrukturen in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in Festschrift Marhold (2020) 249“, folgen will, dass sich der Gesetzgeber bei der gegenständlichen Bestimmung der Stärkung der Minderheitenrechte bei der Besetzung des Vorsitzenden bzw. des Stellvertreters der Hauptversammlung verschrieben haben will - wofür es in den Erläuterungen mangels Ausführungen keine Anhaltspunkte gibt, jedoch weist auch die gegenständliche Beschwerde auf § 433 ASVG hin, dass Kontrollaufgaben bei den Agenden der Hauptversammlung im Vordergrund stehen -, so erscheint die Regelung des § 441b Abs. 3 ASVG, welche im Folgeabsatz dargestellt wird, in diesem Zusammenhang als Einräumung zu weitgehender, die Verfassungsschranken durchbrechender, Rechte zugunsten der fraktionellen Minderheiten in der derzeitigen Gesetzessystematik. Ähnlich weitreichende Regelungen von Minderheitenrechten sind aus Sicht des antragstellenden Richters selbst dem Gesellschaftsrecht unbekannt.
Die Wirkung des § 430 Abs. 3b ASVG letzter Satz geht sogar so weit, dass durch die Regelung, wonach der Vorsitzende der HV nicht derselben wahlwerbenden Gruppe wie der Obmann des Verwaltungsrats bzw. sein Stellvertreter angehören darf, aufgrund § 441b Abs. 3 ASVG, den Vertretern dieser Fraktionen auch die Möglichkeit genommen wird, die Mitgliedschaft in der Hauptversammlung des Dachverbands der Sozialversicherungsträger zu erlangen und in letzter Konsequenz auch die Vorsitzführung in der Hauptversammlung des Dachverbandes zu übernehmen. Dies führt auch dazu, dass – im Gegensatz zur Hauptversammlung bei der AUVA - die Mehrheitsverhältnisse der einzelnen Fraktionen in der Hauptversammlung des Dachverbandes nicht mehr abgebildet sind. § 430 Abs. 3b ASVG scheint deshalb eine Regelung zu sein, die die verfassungsrechtlichen Schranken der einfachgesetzgeberischen Freiheiten überschreitet.
Unvereinbarkeitsbestimmungen finden sich im Regime des ASVG auch in § 420 Abs. 6 ASVG für die Entsendung von Personen als Versicherungsvertreter in die Verwaltungskörper der Sozialversicherungsträger bzw. des Hauptverbandes. § 420 Abs. 6 ASVG normiert mehrere Sachverhalte, die die Bestellung zum Versicherungsvertreter ausschließen (z.B. Dienstverhältnis zu Versicherungsträger oder Dachverband, regelmäßige geschäftliche Beziehung mit einem Versicherungsträger oder Dachverband). Ziel des Abs. 6 ist offenkundig der Schutz der Verwaltungskörper und ihrer „unverfälschten demokratischen Legitimation“ (so Souhrada in Sonntag, ASVG 11. Auflage, § 420 Rz 12, 15: Verhinderung der Beeinflussung der Funktionäre durch demokratiefremde Motive, etwa wirtschaftliche Beweggründe) (Sild in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 420 ASVG (Stand 1.7.2020, rdb.at) Rz 27). Der durch das SV-OG neu hinzugekommene Ausschluss von Mitgliedern der gesetzgebenden Organe auf EU-, Bundes- und Landesebene (Europäisches Parlament, NR/BR und Landtage) sowie der Bundes- und der Landesregierungen (§ 420 Abs. 6 Z1 ASVG) soll der Vermeidung von Interessenkonflikten zwischen dem politischen Mandat und der Funktion als Versicherungsvertreter dienen (vgl. Sild in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 420 ASVG (Stand 1.7.2020, rdb.at) Rz 29 mit Verweis auf die ErläutRV 329 BlgNR 26. GP 15 f).
Demgegenüber erhellt sich für das erkennende Gericht nicht, inwiefern bereits allein in der Zugehörigkeit des Vorsitzenden bzw. des Stellvertreters der Hauptversammlung und des Obmannes bzw. des Stellvertreters des Verwaltungsrates zu derselben wahlwerbenden Gruppe ein gleichgelagerter Interessenskonflikt begründet wäre und ein Ausschluss der betroffenen Versicherungsvertreter/innen von der Funktion des/der Vorsitzenden der Hauptversammlung gerechtfertigt wäre. Erneut darf an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Erläuterungen zur Regierungsvorlage hierzu keinen Aufschluss geben.
Das Bundesverwaltungsgericht vermag insofern der Argumentation der belangten Behörde, wonach eine Parität nach wahlwerbenden Gruppen in analogiam zur, vom VfGH als zulässig beurteilten, Parität der Dienstgeber- und Dienstnehmer/innenvertreter in den Verwaltungskörpern der Sozialversicherungsträger sachlich gerechtfertigt wäre, nicht zu folgen, geht es hierbei schließlich um eine gänzlich anders gelagerte Problematik, nämlich die Frage der Zulässigkeit der demokratischen Repräsentation der Dienstgeber in den Organen der Sozialversicherungsträger, die auf Leistungsseite auch Dienstnehmer als Versicherte betrifft. Dabei fand der VfGH aufgrund der Beitragsleistung vonseiten der Dienstgeber und dem gemeinsamen Interesse an der Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung für die nach dem ASVG versicherten keine Bedenken an der gesetzlich normierten (sozialpartnerschaftliche) Parität von Dienstgebern und Dienstnehmern in den Organen der Sozialversicherungsträger (vgl. VfGH G78/2019). Die Grundsätze dieser Judikatur lassen sich freilich nicht auf das Verhältnis der unterschiedlichen in den Verwaltungskörpern der Sozialversicherungsträger vertretenen wahlwerbenden Gruppen untereinander umlegen, zumal der demokratischen Zusammensetzung der Verwaltungskörper im Hinblick auf die Mehrheitsverhältnisse der einzelnen Fraktionen ohnehin aufgrund der Entsendung der Versicherungsvertreter/innen durch die zuständigen öffentlich-rechtlichen Interessensvertretungen nach dem System d´Hondt (§ 421 Abs. 2 ASVG) Rechnung getragen ist. Damit finden bei der Wahl des/der Vorsitzenden bzw. des Stellvertreters/der Stellvertreterin der Hauptversammlung, für die gemäß § 430 Abs. 3b ASVG jeweils die einfache Mehrheit der Mitglieder der Hauptversammlung erforderlich ist, in der alle Fraktionen gemäß ihren Stimmenverhältnissen vertreten sind, eine Ausgestaltung nach demokratischen Grundsätzen, die durch Abs. 3b letzter Satz eine insofern sachlich nicht zu rechtfertigende Einschränkung erfährt.
Folglich sieht das Bundesverwaltungsgericht durch § 430 Abs. 3b letzter Satz ASVG auch den Gleichheitssatz iSd Art. 7 Abs. 1 B-VG, Art. 2 StGG und Art. 14 EMRK sowie Art. 3 StGG verletzt.
5. Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 StGG (Erwerbsfreiheit):
Gemäß § 420 Abs. 5 ASVG lautet:
„(5) Die Tätigkeit als Mitglied eines Verwaltungskörpers erfolgt auf Grund einer öffentlichen Verpflichtung und begründet kein Dienstverhältnis zum Versicherungsträger. Hiefür gebühren Entschädigungen nach folgenden Grundsätzen:
1. Die Mitglieder der Verwaltungskörper haben Anspruch auf Ersatz der Reise- und Aufenthaltskosten nach Maßgabe von Richtlinien nach § 30a Abs. 1 Z 31.
2. Die Obmänner/Obfrauen und ihre Stellvertreter/innen, die Vorsitzenden der Hauptversammlungen und ihre Stellvertreter/innen sowie die Vorsitzenden der Landesstellenausschüsse und ihre Stellvertreter/innen haben Anspruch auf Funktionsgebühren. Das Nähere hat die Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz nach Anhörung des Dachverbandes durch Verordnung unter Bedachtnahme auf den örtlichen Wirkungsbereich und die Zahl der Versicherten des jeweiligen Versicherungsträgers zu bestimmen; dabei darf die für ein Jahr zustehende Funktionsgebühr 40% des einem Mitglied des Nationalrates jährlich gebührenden Bezuges nicht übersteigen.
3. Die Mitglieder der Verwaltungskörper, soweit sie nicht unter Z 2 fallen, haben Anspruch auf Sitzungsgeld, dessen Höhe durch Verordnung der Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz nach Anhörung des Dachverbandes festzusetzen ist.
§ 107 Abs. 4 ist anzuwenden.“
Maßgeblich für die Höhe und die Auszahlung der Funktionsgebühr ist dabei die Entschädigungs-Verordnung, BGBl II Nr. 82/2019.
Der Ausschluss vom passiven Wahlrecht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer von zwei betroffenen bestimmten wahlwerbenden Gruppe greift in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf freie Erwerbsausübung ein, da nur die Vorsitzenden der Hauptversammlung und ihre Stellvertreter/innen Anspruch auf Funktionsgebühren haben, weshalb das Bundesverwaltungsgericht durch § 430 Abs. 3b letzter Satz ASVG auch Art. 6 StGG verletzt sieht.
6. Schlussfolgerung; Aufhebungsumfang
Aus den vorgetragenen Bedenken ergibt sich nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts die Verfassungswidrigkeit des letzten Satzes des § 430 Abs. 3b ASVG in der im Spruch genannten Fassung. Dieser Aufhebungsumfang ist geeignet, um die dargelegte Verfassungswidrigkeit zu bereinigen, weil es nach Aufhebung der in diesem Umfang angefochtenen Bestimmung zu keinen Ausschlüssen des passiven Wahlrechts von Vertretern einzelner oder mehrerer wahlwerbender Gruppen von Vorstands- bzw. Stellvertreterfunktionen in der Hauptversammlung der AUVA käme.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 9 B-VG in Verbindung mit § 25a Abs. 3 VwGG nicht zulässig.
Schlagworte
Erwerbsfreiheit Gesetzprüfungsantrag Gleichheitsgrundsatz Hauptversammlung passives Wahlrecht politische Zugehörigkeit Präjudizialität Selbstverwaltung verfassungsrechtliche Bedenken Versicherungsvertreter Wahlrecht - AusschlussEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W228.2234424.1.00Im RIS seit
10.06.2021Zuletzt aktualisiert am
10.06.2021