TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/6 W148 2194492-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.04.2021
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Entscheidungsdatum

06.04.2021

Norm

AsylG 2005 §3
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W148 2194492-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. KEZNICKL als Einzelrichter über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vom 26.04.2018 gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.03.2018, Zl. XXXX zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

I.1. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) hat nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 25.01.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005) gestellt.

2. Am 26.01.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt, bei der er zu seinem Fluchtgrund befragt vorbrachte, dass er in Afghanistan geboren worden sei, aber im Iran aufgewachsen sei. Er persönlich habe keinen Fluchtgrund. Sein Vater habe sowohl in Afghanistan als auch im Iran Probleme gehabt. Es handle sich dabei um einen Grundstücksstreit zwischen seinem Vater und seinen Cousins in Afghanistan. Sein Vater sei zwei- oder dreimal nach Afghanistan gereist, um dieses Problem zu lösen, das habe aber nichts gebracht. Dann habe sein Vater zu ihnen gesagt, dass sie alle aus dem Iran nach Europa fliehen müssten, weil sie im Iran illegal gewesen seien und sollten sie nach Afghanistan abgeschoben werden, hätten sie dort mit seinen Cousins große Probleme.

3. Bei seiner Einvernahme am 12.03.2018 führte der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, Außenstelle Klagenfurt (in Folge: BFA), im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, zu seinen Fluchtgründen aus, dass er von seinem Vater erfahren habe, dass dieser Probleme wegen ihrer Grundstücke in Afghanistan gehabt habe. Sein Vater sei ein- oder zweimal nach Afghanistan gefahren und habe das lösen wollen, habe aber diese Probleme nicht lösen können. Der BF habe gehört, wenn sein Vater nach Afghanistan zurückgehe, werde dieser durch dessen Cousin umgebracht. Sie hätten im Iran keinen gültigen Ausweis gehabt und der BF habe nicht in die Schule gehen können, deshalb seien sie geflüchtet.

4. Am 14.03.2018 langte eine Stellungnahme des BF zu den Länderfeststellungen und zur Sicherheits- und Versorgungslage sowie zur Situation von Rückkehrern, die den Großteil ihres Lebens im Iran verbracht haben, beim BFA ein.

5. Das BFA hat mit Bescheid vom 29.03.2018, Zl. XXXX , den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2500 (AsylG) idgF abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Absatz 1 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Absatz 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 28.03.2019 erteilt (Spruchpunkt III).

Die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten begründete das BFA damit, es habe nicht festgestellt werden können, dass der BF sein Herkunftsland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen habe.

6. Mit Verfahrensanordnung wurde dem BF ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

7. Gegen Spruchpunkt I. des oben genannten Bescheides richtet sich die beim BFA fristgerecht eingelangte Beschwerde des BF an das Bundesverwaltungsgericht. Der BF werde in Afghanistan wegen seiner Familienzugehörigkeit aufgrund von Sippenhaft bzw. Blutrache durch die Cousins seines Vaters verfolgt. Auch drohe ihm als Angehöriger einer ethnischen Minderheit Verfolgung bzw. Diskriminierung und er sei darüber hinaus kinderspezifischer Verfolgung ausgesetzt. Dem BF drohe auch Verfolgung bzw. Diskriminierung wegen der Unterstellung einer westlichen Gesinnung aufgrund des mehrjährigen Aufenthaltes im Iran und in Europa. Neben der Unterstellung einer bestimmten Gesinnung seien Rückkehrer aus Europa auch aus anderen Gründen – wie Annahme von Wohlstand – einem spezifischen Verfolgungsrisiko ausgesetzt.

8. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 11.12.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein seiner damaligen Rechtsvertretung persönlich teilnahm. Die belangte Behörde erschien nicht zur Verhandlung. Er wurde ausführlich zu seinem Fluchtvorbingen befragt. Durch den erkennenden Richter wurde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, mit Stand 21.07.2020, in das Verfahren eingebracht. Der BF gab legte eine schriftliche Stellungnahme vor.

9. Die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe hat, aufgrund des Übergangs der Rechtberatung auf die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen mit 01.01.2021, die ihr in Beschwerdeverfahren vor dem BVwG als Rechtsvertreter gemäß § 52 BFA-VG erteilten Vollmachten mit 31.12.2020 niedergelegt.

I.2. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Sachverhalt)

Das Bundesverwaltungsgericht geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgebenden Sachverhalt aus:

a) Zur Person und zum Vorbringen des BF

1. Der Name des BF ist XXXX , er wurde am XXXX in der Provinz Baghlan im Distrikt Andarab geboren. Er ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Weiters ist er Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari. Die Feststellungen zur Identität des BF gelten ausschließlich für die Identifizierung seiner Person im Asylverfahren.

2. Der BF ist in der Provinz Baghlan im Distrikt Andarab geboren und im Alter von vier oder fünf Jahren gemeinsam mit seiner Familie in den Iran gezogen. Im Iran hat er eine Koranschule besucht und seinen Vater bei dessen Arbeit in der Landwirtschaft unterstützt. Sein Vater ist für seinen Lebensunterhalt aufgekommen.

3. Der BF wurde nach der Ausreise aus dem Iran von seiner Kernfamilie getrennt und hat diesbezüglich eine Suche beim Roten Kreuz beantragt. Sein Onkel mütterlicherseits lebt im Iran und sein Onkel väterlicherseits lebt in Pakistan. Über den aktuellen Aufenthaltsort von weiteren Familienangehörigen hat der BF keine Informationen.

4. Der BF hat im Jänner 2016 den Iran verlassen und hat nach unrechtmäßiger Einreise in Österreich am 25.01.2016 den gegenständlichen Antrag gestellt.

5. Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

6. Der BF war in seinem Herkunftsstaat oder wäre bei einer Rückkehr dorthin, wegen Grundstückstreitigkeiten zwischen seinem Vater und dessen Cousin, keiner Bedrohung oder Verfolgung durch den Cousin seines Vaters im Rahmen einer Blutrache ausgesetzt.

Weiters war oder wäre konkret der BF als Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken keiner psychischen und/oder physischen Gewalt in Afghanistan ausgesetzt. Es wäre auch nicht jeder Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt.

Der BF leidet nicht an einer psychischen Erkrankung, weshalb er deswegen auch keiner gesellschaftlichen Stigmatisierung oder Diskriminierung bei einer Rückkehr nach Afghanistan ausgesetzt wäre.

Ebenso wäre der BF aufgrund seiner nunmehrigen Volljährigkeit bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keiner kinderspezifischen Gefährdung ausgesetzt.

Außerdem wäre konkret der BF aufgrund der Tatsache, dass er sich im Iran und in Europa aufgehalten hat sowie wegen seiner Lebensführung in Österreich, in Afghanistan keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt. Es wäre auch nicht jeder afghanische Staatsangehörige, der aus dem Iran oder Europa zurückkehrt in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt.

Der BF konnte somit nicht glaubhaft machen, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.

b) Zur Lage im Herkunftsstaat

Das Bundesverwaltungsgericht trifft folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 01.04.2021:

Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020). Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genausogewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu.

Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen: In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).

Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020).

Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jalaluddin Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020, RFE/RL 2.6.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen absolviert haben und ethnische Paschtunen sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 1.6.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.9.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020, UNSC 27.5.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.8.2017).

In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019). Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 Prozent zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021).

Baghlan

Baghlan, das sich im Nordosten Afghanistans befindet, grenzt an die Provinzen Bamyan, Samangan, Kunduz, Takhar, Panjshir, Parwan (UNOCHA Baghlan 4.2014), und in einem sehr kleinen Abschnitt an Balkh (AIMS o.D.). Baghlan ist in die folgenden 15 Distrikte unterteilt: Andarab, Baghlan-e-Jadeed (auch bekannt als Baghlan-e-Markazi), Burka, Dahana-e-Ghuri, Deh Salah, Dushi, Firing Wa Gharu, Gozargah-e-Noor, Khinjan, Khost Wa Firing, Khwaja hejran (Jalga), Nahreen, Pul-e-Hisar, Pul-i-Khumri und Tala Wa Barfak. Die Hauptstadt der Provinz ist Pul-i-Khumri (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Baghlan 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Baghlan im Zeitraum 2020-21 auf 1,014.634 Personen (NSIA 1.6.2020). Eine knappe Mehrheit der Einwohner von Baghlan sind Tadschiken, gefolgt von Paschtunen und Hazara als zweit- bzw. drittgrößte ethnische Gruppen.

Außerdem leben ethnische Usbeken und Tataren in Baghlan (NPS Baghlan o.D.). Baghlan liegt an der nördlichen Strecke der Ring Road, auch als Highway 1 bekannt. Die Ring Road verbindet die Hauptstadt Kabul über den Salang-Pass mit der nordöstlichen Region Afghanistans und in weiterer Folge dem Norden des Landes mit seiner Hauptstadt Mazar-e Sharif. Bei Pul-i-Khumri zweigt jene Straße ab, welche Richtung Osten nach Kunduz, der regionalen Hauptstadt des Nordostens, und weiter über den Flusshafen von Sher Khan Bandar nach Tadschikistan führt (AAN 30.10.2019). Im September 2020 wurde berichtet, dass die Taliban an Kontrollpunkten in Baghlan Zölle auf den Warentransport zwischen Kabul und Kunduz einhoben (TN 19.9.2020) und im Juli 2020 unterbrachen Kämpfe am Stadtrand von Pul-i-Khumri den Verkehr von und nach Balkh (TN 6.7.2020). Die Sicherheit in Baghlan ist auch bedeutsam für die Energieversorgung Kabuls, da Stromleitungen aus Tadschikistan und Usbekistan durch die Provinz verlaufen. Kämpfe in Baghlan führten wiederholt zu Stromausfällen (KP 25.8.2020; KP

5.5.2020; KP 23.4.2020).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Baghlan gehört zu den unruhigsten Provinzen in Afghanistan, es finden immer wieder heftige Kämpfe statt, meist zwischen Taliban und Regierungstruppen (DFK 13.2.2020; vgl. KP 21.6.2020). Die Taliban ließen sich an verschiedenen Orten in der Nähe des Highway 1 und seiner nordöstlichen Abzweigung nach Kunduz nieder und schufen so die Möglichkeit, seine Nutzung bei größeren Angriffsoperationen zu unterbrechen. Dies geschah beispielsweise im September 2019 (AAN 30.10.2019), als die Taliban gleichzeitig Pul-i-Khumri und Kunduz-Stadt angriffen (AAN 11.9.2019; vgl. UNGASC 10.12.2019; AAN 30.10.2019). Weiters wird berichtet, dass der Islamische Staat (IS) in der Provinz eine kleinere Zelle unterhält (VOA 20.3.2020; vgl.

TN 12.3.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich Baghlan im Verantwortungsbereich des 217. Afghan NationalArmy (ANA) „Pamir“ Corps (USDOD 1.7.2020; BNA 31.8.2020), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welches von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 253 zivile Opfer (81 Tote und 172 Verletzte) in der Provinz Baghlan. Dies entspricht einem Rückgang von 28% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) (UNAMA 2.2021). Es kam in Baghlan zu direkten Kämpfen zwischen Aufständischen und Regierungstruppen (AT 26.8.2020; UNOCHA 18.8.2020; BAMF 17.8.2020; RFE/RL 6.8.2020; UNOCHA 15.7.2020; UNOCHA 28.6.2020; BAMF 6.4.2020; RFE/RL 30.3.2020; KP 23.1.2020), Talibankämpfer versuchten, Dörfer (AT 26.8.2020) und einen Distrikt zu überrennen (XI 12.9.2020) und griffen Sicherheitsposten der Regierungstruppen an (TN 30.9.2020; NYTM 24.9.2020; NYTM 30.7.2020; NYTM 30.4.2020; AAN 8.4.2020; TN 2.2.2020; AnA 28.1.2020), unter anderem auch in der Provinzhauptstadt Pul-i-Khumri (NYTM 30.7.2020; TN 18.6.2020). Die Regierungstruppen führten Luftangriffe (AT 26.8.2020; NYTM 30.7.2020; PAJ 22.7.2020) und Räumungsoperationen durch (TN 16.7.2020; TN 1.2.2020) und und eroberten im Februar 2020 den Distrikt Gozargah-e-Noor zurück, der sich in den vergangenen fünf Monaten unter Talibankontrolle befunden hatte (TN 1.2.2020).

Es kam zu Detonationen von Sprengfallen am Straßenrand (TN 5.8.2020; NYTM 30.7.2020) - auch in der Provinzhauptstadt (TN 19.8.2020b; NYTM 30.7.2020; MENAFN 28.7.2020) -, sowie versuchten Selbstmordanschlägen (UNAMA 7.2020; BNA 29.3.2020; PAJ 2.2.2020).

Religionsfreiheit:

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 6.10.2020; vgl. AA 16.7.2020). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus (AA 16.7.2020; vgl. CIA 6.10.2020, USDOS 10.6.2020). Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 10.6.2020). In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (USDOS 10.6.2020).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 10.6.2020; vgl. FH 4.3.2020). Ausländische Christen und einige wenige Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den ländlichen Gesellschaften ist man tendenziell feindseliger (RA KBL 10.6.2020). Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 16.7.2020; vgl. USCIRF 4.2020, USDOS 10.6.2020), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 16.7.2020).

Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (RA KBL 10.6.2020). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 8.11.2017). Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (USDOS 10.6.2020). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 16.7.2020). Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.6.2020).

Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 10.6.2020). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 10.6.2020; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 10.6.2020).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Recht zu sprechen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime. Vertreter nicht-muslimischer religiöser Minderheiten, darunter Sikhs und Hindus, berichten über ein Muster der Diskriminierung auf allen Ebenen des Justizsystems (USDOS 10.6.2020).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 10.6.2020). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.3.2020). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 10.6.2020; vgl. FH 4.3.2020). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 10.6.2020).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 10.6.2020). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 10.6.2020).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 10.6.2020).

Ethnische Gruppen:

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016).

Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 11.3.2020). Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 11.3.2020).

Tadschiken

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan (MRG o.D.d; vgl. RFE/RL 9.8.2019) und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land (MRG o.D.d). Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.d). Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (GIZ 4.2019).

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.d). Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara,zusammengefasst (STDOK 7.2016). Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten (MRG o.D.d). Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (BI 29.9.2017).

Rückkehr

In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union und die Zahl derer die freiwillig, unterstützt und zwangsweise nach Afghanistan zurückkehren, nimmt zu (MMC 1.2019). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (IOM 7.5.2020). IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.2.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan(USAID 12.1.2021; vgl. TNH 26.1.2021). Im gesamten Jahr 2018 kehrten, im Vergleich dazu, aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 Personen nach Afghanistan zurück (IOM 5.1.2019, vgl. AA 16.7.2020).

Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan ist aktuell (Stand 19.3.2021) über den Luftweg möglich. Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar (IOM 18.3.2021; vgl. F 24 19.3.2021). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Flugverbindungen unzuverlässig sind - in Zeiten einer Pandemie können Flüge gestrichen oder verschoben werden (IOM 18.3.2021). Seit 12.8.2020 ist der Grenzübergang Spin Boldak an der pakistanischen Grenze sieben Tage in der Woche für Fußgänger und Lastkraftwagen geöffnet (UNHCR 12.9.2020). Der pakistanische Grenzübergang in Torkham ist montags und dienstags für Rückkehrbewegungen nach Afghanistan und zusätzlich am Samstag für undokumentierte Rückkehrer und andere Fußgänger geöffnet (UNHCR 12.9.2020).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Ohne familiäre Netzwerke kann es sehr schwer sein, sich selbst zu erhalten, da in Afghanistan vieles von sozialen Netzwerken abhängig ist. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019). Aufgrund der Sicherheitslage ist es Rückkehrern nicht immer möglich, in ihre Heimatorte zurückzukehren (VIDC 1.2021).

„Erfolglosen“ Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des „Versagens“ an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; cf. Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer drückten ihr Bedauern und ihre Scham über die Rückkehr aus, die sie als eine vertane Chance betrachteten, bei der Geld und Zeit verschwendet wurden (Seefar 7.2018; vgl. VIDC 1.2021, MMC 1.2019).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 14.7.2020, IOM AUT 23.1.2020, VIDC 1.2021). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 16.7.2020).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vgl. IOM KBL 30.4.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017). Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020), auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (STDOK 4.2018; vgl. VIDC 1.2021).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird (AA 16.7.2020). UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (STDOK 13.6.2019).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 16.7.2020) und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt (IOM KBL 30.4.2020). Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll (STDOK 10.2020; vgl Seefar 7.2018), wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird (Seefar 7.2018). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich (STDOK 13.6.2019; vgl. VIDC 1.2021) und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.6.2019).

II. Beweiswürdigung:

Der Beweiswürdigung liegen folgende maßgebende Erwägungen zugrunde:

II.1. Zum Verfahrensgang

Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des vorliegenden Gerichtsakts des Bundesverwaltungsgerichts.

II.2. Zur Person und zum Vorbringen des Beschwerdeführers

1. Die Feststellungen zur Identität (Name, Geburtsdatum und Geburtsort), zur Staatsangehörigkeit sowie zur Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit beruhen auf den diesbezüglich glaubhaften Angaben des BF im Verfahren und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG. Dass die Muttersprache des BF Dari ist ergibt sich aus seinen Aussagen vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung.

2. Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen in Afghanistan und im Iran stützen sich auf die im Wesentlichen stringenten Angaben des BF vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.

3. Dass der BF nach der Ausreise aus dem Iran von seiner Kernfamilie getrennt wurde und diesbezüglich eine Suche beim Roten Kreuz beantragt hat, ergibt sich aus den Aussagen des BF bei seiner Einvernahme vor der belangten Behörde, die er in der Beschwerdeverhandlung bestätigte.

Die Feststellung, dass sein Onkel mütterlicherseits im Iran lebt und sein Onkel väterlicherseits in Pakistan lebt, beruht auf seinen diesbezüglich gleichbleibenden Äußerungen im verwaltungsbehördlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahren.

Die Feststellung, dass der BF keine Informationen über den aktuellen Aufenthaltsort von weiteren Familienangehörigen hat, gründet auf die Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung, denen zufolge er nur wisse, wo seine beiden Onkel lebten und er in Afghanistan zu niemandem Kontakt habe (Verhandlungsschrift [„VHS“] S. 6).

4. Die Feststellung zur unrechtmäßigen Einreise in Österreich stützt sich auf die Aussage des BF bei seiner Erstbefragung, nach der er nicht mit den für die Einreise nach Österreich vorgeschriebenen Dokumenten in das Bundesgebiet einreiste.

5. Die Feststellung zur strafrechtlichen Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus dem aktuellen Strafregisterauszug.

6. Zum Fluchtvorbringen des BF:

Festzuhalten ist vorweg, dass der BF keine Belege für sein Vorbringen beibringen konnte. Besondere Bedeutung kommt daher dem Vorbringen eines Asylwerbers zu, das auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen ist. Dieses muss genügend substantiiert, plausibel und in sich schlüssig sein. Es obliegt dem BF, die in seiner Sphäre gelegenen Umstände seiner Flucht einigermaßen nachvollziehbar und genau zu schildern. Schließlich muss der BF auch persönlich glaubwürdig sein.

Laut der Rechtsprechung des VwGH bedarf es zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung (vgl. etwa VwGH 24.09.2014, Ra 2014/19/0020, 16.04.2002, 2000/20/0200 und 14.12.2006, 2006/01/0362). Es ist eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich und die Dichte dieses Vorbringens darf nicht mit "normalen Maßstäben" gemessen werden. Das Fluchtvorbringen des BF in seiner Erstbefragung und in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde ist unter diesem Gesichtspunkt zu würdigen. Weiters wird darauf Bedacht genommen, dass der BF die fluchtauslösenden Ereignisse als Minderjähriger erlebt hat.

6.1. Zur Bedrohung durch die Cousins seines Vaters:

Der BF gab in seiner Erstbefragung zu seinen Fluchtgründen an, dass er persönlich keinen Fluchtgrund habe. Sein Vater habe sowohl in Afghanistan als auch im Iran Probleme gehabt. Es handle sich dabei um einen Grundstücksstreit zwischen seinem Vater und seinen Cousins in Afghanistan. Sein Vater sei zwei- oder dreimal nach Afghanistan gereist, um dieses Problem zu lösen, aber das habe nichts gebracht. Dann habe sein Vater zu ihnen gesagt, dass sie alle aus dem Iran nach Europa fliehen müssten, weil sie im Iran illegal gewesen seien und sollten sie nach Afghanistan abgeschoben werden, hätten sie dort mit seinen Cousins große Probleme gehabt.

In der behördlichen Einvernahme vor dem BFA führte er, zu seinen Fluchtgründen aus, dass er von seinem Vater erfahren habe, dass dieser Probleme wegen ihrer Grundstücke in Afghanistan gehabt habe. Sein Vater sei ein- oder zweimal nach Afghanistan gefahren und habe das lösen wollen, aber dieser habe die Probleme nicht lösen können. Der BF habe gehört, wenn sein Vater nach Afghanistan zurückgehe werde dieser durch dessen Cousin umgebracht. Sie hätten im Iran keinen gültigen Ausweis gehabt und der BF habe nicht in die Schule gehen können, deshalb seien sie geflüchtet. In der mündlichen Verhandlung wiederholte er im Wesentlichen sein bisheriges Fluchtvorbringen.

Zunächst blieben die Schilderungen des BF zu seinem Fluchtvorbringen vage und unsubstantiiert. In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde war er nicht in der Lage nähere Ausführungen zum Cousin seines Vaters zu machen. Er gab an, dass sie sich nie begegnet seien. Er wisse nichts genaueres über das Problem seines Vaters, da sein Vater ihnen das nie erzählt habe. Der BF habe das einfach mitbekommen (Niederschrift der Einvernahme [„EV“] S. 8 f.). In der Beschwerdeverhandlung meinte er ebenfalls, dass sie damals sehr jung gewesen seien, ihre Eltern hätten mit ihnen nicht darüber geredet, aber sie hätten immer zugehört, wenn sie miteinander gesprochen hätten, so hätten sie gewusst, wie das alles gewesen sei (VHS S. 7). Zu einer Verfolgung durch den Cousin seines Vaters konnte der BF im Lauf des Verfahrens nur oberflächliche Mutmaßungen anstellen. Dabei wäre anzunehmen, dass der BF bei einer tatsächlichen Verfolgungsgefahr durch den Cousin seines Vaters konkrete Aussagen zu den Bedrohungen durch diesen treffen könnte, was ihm jedoch nicht gelang. Dabei wird vom Bundesverwaltungsgericht die Minderjährigkeit des BF zum Zeitpunkt der fluchtauslösenden Ereignisse berücksichtigt, weshalb die Dichte seines Vorbringens nicht jenen eines Erwachsenen entspricht. Außerdem wird nicht verkannt, dass er keine eigenen Wahrnehmungen zu den Problemen zwischen seinem Vater und dessen Cousin hat. Doch selbst unter dieser Annahme wäre zu erwarten, dass der BF zumindest versucht hätte, durch Nachfrage bei seinen Eltern mehr über diese Probleme zu erfahren, insbesondere da sein Vater, seinen Aussagen zufolge, zwei oder drei Jahre vor ihrer Ausreise aus dem Iran in Afghanistan gewesen sei, um das Problem zu lösen. Angesichts des vom BF ins Treffen geführten unsicheren Aufenthaltes im Iran und ihrer Angst vor einer Abschiebung in den Herkunftsstaat wäre damit zu rechnen, dass sein Vater ihm mit zunehmendem Alter – vor ihrer Ausreise aus dem Iran war der BF dreizehn Jahre alt – Details zur vermeintlichen Bedrohung durch dessen Cousin väterlicherseits erzählt hätte.

Ferner war aus den Erläuterungen des BF, zu den Problemen seines Vaters aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten mit dessen Cousin, keine maßgebliche Bedrohung oder Verfolgung ableitbar. In seiner Erstbefragung sagte er, dass sein Vater zwei- oder dreimal nach Afghanistan gereist sei,um dieses Problem zu lösen. In der behördlichen Einvernahme sprach er davon, dass sein Vater zur Lösung des Problems ein- oder zweimal nach Afghanistan gefahren sei. Sein Vater sei diesbezüglich zwei oder drei Jahre vor ihrer Ausreise aus dem Iran in Afghanistan gewesen und habe mit den Dorfältesten geredet. Damals sei seinem Vater nichts passiert (EV S. 8 f.).

Es wird nicht verkannt, dass den in der Beschwerde und in der Stellungnahme vom 10.12.2020 zitierten Länderberichten zufolge Grundstücksstreitigkeiten in Afghanistan verbreitet sind und gewaltsam enden können. Allerdings heißt es in einem zitierten EASO COI vom Dezember 2017, dass 25% der Grundstücksstreitigkeiten in Feindseligkeiten und Blutvergießen enden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, das 75% der Grundstücksstreitigkeiten gewaltfrei verlaufen. Weiters wurde in der Beschwerde eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 10.11.2011 zitiert, aus der hervorgeht, dass Konflikte um Land in einer Vielzahl von Formen existieren, etwa auch in Form von gewaltfreien Erbschaftsstreitigkeiten zwischen Geschwistern.

Vor dem Hintergrund dieser Länderberichte wurde in der Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides schlüssig argumentiert, dass der Vater des BF bei einer tatsächlichen Lebensgefahr nicht wiederholt in ihren Herkunftsort zurückgekehrt wäre, um die Rechte an den strittigen Grundstücken geltend zu machen. Es wäre unlogisch, dass sein Vater die restliche Familie im Iran zurückgelassen und sich durch die Rückkehr nach Afghanistan einer ernsthaften Lebensgefahr ausgesetzt hätte. Vor allem da primär sein Vater für den Lebensunterhalt der Familie aufgekommen ist und sie somit von diesem abhängig waren. In der Beschwerde wurde moniert, dass die belangte Behörde nicht dargelegt habe, wie sie zu dem Schluss gekommen sei, dass sein Vater zum Zwecke der Geltendmachung seiner Rechte in den Herkunftsstaat gereist sei. Der BF habe lediglich vorgebracht, dass sein Vater um die Lösung des Streites bemüht gewesen sei, habe jedoch nicht spezifiziert, wie diese Lösung nach der Vorstellung des Vaters aussehen könnte. Dieser Darstellung ist zu entgegen, dass bei einem Desinteresse seines Vaters an den Eigentumsrechten an den Grundstücken von vorneherein kein Grund für eine Streitigkeit mit dessen Cousin erkennbar wäre, weshalb die Argumentation des BFA einleuchtend war.

Wenn eine wirkliche Verfolgungsabsicht seitens des Cousins seines Vaters bestanden hätte, dann hätte dieser die Gelegenheit genützt, um bei der wiederholten Rückkehr seines Vaters gegen diesen vorzugehen. Dass sein Vater trotz der behaupteten Streitigkeiten unversehrt blieb zeigt, dass die Grundstücksstreitigkeiten kein gewalttätiges Niveau erreichten, mögen sie auch sonst konfliktreich gewesen seien. In der Beschwerde wurde behauptet, der BF habe im Beschwerdegespräch erklärt, dass er mit der Aussage, seinem Vater sei damals nichts passiert, lediglich gemeint habe, dass sein Vater nicht umgekommen sei. Er wisse nicht, ob sein Vater während des Aufenthaltes in Afghanistan angegriffen worden sei oder ob der Vater neben den Dorfältesten auch den Cousin persönlich getroffen habe. Doch diese Behauptung ist nicht überzeugend, denn es wäre anzunehmen, dass der BF eine Verletzung seines Vaters bei dessen Rückkehr jedenfalls bemerkt hätte und über ein so einschneidendes Ereignis, wie einen Angriff durch dessen Cousin, informiert worden wäre. Er erzählte in der Einvernahme vor dem BFA, dass er diese Probleme „mitbekommen“ habe und in der mündlichen Verhandlung sagte er, dass er zugehört habe, wenn seine Eltern darüber gesprochen hätten. Es ist also naheliegend, dass seine Eltern insbesondere einen Angriff auf seinen Vater ausführlich diskutiert hätten und der BF darüber erfahren hätte. Somit blieben die Erläuterungen, zu einem Angriff auf den Vater des BF durch dessen Cousin im Herkunftsstaat spekulativ.

Daher ist der Einschätzung der belangten Behörde beizupflichten, dass bei einer Zusammenschau der Ausführungen des BF, davon auszugehen ist, dass sein Vater vergebens versucht hat, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln – wie der Intervention der Dorfältesten – dessen Ansprüche an den strittigen Grundstücken geltend zu machen, weshalb letztlich die Streitigkeiten zugunsten dessen Cousins entschieden wurden. In der Beschwerde des BF wurde kritisiert, dass aus seiner Aussage weder die Durchführung eines Verfahrens mit einer Entscheidung der Dorfgemeinschaft noch der Ausgang eines derartigen Verfahrens ersichtlich sei. Dabei wird die Schlussfolgerung der belangten Behörde sogar durch einen Länderbericht in der schriftlichen Stellungnahme des BF vom 10.12.2020 gestützt, demzufolge mächtige Familien bei einer Ehrverletzung normalerweise Vergeltung übten, während weniger mächtige und arme Familien in der Regel Verhandlungen und eine Versöhnung durch Älteste oder eine Bestrafung durch die Regierung akzeptierten.

Überdies wurde in der Stellungnahme eines der Risikoprofile der EASO Richtlinien von 2019 (die EASO Richtlinien von 2020 beinhalten diesbezüglich keine wesentlichen Änderungen) zitiert, demzufolge der Verlust von Land selbst normalerweise nicht zu Verfolgung führen würde. Allerdings könne die physische Gewalt, die sich aus Landstreitigkeiten ergebe, zusammen mit dem Fehlen eines wirksamen Rechtssystems, das dies verhindere, zu schweren Verletzungen grundlegender Menschenrechte führten, die einer Verfolgung gleichkämen (z. B. Tötung). Nicht alle Personen, die unter dieses Profil fielen, seien so stark gefährdet, dass eine begründete Angst vor Verfolgung bestehe. Die individuelle Beurteilung, ob ein angemessenes Maß an Wahrscheinlichkeit bestehe, dass der Antragsteller von Verfolgung bedroht sei, sollte risikorelevante Umstände berücksichtigen, wie z. B.: gewalttätiger Charakter des Streits, Macht/Einfluss der in die Landstreitigkeiten involvierten Parteien, Herkunftsgebiete mit schwacher Rechtsstaatlichkeit usw. Aus der Darstellung des BF zu den Grundstückstreitigkeiten waren keine substantiierten Anhaltspunkte für Gewalthandlungen zwischen seinem Vater und dem Cousin väterlicherseits ersichtlich. Dass der Cousin seines Vaters besonders mächtig oder einflussreich wäre, wurde von ihm ebenso wenig ins Treffen geführt. Deshalb besteht nach Meinung des erkennenden Richters keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung des BF im Zusammenhang mit den früheren Grundstückstreitigkeiten.

Eingangs gab der BF zur Verständigung mit den Dolmetschern bei seinen bisherigen Einvernahmen befragt an, dass beim ersten Mal sehr gut übersetzt worden sei, beim zweiten Mal nur teilweise. Er habe gesagt, „Cousins väterlicherseits, von meinem Vater“, aber wie er das dann gelesen habe, sei dort gestanden sein eigener Cousin väterlicherseits. Andere Fehler fielen dem BF nicht ein (VHS S. 5). Dieser vom BF aufgezeigte Fehler in der Niederschrift der Einvernahme hatte allerdings keinen Einfluss auf die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides, da in dieser unmissverständlich auf den Cousin seines Vaters Bezug genommen wurde, trotz der falschen Protokollierung.

Anhand seines Vorbringens zu Problemen seines Vaters mit dessen Cousin aufgrund von Grundstückstreitigkeiten konnte keine aktuelle, konkrete und individuelle Bedrohung oder Verfolgung des BF bei einer Rückkehr in seinen Heimatort erkannt werden. Er konnte keine maßgebliche Bedrohung durch den Cousin seines Vaters glaubhaft machen. Bei dem BF hat es sich überdies damals um ein vier- oder fünfjähriges Kleinkind gehandelt, das an den Streitigkeiten selbst nicht direkt beteiligt war.

6.2. Zur vorgebrachten Verfolgung des BF aufgrund seiner ethischen Zugehörigkeit zur Minderheit der Tadschiken

Die Feststellungen, dass dem BF auf Grund seiner Zugehörigkeit zu der Volksgruppe der Tadschiken in seinem Herkunftsstaat keine konkret gegen ihn gerichtete psychische bzw. physische Gewalt drohe, ergeben sich aus seinem lediglich allgemein gehaltenen Vorbringen dazu in der Beschwerde. Es wurde ein Auszug aus einer Anfragebeantwortung zitiert, demzufolge zwischen Tadschiken und Paschtunen in den letzten Jahren erhebliche Feindseligkeiten bestanden hätten. Eine persönliche Bedrohung, weil er Tadschike sei wurde von ihm weder in der Einvernahme vor dem BFA, noch in der mündlichen Verhandlung vorgebracht. Vor der belangten Behörde verneinte er eine persönliche Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit. Somit hat der BF im gesamten Verfahren in Bezug auf sein allgemeines Vorbringen nicht hinreichend dargelegt, warum er konkret auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit in seinem Herkunftsstaat einer aktuellen asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein könnte.

Aus den Länderfeststellungen geht hervor, dass die Volksgruppe der Tadschiken die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan sei und einen deutlichen politischen Einfluss im Land habe. Sie machten etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Baghlan sei eines der tadschikischen Kerngebiete. Tadschiken seien in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken seien im nation

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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