TE OGH 2021/4/29 8Ob54/21f

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Veröffentlicht am 29.04.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei N*****gesellschaft mbH, *****, vertreten durch HEGH Hawel-Eypeltauer-Gigleitner-Huber & Partner Rechtsanwälte GesbR in Linz, gegen die beklagte Partei E*****, gerichtlicher Erwachsenenvertreter Mag. S*****, vertreten durch Dr. Klaus Schiller, Rechtsanwalt in Schwanenstadt, als Verfahrenshelfer, wegen Aufkündigung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 10. Februar 2021, GZ 23 R 112/20i-30, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1]            1. Der Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 3 MRG setzt regelmäßig kein Verschulden des Mieters voraus (RIS-Justiz RS0070243). Vielmehr kommt es darauf an, ob das objektiv in Erscheinung tretende Verhalten als ein grob ungehöriges, das Zusammenwohnen verleidendes angesehen werden muss, auch wenn es – wie hier – auf eine geistige Erkrankung zurückzuführen ist (RS0067733). Grundsätzlich ist daher auch eine geistige Beeinträchtigung kein Freibrief für unleidliches Verhalten. Das Verhalten einer geisteskranken Person ist zwar nicht unter allen Umständen ebenso unleidlich, also für die Mitbewohner unerträglich, wie ein gleichartiges Verhalten einer zurechnungsfähigen Person. Dies ist jedoch nicht dahin zu verstehen, dass die Mitbewohner jedwedes Verhalten einer geistig behinderten Person in Kauf zu nehmen hätten, auch wenn dadurch ihre Lebensqualität in gravierender Weise beeinträchtigt wird. In solchen Fällen hat eine Interessenabwägung stattzufinden, bei der an das Verhalten der behinderten Person ein weniger strenger Maßstab anzulegen ist (RS0067733 [T4]). Diese Interessenabwägung ist aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die als typische Einzelfallbeurteilung in der Regel nicht revisibel ist (RS0020957 [T4]; RS0042984 [T11] ua).

[2]            2. Nach den Feststellungen beschimpfte die an einer wahnhaften Störung und an leichter Demenz leidende Beklagte seit der ersten Jahreshälfte 2017 regelmäßig ihre Wohnungsnachbarin, zB als Betrügerin, Hexe, Mörderin, sowie deren Enkelkinder. Mehrfach spuckte sie, fallweise warf sie auch Steine in Richtung ihrer Nachbarin, einmal mit den Worten „Kriegst Stein auf Schädel“. Bei einem Vorfall beschädigte sie dabei die Mauer; anschließend zerstörte sie noch ein Blumenspalier der Nachbarin. Des Weiteren verursachte die Beklagte – auch in den Abend- und Nachtstunden – teilweise mehrere Stunden andauernden erheblichen Lärm, insbesondere durch Schreien und Schimpfen, der auch in der oberhalb liegenden Wohnung einer zweiten Mitbewohnerin zu hören ist. Für die Mitbewohner ist das Verhalten der Beklagten eine derart enorme Belastung, dass sie aus Angst Aufenthalte im Garten bzw am Balkon vermeiden und Umwege in Kauf nehmen, um nicht an der Wohnung der Beklagten vorbeigehen zu müssen.

[3]            Mit dem Hinweis auf die ihr drohende – einem Kündigungsverfahren grundsätzlich immanente – Obdachlosigkeit weckt die Revisionswerberin keine Zweifel an der Beurteilung der Vorinstanzen, dass dieses Verhalten von den Mitbewohnern trotz ihrer psychischen Erkrankung nicht länger hingenommen werden muss und die Klägerin zur Aufkündigung des Bestandverhältnisses berechtigt ist.

[4]            3. Dass Auflösungs- und Kündigungsgründe grundsätzlich ohne unnötigen Aufschub geltend gemacht werden müssen, trifft zu. Bei Dauertatbeständen kann aber im Zuwarten mit der Kündigung im Allgemeinen ein Verzicht auf die Geltendmachung des Kündigungsgrundes nicht erblickt werden (RS0014416 [insb T1]).

[5]            Hier setzte die Beklagte ihr ungebührliches Verhalten weiter fort, auch nachdem die Klägerin sie – wie festgestellt – mit Mahnschreiben vom 15. 3. 2018 wiederholt über die Beschwerden der Mitbewohner in Kenntnis gesetzt und ihr „letztmalig die Chance“ eingeräumt hatte, „einer gerichtlichen Aufkündigung zu entgehen“. Aus welchen Gründen die Beklagte hätte annehmen dürfen, die Klägerin habe auf ihr Kündigungsrecht verzichtet, nur weil sie im März 2018 nicht sogleich die Aufkündigung erklärte, lässt sich dem Rechtsmittel nicht entnehmen.

[6]            4. Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO war die außerordentliche Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Textnummer

E131800

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0080OB00054.21F.0429.000

Im RIS seit

10.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

10.06.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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