Entscheidungsdatum
03.12.2020Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22Spruch
W134 2201820-1/12E
W134 2201821-1/13E
W134 2201818-1/8E
W134 2201819-1/8E
W134 2203623-1/8E
W134 2233648-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Thomas GRUBER über die Beschwerden
1. des XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.06.2018, 1120218202-160884090, (W134 2201820-1),
2. der XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.06.2018, 1120218409-160883999, (W134 2201821-1),
3. der mj. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.06.2018, 1120215309-160884049 (W134 2201818-1),
4. des mj. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.06.2018, 1120215407-160884014 (W134 2201819-1),
5. der mj. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.07.2018, 1198493604-180651928 (W134 2203623-1) und
6. des mj. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.07.2020, 1265196402-200472371 (W134 2233648-1),
alle StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 29.07.2020 zu Recht:
A)
Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, sowie XXXX gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX und XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführer stellten nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 23.06.2016 (BF1-BF4), am 11.07.2018 (BF5) und am 08.06.2020 (BF6) die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016.
2. Am 24.06.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Beschwerdeführer statt.
Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: „BF1“ genannt) brachte zunächst vor, dass er schiitischer Moslem und Tadschike sei.
Zu seinem Fluchtgrund befragt brachte der BF1 vor, dass sein Schwiegervater von Feinden getötet worden sei. Dadurch sei auch sein und das Leben seiner Familie in Gefahr gewesen und sie hätten das Land verlassen müssen.
Die Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: „BF2“ genannt) brachte zunächst vor, dass sie mit dem BF1 verheiratet und schiitische Muslimin und Tadschikin sei.
Zu ihrem Fluchtgrund befragt brachte die BF2 dieselben Fluchtgründe wie der BF1 vor. Ihr Vater sei ein Mujaheddin gewesen und deshalb von den Taliban getötet worden.
Für die minderjährigen Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer (im Folgenden: „BF3-BF6“ genannt) wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.
3. Am 27.02.2018 wurden die Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich (im Folgenden: „BFA“ genannt) im Asylverfahren niederschriftlich einvernommen.
Der BF1 brachte zunächst vor, dass er schiitischer Moslem sei und der Volksgruppe der Tadschiken angehöre. Er sei in Herat geboren und aufgewachsen. Er habe 5 Jahre die Schule besucht und dann in der Landwirtschaft und auf Baustellen gearbeitet. Er lebe mit seinen Kindern (BF3-BF6) und seiner Ehefrau (BF2) in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF1 zusammengefasst an, dass sein Schwiegervater Feinde gehabt habe. Die Feinde seien Taliban gewesen. Sein Schwiegervater sei beim Militär gewesen. Sein Schwiegervater habe eines Tages das Haus verlassen und sei nicht mehr zurückgekommen. Zwei Monate später sei seine Leiche gefunden worden. Dieser Vorfall habe sich vor 10-12 Jahren ereignet. Einige Male nicht ganz ein Jahr nach dem Tod des Schwiegervaters seien Personen gekommen die seinen Schwager entführen hätten wollen.
Die BF2 brachte zunächst vor, dass sie schiitischer Muslimin sei und der Volksgruppe der Tadschiken angehöre. Sie habe vor ihrer Heirat 5 Jahre eine Mädchenschule in Afghanistan und 3 Jahre eine Schule für weibliche afghanische Flüchtlinge im Iran besucht. Sie spreche Dari. Sie sei mit dem BF1 verheiratet. Die BF3-BF6 seien ihre leiblichen Kinder.
Zu ihren Fluchtgründen befragt gab die BF2 zusammenfassend an, dass ihr Vater in einer Partei gewesen sei, die gegen die Taliban gekämpft habe. Eines Abends seien 5-6 Personen gekommen, hätten ihren Mann geschlagen und ihren Vater mitgenommen. Zwei bis zweieinhalb Monate später sei die Leiche des Vaters gefunden worden. Die Mitkämpfer ihres Vaters hätten ihnen geraten das Land zu verlassen.
Für die BF3-BF5 wurden weder vom BF1 noch von der BF2 eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.
4. Der BF6 wurde am 09.05.2020 geboren und für ihn wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.
5. Das BFA hat mit den angefochtenen Bescheiden die gegenständlichen Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Den Beschwerdeführern wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters wurde in Spruchpunkt IV. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
6. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG, BGBl. Nr. 51/1991 idF BGBl. I Nr. 161/2013, (in der Folge: AVG) vom 14.06.2018, 16.07.2018 und 16.07.2020 wurde den BF1-BF6 gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
7. Gegen die oben genannten Bescheide richten sich die im Wege der Rechtsvertretung erhobenen Beschwerden, welche fristgerecht beim BFA einlangten. In diesen wird u.a. ausgeführt, dass die BF2 westlich orientiert sei.
8. Die gegenständlichen Beschwerden und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 23.07.2018, 14.08.2018 (BF5) und am 31.07.2020 (BF6) vom BFA vorgelegt.
9. Das Bundesverwaltungsgericht führte in den gegenständlichen Rechtssachen am 29.07.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführer im Beisein ihrer bevollmächtigten Vertretung persönlich teilnahmen.
10. Die Beschwerdeführer verzichteten, vertreten durch ihren Rechtsvertreter, aufgrund vorhandener Kenntnis des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019 (zuletzt aktualisiert durch die Kurzinformationen vom 29.06.2020, im Folgenden kurz „LIB“ genannt), der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (im Folgenden kurz „UNHCR-RL“ genannt), des Berichtes von ACCORD: Afghanistan: Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif (Provinz Balkh) und Kabul 2010-2018 vom 07.12.2018 (im Folgenden „ACCORD-Bericht“ genannt) sowie der EASO Country Guidance Afghanistan vom Juni 2019, auf deren Übergabe.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF1:
Der BF1 wurde am 01.01.1985 geboren und führt den im Spruch genannten Namen. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, schiitischer Moslem und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Die Muttersprache des BF1 ist Dari. Er wurde in Herat geboren und wuchs dort auf. Der BF1 besuchte 5 Jahre die Schule und arbeitete in der Landwirtschaft und als Bauarbeiter. Der BF1 ist mit der BF2 verheiratet. Die BF3-BF6 sind seine leiblichen Kinder.
Der BF1 lebt mit seiner Ehefrau und seinen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt in Österreich. Der BF1 ist strafrechtlich unbescholten, arbeitsfähig, jung und gesund.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF1 seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor den Taliban oder einer anderen konkreten individuellen Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.
1.2. Zur Person der BF2:
Die BF2 wurde am 01.01.1986 geboren und führt den im Spruch genannten Namen. Sie ist afghanische Staatsangehörige, schiitische Muslimin und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Sie wurde in Herat geboren. Die Muttersprache der BF2 ist Dari.
Die BF2 ist mit dem BF1 verheiratet und hat 4 Kinder, die BF3-BF6. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt. Die BF2 entscheidet in Österreich selber über ihren Kleidungsstil und genießt es sich modisch anzuziehen sowie sich zu schminken (siehe VH-Protokoll Seite 10). Die BF2 hat eine ÖIF Integrationsprüfung A2 bestanden. Sie verrichtet zudem regelmäßig Hilfsdienste in einer Wäscherei in einem Pflegheim. In ihrer Freizeit geht die BF2 Rad fahren, schwimmen, spazieren und trifft sich sowohl mit Männern als auch mit Frauen. Sie möchte einen Führerschein machen und lernt gerade für die Führerscheinprüfung. Der BF2 gefällt es, dass sie sowohl mit Frauen als auch mit Männern sprechen und alleine das Haus verlassen kann. Die BF2 schätzt ihre in Österreich neu gewonnene Entscheidungsfreiheit. Die BF2 lebt selbstbestimmt und erledigt ihre Angelegenheiten alleine. Sie geht selbstständig radfahren, schwimmen, einkaufen, spricht mit Männern, arbeitet und bringt ihre Kinder alleine zum Kinderspielplatz. All dies wäre ihr in Afghanistan nicht erlaubt. Die BF2 genießt es selbst über ihr Leben zu bestimmen und alleine auszugehen. Sie möchte in Zukunft gerne als Krankenschwester arbeiten und hat sich auch schon über die Ausbildung und deren Dauer informiert.
Im gegenständlichen Fall ist festzuhalten, dass die der BF2 im Fall der Rückkehr nach Afghanistan drohende Situation als Frau und auf Grund der von ihrer inneren Wertehaltung getragenen und nach außen hin erkennbaren überwiegenden Orientierung am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild, ihrem bisherigen Verhalten sowie ihrer individuellen Lebensumstände in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität ist.
Der BF2 steht keine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative zur Verfügung.
1.3. Zur Person des BF3-BF6:
Die BF3 wurde am 01.01.2008 geboren und führt den im Spruch genannten Namen. Der BF4 wurde am 01.01.2010 geboren und führt den im Spruch genannten Namen. Die BF5 wurde am 27.06.2018 geboren und führt den im Spruch genannten Namen. Der BF6 wurde am 09.05.2020 geboren und führt den im Spruch genannten Namen. Die BF3-BF6 sind afghanische Staatsangehörige. Die Muttersprache der BF3-BF6 ist Dari. Sie sind die leiblichen minderjährigen Kinder des BF1 und der BF2.
Eigene in der Person der BF3-BF6 liegende Gründe einer asylrelevanten Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat sind nicht hervorgekommen.
1.4. Feststellungen zum Herkunftsstaat:
1.4.1. Aktuelles LIB:
Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).
Kabul-Stadt – Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Abb.1: Kabul, Police Distrikts (Darstellung der Staatendokumentation)
(Quelle: BFA 13.2.2019)
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).
Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).
Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden – so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (RFERL 2.9.2019).
In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command – Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).
Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Kabul gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2018 und die ersten drei Quartale 2019 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):
2018
2019 (bis 30.9.)
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
ACLED
Tote
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
ACLED
Tote
Bagrami
1
1
3
5
Chahar Asyab
1
3
5
10
Dehsabz
1
4
7
Estalef
Farza
Guldara
2
4
Kabul
256
58
677
146
71
389
Kalakan
1
2
6
Khak-e-Jabar
1
3
39
1
5
Mir Bacha Kot
1
5
Musahi
2
4
1
22
70
Paghman
4
7
20
2
14
49
Qara Bagh
1
2
12
27
Shakar Dara
7
12
2
11
Surubi
16
8
34
18
28
110
Insg.
284
81
780
181
167
698
(ACLED 5.10.2019; ACLED 12.7.2019; GIM o.D.)
Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 1.866 zivile Opfer (596 Tote und 1.270 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einer Zunahme von 2% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (UNAMA 24.2.2019).
Die afghanischen Sicherheitskräfte führten insbesondere im Distrikt Surubi militärische Operationen aus der Luft und am Boden durch, bei denen Aufständische getötet wurden (KP 27.3.2019; vgl. TN 26.3.2019, SAS 26.3.2019, TN 23.10.2018,. KP 23.10.2018, KP 9.7.2018). Dabei kam es unter anderem zu zivilen Opfern (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Außerdem führten NDS-Einheiten Operationen in und um Kabul-Stadt durch (TN 7.8.2019; vgl. PAJ 7.7.2019, TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019). Dabei wurden unter anderem Aufständische getötet (TN 7.8.2019) und verhaftet (TN 7.8.2019; PAJ 7.7.2019; vgl TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019), sowie Waffen und Sprengsätze konfisziert (TN 9.6.2019; vgl. PAJ 28.5.2019).
IDPs – Binnenvertriebene
UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31.12.2018 35 konfliktbedingt aus dem Distrikt Surubi vertriebene Personen, die alle in der Provinz Logar Zuflucht fanden (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA keine durch gewaltsamen Konflikt aus der Provinz Kabul vertriebene Personen (UNOCHA 18.8.2019). Im Zeitraum 1.1.-31.12.2018 meldete UNOCHA 9.422 Vertriebene, welche in die Provinz Kabul kamen, die meisten davon in den Distrikt Kabul (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 2.580 Vertriebene in die Provinz Kabul, alle in den Distrikt Kabul. Sie stammten aus Kapisa, Kunar, Nangarhar wie auch Logar, Ghazni, Baghlan und Wardak (UNOCHA 18.8.2019).
Bis zu zwei Drittel aller Afghanen, die außerhalb ihrer Provinz vertrieben wurden, bewegen sich in Richtung der fünf Regionalhauptstädte (NRC 30.1.2019) und Kabuls Wachstum war besonders umfangreich. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen in Kabul ist nicht bekannt. Die Bewegung in und innerhalb der Stadt fluktuiert und viele kehren regelmäßig in friedlicheren Zeiten in ihr Herkunftsgebiet zurück (Metcalfe et al. 6.2012; vgl. AAN 19.3.2019). Im September 2018 schätzte der afghanische Minister für Flüchtlinge und Repatriierung die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen in Kabul auf 70.000 bis 80.000 Menschen (TN 21.9.2018).
[…]
Herat
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA 4.2014). Herat ist in 16 Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Enjil, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kohna, Obe/Awba/Obah/Obeh (AAN 9.12.2018; vgl. PAJ o.D., PAJ 13.6.2019), Pashtun Zarghun, Shindand, Zendahjan. Zudem bestehen vier weitere „temporäre“ Distrikte – Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar), Zawol und Zerko (CSO 2019; vgl. IEC 2018) –, die zum Zweck einer zielgerichteteren Mittelverteilung aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (CSO 2019). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ o.D.).
Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019-20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt (CSO 2019). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 3.2.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 5.12.2017). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Autobahn verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (iMMAP 19.9.2017). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Herat 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Schlafmohn anbauenden Provinzen Afghanistans. 2018 sank der Schlafmohnanbau in Herat im Vergleich zu 2017 um 46%. Die wichtigsten Anbaugebiete für Schlafmohn waren im Jahr 2018 die Distrikte Kushk und Shindand (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen (KP 19.5.2019; vgl. KP 17.12.2018). Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt einem Mitarbeiter von IOM-Kabul zufolge zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, wo die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. Wegen der großen US-Basis, die in Shindand noch immer operativ ist, kontrollieren die Taliban jedoch nicht den gesamten Distrikt. Aufgrund der ganz Afghanistan betreffenden territorialen Expansion der Taliban in den vergangenen Jahren sah sich jedoch auch die Provinz Herat zunehmend von Kampfhandlungen betroffen. Dennoch ist das Ausmaß der Gewalt im Vergleich zu einigen Gebieten des Ostens, Südostens, Südens und Nordens Afghanistans deutlich niedriger (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Innerhalb der Taliban kam es nach der Bekanntmachung des Todes von Taliban-Führer Mullah Omar im Jahr 2015 zu Friktionen (AAN 11.1.2017; vgl. RUSI 16.3.2016; SAS 2.11.2018). Mullah Rasoul, der eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Regierung in Kabul einnahm, spaltete sich zusammen mit rund 1.000 Kämpfern von der Taliban-Hauptgruppe ab. Die Regierungstruppen kämpfen in Herat angeblich nicht gegen die Rasoul-Gruppe, die sich für Friedensgespräche und den Schutz eines großen Pipeline-Projekts der Regierung in der Region einsetzt (SAS 2.11.2018). Innerhalb der Taliban-Hauptfraktion wurde der Schattengouverneur von Herat nach dem Waffenstillstand mit den Regierungstruppen zum Eid al-Fitr-Fest im Juni 2018 durch einen als Hardliner bekannten Taliban aus Kandahar ersetzt (UNSC 13.6.2019).
2017 und 2018 hat der IS bzw. ISKP Berichten zufolge drei Selbstmordanschläge in Herat-Stadt durchgeführt (taz 3.8.2017; Reuters 25.3.2018).
Aufseiten der Regierung ist das 207. Zafar-Corps der ANA für die Sicherheit in der Provinz Herat verantwortlich (USDOD 6.2019; vgl. PAJ 2.1.2019), das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - West (TAAC-W) untersteht, welche von italienischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019; vgl. KP 16.12.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Herat gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2018 und die ersten drei Quartale 2019 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):
2018
2019 (bis 30.9.)
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
ACLED
Tote
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
ACLED
Tote
Adraskan
3
6
23
1
11
24
Chishti Sharif
12
14
73
3
4
18
Enjil
1
1
2
3
Fersi
3
5
25
5
34
Ghoryan
5
28
3
17
53
Gulran
1
4
28
1
11
48
Guzera
6
24
12
92
Herat
92
24
100
53
29
69
Karrukh