TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/19 W255 1433492-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.02.2021
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Entscheidungsdatum

19.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55

Spruch


W255 1433492-2/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Ronald EPPEL, MA über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Kurt KULAC, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.07.2019, Zl. 596402810-181015639, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 20.11.2020, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1.       Verfahrensgang:

1.1.    Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 11.07.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2.    Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Wien, vom 19.02.2013, Zl. 12 08.699-BAW, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wurde der BF aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen (Spruchpunkt III.).

1.3.    Gegen den unter Punkt 1.2. genannten Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde.

1.4.    Mit am 08.06.2015 mündlich verkündetem und am 10.07.2015 schriftlich ausgefertigtem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, GZ W132 1433492-1/10E, wurde der unter Punkt 1.3. genannten Beschwerde des BF stattgegeben und dem BF gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wurde festgestellt, dass dem BF damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Dies wurde damit begründet, dass der BF im Fall der Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner Hinwendung zum Christentum einer Verfolgung in asylrelevanter Intensität ausgesetzt wäre. Der BF bekenne sich zu den Zeugen Jehovas. Er habe sich ernsthaft dem christlichen Glauben zugewandt und setze sich eingehend mit dem Glaubensbekenntnis auseinander. Der feste Entschluss, vom Islam zum Christentum zu wechseln, beruhe auf der inneren Überzeugung des BF und werde von Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit getragen.

1.5.    Mit Aktenvermerk des BFA vom 31.01.2019 wurde infolge geänderter persönlicher Umstände des BF ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten des BF eingeleitet.

1.6.    Am 17.05.2019 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er ua an, dass er am XXXX in XXXX , Iran, nach islamischem Recht geheiratet habe. Seine Ehegattin habe er über Vermittlung seiner Schwester über das Telefon kennengelernt. Die Ehegattin des BF lebe derzeit zwei oder drei Tage bei den Eltern und zwei bis drei Tage bei der Schwester des BF in Afghanistan. Bei der Hochzeit im Iran sei die Schwiegerfamilie des BF anwesend gewesen. Die Familie des BF (Eltern und Geschwister) seien in Afghanistan gewesen und hätten nicht in den Iran kommen können, weil es nicht einfach sei, ein Visum für den Iran zu bekommen. Der BF habe deshalb nicht in Afghanistan geheiratet, weil er mit dem österreichischen Konventionspass nicht in Afghanistan einreisen dürfe.

Der BF sei Zeuge Jehovas und seine Frau sunnitische Muslimin. Sie wisse, dass er Zeuge Jehovas sei. Auch die ganze Familie des BF wisse schon seit vielen Jahren, dass der BF Zeuge Jehovas sei, seine Schwiegerfamilie wisse dies nicht. Der Vater des BF habe die ersten ein bis zwei Jahre, nachdem er vom neuen Glauben des BF erfahren habe, nicht mit dem BF gesprochen. Danach habe er wieder mit dem BF gesprochen, aber nicht über dieses Thema. Der BF rede nun alle sechs Monate mit seinem Vater. Zu seiner Mutter, seinen zwei Schwestern und seinen drei Brüdern habe der BF eine gute Beziehung und sie würden oft miteinander sprechen.

Bei der Hochzeit im Iran habe der BF vor dem Mullah und den dortigen Behörden angegeben, sunnitischer Muslim zu sein. Er sei bisher auch nicht aus dem Islam ausgetreten. Er sei seit fünf oder sechs Jahren Zeuge Jehovas. Er sei nicht getauft worden. Der BF habe keine Zeit, missionieren zu gehen und nehme auch nicht an Veranstaltungen oder Versammlungen der Zeugen Jehovas teil, da er hierfür keine Zeit habe. Er lese die Bibel zu Hause.

1.7.    Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid des BFA, Regionaldirektion Wien, vom 03.07.2019, Zl. 596402810-181015639, wurde der dem BF mit Erkenntnis vom 08.06.2015 (mündlich verkündeten) bzw. 10.07.2015 (schriftlich ausgefertigten), GZ W132 1433492-1/10E, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen den BF erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Für die freiwillige Ausreise des BF wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestimmt (Spruchpunkt VI.).

Die Aberkennung des Status des Asylberechtigten begründete das BFA damit, dass sich die subjektive Lage des BF im Vergleich zum seinerzeitigen Entscheidungszeitpunkt, als dem BF Asyl gewährt worden sei, geändert habe. Die Gründe für die Zuerkennung des Asylberechtigten seien nicht mehr vorliegend.

1.8.    Gegen den unter Punkt 1.7. genannten Bescheid des BFA richtet sich die vom BF fristgerechte erhobene Beschwerde.

1.9.    Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt langten am 07.08.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

1.10.   Mit Erkennntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.09.2019, GZ W255 1433492-2/5E, wurde der unter Punkt 1.8. genannten Beschwerde des BF stattgegeben und der angefochtene Bescheid des BFA ersatzlos behoben. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig erklärt. Die Stattgabe der Beschwerde begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass es im Falle des BF nicht zu grundlegenden objektiven Veränderungen in dessen Herkunftsstaat gekommen sei, eine Aberkennung nach § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm. Artikel 1 Abschnitt C Z 5 GFK aber solche grundlegenden objektiven Veränderungen voraussetze.

1.11.   Gegen das unter Punkt 1.10. genannte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.09.2019, GZ W255 1433492-2/5E, erhob das BFA fristgerecht ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof.

1.12.   Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 29.06.2020, Ro 2017/01/0014, wurde das Erkennntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.09.2019, GZ W255 1433492-2/5E, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben. Dies begründete der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen damit, dass für eine Aberkennung nach § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm. Artikel 1 Abschnitt C Z 5 GFK genüge, wenn es zu subjektiven – in der Person des Beschwerdeführers gelegenen – geänderten Umständen gekommen sei und es nicht der grundlegenden Veränderung objektiver – im Herkunftsstaat des BF gelegener – Umstände bedürfe.

1.13.   Mit Schreiben vom 08.10.2020 wurden dem BF vom Bundesverwaltungsgericht aktuelle Länderfeststellungen betreffend Afghanistan übermittelt.

1.14.   Mit Schreiben vom 12.10.2020 teilte der als Zeuge für die vor dem Bundesverwaltungsgericht anberaumte Verhandlung, geladene XXXX , mit, dass er zunächst gar nicht gewusst habe, um wen es sich beim BF handle. Nach Durchsicht seiner Unterlagen aus 2013 habe er sich erinnern können. Er habe im Oktober 2013 eine Bestätigung über die Teilnahme des BF an christlichen Zusammenkünften sowie Bibelkursen verfasst. Alle damaligen Angaben hätten der Wahrheit entsprochen. Mittlerweile seien allerdings 7 Jahre vergangen. Der BF habe 2014 jeglichen Kontakt zum Zeugen und zu einer anderen namentlich genannten Person, die den Kontakt zwischen dem BF und den Zeugen Jehovas hergestellt habe, abgebrochen. Der BF habe nicht mehr an Bibelkursen oder Zusammenkünften der Gemeinde teilgenommen. Er sei auch nicht in der Gemeinde getauft worden. Seit 2014 bestehe keinerlei Kontakt zum BF. XXXX wisse nicht, wo der BF wohne, wo er sich aufhalte, was seine aktuelle Telefonnummer sei oder gar, was dieser in seinem Leben tue.

1.15.   Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.11.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des BF, seines Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari durch. Dabei gab der BF an, dass er gesund sei. Er sei im Juli 2012 in Österreich eingereist. Seither sei er zweimal in den Iran gereist, einmal im Jahr 2017 und einmal im Jahr 2019. Das erste Mal sei er dort gewesen, um seine Frau XXXX , geb. XXXX , sunnitische Muslimin, zu heiraten, das zweite Mal, um seine Frau zu sehen. Der BF habe seine Frau am XXXX im Iran nach islamischem Recht geheiratet. Der BF habe dem trauenden Mullah gesagt, dass er Muslim sei. Dies habe er auch bei der afghanischen Botschaft im Iran angegeben.

Der BF sei in XXXX , Iran, auf die Welt gekommen, habe dann in Afghanistan gelebt, ehe er wieder in den Iran zurückgekehrt sei. Seine Eltern würden in XXXX leben. Ebenso seine zwei Schwestern und ein Bruder. Weitschichtige Verwandte wie Onkeln, Cousins und Cousinen des BF würden teilweise in XXXX leben. Ein zweiter Bruder des BF lebe in Norwegen. Der Vater des BF sei Immobilienmakler gewesen und nun in Pension. Andere Verwandte des BF würden unterschiedliche Tätigkeiten ausüben, Geschäfte besitzen und als Händler oder Schneider arbeiten. Die Ehefrau des BF lebe in XXXX , abwechselnd bei der Familie des BF und bei ihrer Schwester (= Schwägerin des BF). Der BF stehe in regelmäßigem Kontakt mit seiner Familie. Seine Ehefrau habe einen Antrag auf Familienzusammenführung nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) gestellt. Das Verfahren sei offen.

Der BF fühle sich zu den Zeugen Jehovas zugehörig. Ihm habe alles am Islam missfallen. Sein Vater habe ein Problem damit, dass sich der BF den Zeugen Jehovas zugehörig fühle, seine übrige Familie nicht. Der BF habe in Österreich drei Jahre lang an Veranstaltungen der Zeugen Jehovas teilgenommen, vielleicht auch vier oder viereinhalb Jahre. Seit einiger Zeit nehme er nicht mehr an deren Veranstaltungen teil. Er arbeite viel in Deutschland. Vor seiner beruflichen Tätigkeit in Deutschland habe er deshalb nicht mehr an Veranstaltungen der Zeugen Jehovas teilgenommen, da er kein Auto habe und niemanden stören habe wollen. Die Veranstaltungen, die er früher besucht habe, hätten in XXXX stattgefunden. Der BF lebe derzeit in XXXX , rund 20-25 Minuten mit dem Auto von XXXX entfernt. Es gebe zwar schon Busse, die nach XXXX fahren würden, jedoch nicht sonntags. Der BF stehe nicht mehr mit Zeugen Jehovas in Kontakt, da sie von ihm verlangt hätten, dass er 76 Stunden monatlich missionieren solle. Der BF habe nicht die Zeit dafür gehabt. Auf Nachfrage gab der BF an, dass er seit zwei Jahren nicht mehr zu den Veranstaltungen der Zeugen Jehovas gehe. Er könne sich nicht mehr an das letzte Gespräch mit seiner engsten Bezugsperson der Zeugen Jehovas erinnern. Der BF sei nie getauft worden, da er mit dem Missionieren nicht weitermachen habe können. Abgesehen vom zeitlichen Aufwand habe der BF auch nicht missionieren gehen wollen. Er habe dann erfahren, dass, wenn man nicht missionieren gehen wolle, nicht zu den Zeugen Jehovas gehören könne. Nun überlege der BF, in die evangelische Kirche zu gehen. Dennoch fühle er sich nach wie vor als Zeuge Jehovas.

Der BF gab zunächst an, eine Person namens XXXX nicht zu kennen. Auf Vorhalt, dass der BF in seinem Asylverfahren vor Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ein Schreiben von XXXX vom 11.10.2013 vorgelegt habe, in XXXX , Bibellehrer der Zeugen Jehovas, bestätigt, dass der BF seit vielen Monaten regelmäßig die Gottesdienste der Zeugen Jehovas besuche, meinte der BF: „Aso, XXXX kenne ich, jetzt habe ich mich daran erinnert.“ Der BF stehe nicht mehr mit XXXX in Kontakt. Er wisse auch nicht, wo dieser lebe und wie oft er 2013 durchschnittlich Kontakt mit XXXX gehabt habe.

Der in der Verhandlung als Zeuge einvernommene XXXX , gab an, dass er den BF im Jahr 2013 kennengelernt habe. XXXX habe damals – wie heute noch – die Versammlung XXXX der Zeugen Jehovas (= die persische Gruppe der Zeugen Jehovas) geleitet. Er sei ca. einmal monatlich auch nach XXXX gefahren, um an den dortigen Veranstaltungen der Zeugen Jehovas teilzunehmen. Der BF habe damals großes Interesse gezeigt und den Fortschritt zum ungetauften Verkündiger geschafft. Der BF habe damals die Lehren der Bibel prinzipiell angenommen. Danach sei der Kontakt abgerissen und man habe nichts mehr vom BF gewusst. Der BF habe jedenfalls seit sechs Jahren keinen Kontakt mehr zur Gruppe der Zeugen Jehovas in XXXX und XXXX .

Der Zeuge XXXX führte weiters aus, dass eine Person nicht Mitglied der Zeugen Jehovas sein könne, ohne missionieren zu gehen. Es gebe aber kein zwingendes (Mindest-)Stundenausmaß fürs Missionieren. Ein Zeuge Jehovas dürfe eine muslimische Sunnitin heiraten. Er würde damit zwar gegen einen Grundsatz der Zeugen Jehovas verstoßen, würde aber nicht ausgeschlossen werden. Wenn der BF jedoch gegenüber einem Mullah, der ihn traut habe, gesagt habe, dass er selbst Muslim sei, dann hätte der BF damit gegen ein Gesetz der Zeugen Jehovas verstoßen und wäre kein Zeuge Jehovas mehr.

1.16.   Mit Schreiben vom 30.11.2020 übermittelte der BF dem Bundesverwaltungsgericht seine Heiratsurkunde samt deutscher Übersetzung sowie eine Kopie des afghanischen Reisepasses seiner Ehegattin. 

1.17.   Mit Schreiben vom 22.12.2020 wurden dem BF vom Bundesverwaltungsgericht aktuelle Länderfeststellungen betreffend Afghanistan übermittelt.

1.18.   Mit Schreiben vom 07.01.2021 gab der BF bekannt, dass keine Stellungnahme hinsichtlich der Länderfeststellungen betreffend Afghanistan erfolge.

2.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des Antrages auf internationalen Schutz des BF vom 11.07.2012, dem am 08.06.2015 mündlich verkündeten und am 10.07.2015 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, GZ W132 1433492-1/10E, der Erstbefragung und der Einvernahmen des BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des (vormaligen) Bundesasylamtes und des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, insbesondere der Einvernahme des BF vom 17.05.2019, der Bescheide des Bundesasylamtes und des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 20.11.2020, der Länderberichte zu Afghanistan sowie der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, der Einsichtnahme in den Verwaltungsakt der Bezirkshauptmannschaft XXXX zu XXXX betreffend das Aufenthaltsverfahren der Ehegattin des BF, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1.    Zur Person des BF:

2.1.1.    Der BF führt den Namen XXXX und ist am XXXX in XXXX geboren.

2.1.2.  Der BF ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Er ist sunnitischer Muslim. Die Muttersprache des BF ist Dari.

2.1.3.  Der BF ist im Kleinkindalter mit seiner Familie von XXXX , Afghanistan, nach XXXX , Iran, gezogen. Der BF hat von ca. 1992 bis 1998 sechs Jahre die Grundschule in XXXX , Iran, besucht. Danach ist er mit seiner Familie nach XXXX , Afghanistan, zurückgekehrt. Ca. im Jahr 2001 übersiedelte der BF mit einem seiner Brüder nach XXXX , im Iran, wo er rund 10 Jahre als Autowäscher tätig war.

2.1.4.  Der BF verließ den Iran im Mai 2012 und reiste nach Österreich, wo er am 11.07.2012 illegal eingereist ist und am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

2.1.5.  Der BF besuchte im Jahr 2013 einmal wöchentlich Veranstaltungen der Zeugen Jehova, konkret christliche Zusammenkünfte sowie Bibelkurse in XXXX . Der Kontakt zu den Zeugen Jehovas wurde durch XXXX , einem Mitglied der Zeugen Jehovas, hergestellt. Über XXXX wurde auch der Kontakt zu XXXX , dem Leiter der Versammlung XXXX der Zeugen Jehovas (= persische Gruppe der Zeugen Jehovas) herstellt.

Der BF hat seit 2014 nicht mehr an Veranstaltungen der Zeugen Jehovas teilgenommen. Er steht seit 2014 nicht mehr in Kontakt mit Zeugen Jehovas. Der BF hat damals jeden Kontakt zu Zeugen Jehovas abgebrochen. Der BF wurde nie getauft. Der BF ist nie aus dem Islam ausgetreten.

2.1.6.  Der BF reiste am XXXX in den Iran und kehrte am XXXX nach Österreich zurück.

Der BF heiratete am XXXX in XXXX die afghanische Staatsangehörige XXXX . Bei der Ehegattin des BF handelt es sich um eine sunnitische Muslimin. Der BF und seine Ehegattin wurden von einem Mullah getraut. Der BF gab gegenüber dem Mullah und den anderen bei der Hochzeit anwesenden Personen an, Muslim zu sein. Dies bestätigte der BF auch gegenüber der afghanischen Botschaft im Iran. Die Familie der Ehegattin des BF war bei der Eheschließung anwesend. Der Vater und der Bruder der Ehegattin des BF haben als Zeugen fungiert.

Der BF hat seine Ehegattin frühestens im Juli 2015 durch Vermittlung einer seiner in Afghanistan lebenden Schwestern telefonisch kennengelernt. Der BF und seine Ehegattin haben im Zeitraum Juli 2015 bis Jänner 2018 miteinander telefoniert. Der BF hat seine Ehegattin eine Woche vor der Hochzeit das erste Mal persönlich gesehen.

Die Ehegattin des BF war bis zur Heirat am XXXX als Volksschullehrerin in XXXX tätig. Diesen Job hat sie freiwillig aufgehört, um Deutsch zu lernen.

Die Ehegattin des BF hat am 05.09.2018 bei der Österreichischen Botschaft in Islamabad einen Antrag auf Erteilung einer „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 als Ehegattin eines Asylberechtigten gestellt. Dieses Verfahren ist bei der Bezirkshauptmannschaft XXXX zur GZ XXXX anhängig. Aufgrund der Einleitung des Aberkennungsverfahrens betreffend den BF wurde bisher – soweit aus dem Akteninhalt der Bezirkshauptmannschaft XXXX ersichtlich – von einer detaillierten Prüfung der Erteilungsvoraussetzungen und einer inhaltlichen Entscheidung im Aufenthaltsverfahren abgesehen, um ua das Ergebnis des verfahrensgegenständlichen Aberkennungsverfahrens abzuwarten.

2.1.7.  Die Eltern, zwei Schwestern, ein Bruder und viele Onkel und Tanten des BF leben in XXXX . Die Eltern des BF sind Eigentümer eines Hauses und eines Grundstückes im Stadtviertel XXXX , in XXXX . Der BF steht in regelmäßigem Kontakt mit ihnen.

Der Vater des BF war als Immobilienmakler tätig und hat als solcher mit Häusern Grundstücken in XXXX gehandelt. Er ist in Pension und bezieht nunmehr Pensionsgeld. Die Verwandten des BF sind teils als Händler und Schneider erwerbstätig und besitzen Geschäfte. Die wirtschaftliche, finanzielle Lage der Familie des BF ist gut.

Ein Bruder des BF lebt in Norwegen.

2.1.8.  Die Ehegattin des BF lebt in XXXX . Dort lebt sie abwechselnd bei den Eltern des BF einerseits und einer ihrer älteren Schwestern (= Schwägerin des BF), deren Ehemann und zwei Kindern andererseits. Der Vater und ein Bruder der Ehegattin des BF sowie drei Tanten väterlicherseits, drei Onkel mütterlicherseits und zwei Tanten mütterlicherseits der Ehegattin des BF leben auch in XXXX .

2.1.9.  Der BF ist gesund, anpassungsfähig, arbeitsfähig und im erwerbsfähigen Alter. Der BF hat keine Kinder.

2.2.    Zu den Fluchtgründen des BF und einer Rückkehr nach Afghanistan:

2.2.1.  Der BF konnte nicht glaubhaft machen, dass er als Jugendlicher in Afghanistan unter Druck gesetzt worden ist, ein Mädchen zu heiraten, sich der Heirat widersetzt hat und in diesem Zusammennahm einer konkreten Bedrohung und/oder Verfolgung durch die Brüder des Mädchens ausgesetzt war oder im Fall der Rückkehr nach Afghanistan sein würde.

2.2.2.  Der BF wurde als sunnitischer Muslim erzogen. Er hat nach seiner Einreise in Österreich im Jahr 2013 regelmäßig Veranstaltungen der Zeugen Jehovas besucht. Der BF hat seit 2014 keine Veranstaltungen der Zeugen Jehovas mehr besucht und jeden Kontakt zu Zeugen Jehovas abgebrochen. Der BF wurde nicht getauft. Er ist nicht aus dem Islam ausgetreten. Er hat am XXXX im Iran nach islamischem Recht eine sunnitische Muslimin geheiratet und gegenüber dem Mullah und den sonstigen bei der Trauung anwesenden Personen sowie der afghanischen Botschaft im Iran angegeben, Muslim zu sein. Es kann nicht festgestellt werden, dass der christliche Glauben zum aktuellen Zeitpunkt wesentlicher Bestandteil der Identität des BF ist. Der BF lebt im Alltag nicht einen christlichen Glauben aus. Er würde den christlichen Glauben im Falle der Rückkehr nach Afghanistan nicht ausüben. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF aufgrund der Tatsache, dass er 2013 bis 2014 Veranstaltungen der Zeugen Jehovas besucht hat, im Falle der Rückkehr nach Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist. Der BF hat keinem in Afghanistan und/oder dem Iran lebenden Menschen – insbesondere nicht seinen eigenen Verwandten und/oder seiner Ehegattin und/oder der Familie seiner Ehegattin – erzählt, dass er in Österreich Veranstaltungen der Zeugen Jehovas besucht.

2.2.3.  Der BF wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an. Es gibt insgesamt keinen stichhaltigen Hinweis, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre.

2.2.4.  Dem BF droht im Fall der Rückkehr in seine Herkunftsprovinz XXXX kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit. Er ist in der Stadt XXXX keiner konkret gegen ihn gerichteten Verfolgung ausgesetzt.

2.2.5.  Der BF ist gesund, volljährig, anpassungsfähig, mobil, arbeitsfähig und hat keine Kinder. Er verfügt über sechsjährige Schulbildung in Afghanistan, 10jährige Berufserfahrung als Autowäscher im Iran und vierjährige Berufserfahrung (drei Jahre davon als Hilfselektriker) in Österreich. Er wuchs teils in Afghanistan, teils im Iran, in einem afghanischen Familienverband auf und ist mit den Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und mit einer in Afghanistan gesprochenen Sprache vertraut. Die Eltern, zwei Schwestern, ein Bruder, die Ehegattin, der Schwiegervater, ein Schwager und eine Schwägerin des BF, viele Onkel und Tanten des BF sowie drei Tanten väterlicherseits, drei Onkel mütterlicherseits und zwei Tanten mütterlicherseits der Ehegattin des BF leben nach wie vor in der Stadt XXXX (siehe im Detail unter Punkt 2.1.8). Die wirtschaftliche, finanzielle Situation der Familie des BF ist gut.

Angesichts seines Geschlechts, seines Alters, seiner Bildung, seiner Sprachkenntnisse, seiner Arbeitsfähigkeit, seiner Berufserfahrung und seines aufrechten familiären Netzwerkes könnte er sich in der Stadt XXXX eine Existenz aufbauen und diese – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist in der Lage, in der Stadt XXXX eine einfache Unterkunft zu finden. Im Ergebnis ist von einer Selbsterhaltungsfähigkeit des BF in Afghanistan auszugehen. Er hat zudem die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. In einer Gesamtbetrachtung ist XXXX für Normalbürger, die nicht mit Ausländern zusammenarbeiten, eine vergleichsweise sichere und über den Flughäfen gut erreichbare Stadt. Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF nach XXXX ausschließen, konnten nicht festgestellt werden.

Dem BF droht im Falle der Rückkehr nach XXXX somit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit und er läuft auch nicht Gefahr, im Falle der Rückkehr nach XXXX grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

2.2.6.  Im Falle der Rückkehr nach XXXX läuft der BF auch nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten oder sich seine Gesundheit in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern würde. Es sind auch sonst keine Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des BF in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

2.3.        Zur Integration des BF in Österreich:

2.3.1.    Der BF lebt seit seiner Einreise in Österreich in XXXX .

2.3.2.    Der BF hat in Österreich bisher noch nie einen Deutschkurs besucht und noch nie eine Deutschprüfung absolviert. Er hat sich bei seinen Erwerbstätigkeiten nur rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache angeeignet.

2.3.3.  Der BF war von 12.08.2015 bis 14.08.2015 als Arbeiter für die XXXX tätig.

Der BF war von 25.09.2015 bis 31.12.2016 und von 01.04.2017 bis 31.12.2017 als Arbeiter für XXXX in einem Bauernhof und in der Landwirtschaft tätig.

Der BF war von 05.09.2017 bis 31.12.2017 als Arbeiter für die XXXX in der Herstellung von Kürbiskernöl tätig.


Der BF bezog vom 07.03.2017 bis 31.03.2017, 01.01.2018 bis 23.01.2018 und vom 15.03.2018 bis 25.03.2018 Arbeitslosengeld.

Der BF ist seit 26.03.2018 als Hilfselektriker für die XXXX in XXXX tätig. Der BF wurde in den Jahren 2019 und 2020 von seinem Arbeitgeber regelmäßig montags bis donnerstags für Arbeiten auf einer Baustelle in XXXX eingesetzt. Der BF verdient zwischen EUR 2000,- und EUR 3000,- netto monatlich. Er ist selbsterhaltungsfähig.

2.3.4.    Der BF verfügt über keine Verwandten in Österreich.

2.3.5.    Der BF ist nicht Mitglied in einem Verein in Österreich. Er verfügt über keinen engen Freundeskreis in Österreich. Der BF verfügt über keine sonstigen nahen Bezugspersonen in Österreich.

2.3.6.  Der BF verfügt über keine weiteren als den unter 2.3.1. bis 2.3.5. dargestellten familiären und sozialen Bindungen in Österreich.

2.3.7.  Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

2.4.    Zum Verfahrensgang:

2.4.1.  Der BF stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 11.07.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.4.2.  Mit am 08.06.2015 mündlich verkündetem und am 10.07.2015 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, GZ W132 1433492-1/10E, wurde dem BF gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wurde festgestellt, dass dem BF damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Dies wurde damit begründet, dass der BF im Fall der Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner Hinwendung zum Christentum einer Verfolgung in asylrelevanter Intensität ausgesetzt wäre. Der BF bekenne sich glaubhaft zu den Zeugen Jehovas. Er habe sich ernsthaft dem christlichen Glauben zugewandt und setze sich eingehend mit dem Glaubensbekenntnis auseinander. Der feste Entschluss vom Islam zum Christentum zu wechseln, beruhe auf der inneren Überzeugung des BF und werde von Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit getragen.

2.4.3.  Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid des BFA vom 03.07.2019, Zl. 596402810-181015639, wurde der dem BF mit Erkenntnis vom 08.06.2015 (mündlich verkündet) bzw. 10.07.2015 (schriftliche Ausfertigung), GZ W132 1433492-1/10E, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen den BF erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Für die freiwillige Ausreise des BF wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestimmt (Spruchpunkt VI.).

Die Aberkennung des Status des Asylberechtigten begründete das BFA damit, dass sich die subjektive Lage des BF im Vergleich zum seinerzeitigen Entscheidungszeitpunkt, als dem BF Asyl gewährt worden sei, geändert habe. Die Gründe für die Zuerkennung des Asylberechtigten seien nicht mehr vorliegend.

2.4.4.  Gegen den unter Punkt 2.4.3. genannten Bescheid des BFA richtet sich die vom BF fristgerechte erhobene Beschwerde.

2.5.    Zur Situation des BF in Afghanistan und der dort herrschenden Lage:

2.5.1.  Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020:

1.       Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht.

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt.

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu.

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück.

1.1.    Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht. Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion.

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018.

1.2.    Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand.

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall.

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020.

1.3.    High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88.

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt. Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein.

1.4.    Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen. Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt.

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt. Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien. Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt.

1.5.    Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität:

1.5.1.  Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen. Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können.

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar. Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada- Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk.

Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie, dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte.

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist. Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran. Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen.

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind.

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren.

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden.

1.5.2.  Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban, Verbündeter von al-Qaida und verfügt über Kontakte zu IS. Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani, einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani [auch Sirajuddin Haqqani].

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht. Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika und Khost aktiv. Sie verfügen jetzt über mehr Macht als in den Vorjahren und führen mehr Operationen durch. Es gibt keine größeren Gegenmaßnahmen der afghanischen Regierung oder der Sicherheitskräfte gegen das Netzwerk.

Die afghanische Regierung entließ drei führende Mitglieder des Netzwerks im Zuge des Gefangenenaustausches im November 2019. Das Haqqani-Netzwerk ist an den aktuellen Friedensverhandlungen beteiligt.

1.5.3.  Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück. Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Es ist aber nicht erwiesen, ob er mit dem IS im Irak und in Syrien verbunden ist oder nicht. Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban. Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern. Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren.

Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck, da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region. So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen. Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfer reduziert.

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert.

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt.

Der ISKP verurteilt die Taliban als 'Abtrünnige', die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen. Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban. Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten.

Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche. Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen.

Am 4.4.2020 verhaftete die Nationale Sicherheitsdirektion Afghanistans (NDS) den IS-Führer in Afghanistan, und laut NDS wurde das Hauptführungs- und Koordinierungsgremium des islamischen Staates eliminiert, aber die Teilnetzwerke existieren noch immer in verschiedenen Bereichen. Die Gruppe ist immer noch aktiv und führt weiterhin Angriffe durch.

1.5.4.  Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont. Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv. Einer Quelle zufolge hat Al-Qaida weniger Macht als in den letzten Jahren. Gemäss UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in 12 Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv.

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder.

Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren.

2.       Herat

Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden. Herat ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Enjil, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kuhna, Obe, Pashtun Zarghun, Zendahjan und die „temporären“ Distrikte Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar, Kozeor), Zawol und Zerko, die aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurde. Ihre Schaffung wurde vom Präsidenten nach Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, während das Parlament seine Zustimmung (noch) nicht erteilt hat. Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt. Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans.

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Herat im Zeitraum 2020-21 auf 2,140.662 Personen, davon 574.276? in der Provinzhauptstadt. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden. Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt.

Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden. Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Straßen verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala, die einen der größten Trockenhäfen Afghanistans beherbergt. Die Schaffung einer weiteren Zollgrenze zum Iran ist im Distrikt Ghoryan geplant. Eine Eisenbahnverbindung zwischen der Stadt Herat und dem Iran, die die Grenze an diesem Punkt überqueren wird, ist derzeit im Bau. Über Tötungen und Entführungen auf der Strecke Herat-Islam-Qala wurde berichtet sowie über Sprengfallen am Straßenrand, auch auf der Ring Road. Darüber hinaus gibt es Berichte über illegale Zolleinhebungen durch Aufständische sowie Polizeibeamte entlang der Strecke Herat-Kandahar. Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt.

2.1.    Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktebene unterscheidet sich voneinander. Während einige Distrikte, wie z.B. Shindand, als unsicher gelten, weil die Kontrolle zwischen der Regierung und den Taliban umkämpft ist, kam es in Herat-Stadt in den letzten Jahren vor allem zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, jedoch nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen gebracht hätten. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, die in letzter Zeit in der Stadt Herat gemeldet wurden, fielen meist in zwei Kategorien: gezielte Tötungen und Angriffe auf Polizeikräfte. Darüber hinaus fanden im Juli und September 2020 sowie Oktober 2019 Angriffe statt, die sich gegen Schiiten richteten (AAN 21.4.2020). Bezüglich krimineller Handlungen wurde beispielsweise über bewaffnete Raubüberfälle und Entführungen berichtet.

Je weiter man sich von der Stadt Herat (die im Januar 2019 als "sehr sicher" galt) und ihren Nachbardis

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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