Entscheidungsdatum
08.03.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W257 2172561-1/18E
W257 2172561-2/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
I.: Zur ho Verfahrenszahl W257 2172561-1/18E:
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert Mantler MBA als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Susanne Singer, Ringstraße 9/1, 4600 Wels, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.09.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.01.2021, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
B)
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
II.: Zur ho Verfahrenszahl W257 2172561-2/18E:
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert Mantler MBA als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Susanne Singer, Ringstraße 9/1, 4600 Wels, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.12.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.01.2021, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
B)
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe zu I und II:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der zu diesem Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“ genannt) stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am 17.09.2015 statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde oder kurz „belBeh“ genannt) fand am 11.07.2017 statt.
1.2. Mit dem Bescheid vom 04.09.2017 wies die belBeh Behörde den Antrag des BFs auf internationalen Schutz ab (Spruchpunkte I.) und erteilte ihm den Status des subsidiäre Schutzberechtigten (Spruchpunkt II). Aufgrund dieses Schutzes erhielt er eine bis XXXX .2018 befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III). Gegen Spruchpunkt I dieses Bescheides wurde Beschwerde erhoben und wird dieses Verfahren ho unter der Zl. W257 2172561-1 geführt. Der Antrag auf Verlängerung dieser Aufenthaltsberechtigung wurde von der Behörde mit Bescheid vom 19.12.2018 abschlägig entschieden. Gegen diesen Bescheid wurde ebenso Beschwerde erhoben und wird dieses Verfahren ho unter der Zl. W257 2172561-2 geführt.
Begründend führte die belangte Behörde zur Nichtgewährung des internationalen Schutzes aus, dass es sich bei den vorgebrachten Fluchtgründen um Grundstückstreitigkeiten gehandelt hätten die keine asylrechtliche Relevanz hätten. Das Vorbringen der direkten Bedrohung durch den Nachbarn sei für eine konkrete Verfolgungshandlung, dies die GFK für die Schutzgewährung verlange, auch unlogisch und substantiiert gewesen, weswegen dem Vorbringen auch generell keine Glaubwürdigkeit geschenkt worden wäre (sh Seite 81ff des Bescheides).
1.3. Der subsidiäre Schutz wäre ihm wortwörtlich ausfolgendem Grund erteilt worden: „Sie haben seit ihrem sechsten Lebensjahr keinen Kontakt mehr mit Ihrer Mutter. Ihr Onkel hatte Sie in Afghanistan nicht wie seinen minderjährigen Neffen, sondern wie einen Sklaven behandelt. Im Fall einer Rückkehr würden Sie von ihrem Onkel keine Unterstützung erwarten. Zudem haben Sie lediglich vier Jahre die Koranschule besucht und verfügen über keine Berufsausbildung. Es liegen daher Umstände vor, aufgrund derer man nicht ausschließen kann, dass Sie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, in eine Existenz bedrohende Notlage geraten würde.“
1.4. Am 03.10.2018 wurde der Beschwerdeführer niederschriftlich hinsichtlich der seitens der belBeh angestrengten Aberkennungsverfahrens niederschriftlich einvernommen. Dabei brachte er vor, dass er in einer Pizzeria als Koch arbeiten würde. Er sei finanziell unabhängig und hätte keine Lebensgefährtin in Österreich. Er würde auch zurzeit den Führerschein machen. Er hätte syrische, arabische afghanische und österreichische Freunde. In seiner Freizeit betreibe er Sport. Er gehe keinen ehrenamtlichen Tätigkeiten nach. In Österreich hätte er den Pflichtschulabschluss gemacht und ein Jahr als Lehrling gearbeitet. Er hätte die Arbeit verlassen, weil er die Berufsschule nicht fortsetzten hätte können und der Arbeitgeber mit seiner Leistung nicht zufrieden gewesen wäre.
1.5. Mit Bescheid vom 19.12.2018 wurde unter Spruchpunkt I. der subsidiärer Schutz von Amts wegen aberkannt. Unter Spruchpunkt II. wurde ihm der subsidiäre Schutz gem. § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen aberkannt und mit Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Mit Spruchpunkt IV. wurde eine Rückkehrentscheidung getroffen und schließlich unter Spruchpunkt V. festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist. Begründet führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass er wegen seiner mangelnden Schulbildung und wegen der mangelnden Berufserfahrung subsidiären Schutz bekommen hätte. Nachdem er in Österreich beides nachgeholt hätte, käme ihm kein subsidiärer Schutz nicht mehr zu (sh Seite 134ff des Bescheides).
1.6. In der Beschwerde gegen Spruchpunkt I zu dem ho Verfahren mit der Zl. W257 2172561-1, dem Verfahren hstl der Nichtzuerkennung von Asyl, wurde seitens der damaligen Rechtsvertretung ausgeführt, dass er wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazaras einer Verfolgung ausgesetzt sei. Er hätte auch im Iran gelebt und deswegen würde ihm eine talibanfeindliche politische Gesinnung unterstellt werden (sh AS 295, OZ 1).
1.7. In der Beschwerde zu dem ho Verfahren Zl. W257 2172561-2, dem Verfahren hstl der Nichtverlängerung von seinem subsidiären Schutz, führte der BF rechtsfreundlich vertreten aus, dass damit jede Integrationsbemühung ad absudrum geführt werden würde (sh Seite 3 der Beschwerde, AS 275, OZ1). Die hier gewonnene Selbsterhaltungsfähigkeit könne nicht gegen ihn eingesetzt werden, zudem hätte sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert.
1.8. Unter OZ 14 wurde am 06.10.2020 zu dem Verfahren Zl. W257 2172561-2 Urkunden vorgelegt. Darin berief sich die Rechtsanwältin Mag. Susanne Singer auf die ihr erteilte Vollmacht zur Vertretung in diesem Verfahren. Zugleich wurden folgende Kopien vorgelegt: ÖSD Zertifikat A2 vom 20.12.2016, Teilnahmebestätigung Sprachausbildung, Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs vom 09.03.2018, Mietvertrag einer Wohnung in XXXX , Mietzins in der Höhe von 200.- Euro, Lichtbilder des BF bei sozialen Veranstaltungen, Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau B1 vom 04.07.2020.
1.9. Unter OZ 8 wurde am 14.10.2020 in dem Verfahren Zl. W257 2172561-2 Urkunden vorgelegt, demnach der BF einer Vollbeschäftigung in einer Pizzeria in XXXX nachgeht. Der Arbeitgeber erstellte ein „Zwischenzeugnis“, datiert am 09.10.2020, in dem er den BF ein sehr gutes Zeugnis ausstellt.
1.10. Unter OZ 10 wurde am 16.10.2020 in dem Verfahren Zl. W257 2172561-1 die Vollmacht der bisherigen Rechtsvertretung zurückgelegt.
1.11. Unter OZ 14 berichtete die Polizeiinspektion XXXX am 29.11.2020, dass der BF wegen des Verdachtes des Vergehens nach dem Suchtmittelgesetz zur Anzeige gebracht wurde. Unter OZ 17 zu Zl. W257 2172561-1, legte der BF die Verständigung der StA Salzburg vom 02.12.2020 hinsichtlich des vorläufigen Rücktritts der Strafverfolgung vor.
1.12. Am 23.12.2020 unterrichtete das BvWG unter OZ 12 im Rahmen des Verfahrens W257 2172561-1, in dem der BF nicht vertreten ist, der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, die mit 01.01.2021 neu eingerichtete Rechtsberatung, dass eine Verhandlung am 21.01.2021 stattfinden werde.
1.13. Die Verfahren W257 2172561-1 und W257 2172561-2 wurden auf der Grundlage des § 39 Abs. 2 AVG zusammengeführt. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 21.01.2021 eine mündliche Verhandlung durch. Im Zuge der Verhandlungseinladung wurden die unter Punkt Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. genannten Länderberichte den Verfahrensparteien zur Stellungnahe vorgelegt. Stellungnahmen zu diesen Berichten langten nicht ein. Die Rechtsanwältin Mag. Susanne Singer übernahm in der mündlichen Verhandlung auch in dem Verfahren Zl. W257 2172561-1 die Vollmacht.
1.14. Er wurde bei Behörde am 11.07.2017 und am 03.10.2018 niederschriftlich einvernommen. Bei diesen Einvernahmen brachte er nicht vor, nicht mehr an Gott zu glauben; erst bei der gerichtlichen Einvernahme meinte er, zusätzlich zu den bisherigen Fluchtgründen, dass er nicht mehr an Gott glauben würde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
2. Feststellungen:
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der BF führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem, seine Muttersprache ist Dari; er spricht zudem Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.
Er ist gesund.
Der BF wurde in der Provinz Deikundi, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren. Im Alter von 2 Jahren ca. ist sein Vater gestorben. Im Alter von ca. 6 Jahren verließ die Mutter das Dorf und heiratete einen anderen Mann. In Afghanistan besuchte er 4 Jahre die Schule und war zusätzlich Hirte. Er spricht die Sprachen Farsi und Dari, Türkisch, Englisch und Deutsch. Seitdem wuchs der BF im Verband seiner vier Onkel väterlicherseits auf. Alle Onkel, mitsamt deren Familien, lebten in einem Haus. Sein Bruder, der heute in der Türkei wohnt, war das älteste Kind. Er war das zweitälteste Kind, seine Cousins – mit denen er ab dem 6. Lebensjahr in dem gemeinsamen Haus wohnten - waren alle jünger und besuchten auch die Schule. Das Elternhaus, also jenes Haus, dies er mit seiner Mutter bis zum 6. Lebensjahr bewohnte, war zum Zeitpunkt, als er den Heimatort verließ unbewohnt.
Seitdem die Mutter ausgezogen ist (im 6. Lebensalter) hatte er keinen Kontakt mehr zu ihr. Er hat ebenso keinen Kontakt zu den Onkeln väterlicherseits. Zwei Onkel mütterlicherseits leben im Iran, ein weiterer in Afghanistan. Auch zu diesen hat er keinen Kontakt.
Er verließ ich Alter von 12 Jahren das Dorf und verzog in den Iran. Er war dort auf sich alleine gestellt. Er hatte keinen Kontakt zu den Onkeln mütterlicherseits, welcher sich schon im Iran befand, weswegen er diese nicht aufsuchte und alleine im Iran verweilte. Er arbeitete dort in einem Steinbruch bzw. in einer Stahlfabrik, wobei die körperliche Arbeit nicht anstrengend war. Im Alter von 14 Jahren verzog er zu seinem Bruder in die Türkei. Dort blieb er ebenso ca. 2 Jahre und mit 16 verzog er schließlich nach Europa und suchte hier um internationalen Schutz an. Er hat mit keinen der Verwandten in Afghanistan Kontakt.
Mit Bescheid des belBeh vom 04.09.2017 wurde ihm der subsidiäre Schutz erstmals zuerkannt. Die Gründe dafür sind aus dem Punkt Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. erkennbar. Die Dauer der Aufenthaltsberechtigung wurde bis zum 04.09.2018 erteilt. Am 10.04.2018 stellte er den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung. Am 03.10.2018 erfolgte die Einvernahme hinsichtlich der Verlängerung bei der belBeh (sh dazu Punkt Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.).
Mit dem Bescheid vom 19.12.2018 wurde ihm schließlich der subsidiäre Schutz aberkannt.
2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
2.2.1. Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen. Er verzog im Alter von 12 Jahren alleine aus seinem Heimatdorf um die persönliche wirtschaftliche Situation zu verbessern. Er wurde von seinen vier Onkeln bei denen er gelebt hat schlecht behandelt. Ein Zusammenhang zwischen den Onkeln und ein nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannten Fluchtgrund kann nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.
2.2.2. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität.
2.2.3. Der Beschwerdeführer ist nicht vom Glauben abgefallen. Es droht ihn kein Grund der Verfolgung im Falle der Rückkehr aus diesem Grund.
2.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit September 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom XXXX in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Er lebte alleine in einer Wohnung in Oberösterreich. Er begann nach dem Abschluss der Pflichtschule die Lehre als Koch, brach diese aber wegen mangelnden Deutschkenntnisse nach einem Jahr ab. Danach arbeitete er in unterschiedlicher Dauer in verschiedenen Pizzerias.
Aus dem vorgelegten Unterlagen sind folgende Arbeitsverhältnisse zu entnehmen:
01.08.2017 - 03.07.2018
Lehrling
23.07.2018 – 10.09.2018
Arbeiter
01.10.2018 - 18.03.2019
Arbeiter
23.04.2019 – 02.05.2019
Arbeiter
09.05.2019 – 30.09.2019
Arbeiter
01.10.2019 – 31.03.2020
Arbeiter
23.12.2019 – 23.12.2019
Geringfügig beschäftigter Arbeiter
02.05.2020 – 04.09.2020
Arbeiter
Damit hat er ca. in Summe etwas mehr als 3,5 Jahre gearbeitet.
Bei der letzten Pizzeria hat er eine mündliche Zusage, dass er nach der Corona-Pandemie dort wiederbeginnen könne. Ein „Zwischenzeugnis“ vom 09.10.202 eines Geschäftsführers einer Pizzeria beschreibt ihn als äußerst zuverlässigen und gewissenhaften Mitarbeiter. Dagegen stehen seine eigenen Aussagen in seiner Einvernahme am 03.10.2018, worin er angab, dass der Lehrbeauftragte mit seiner Arbeit nicht zufrieden gewesen sei und er deshalb gekündigt hätte. Er lebt derzeit vom Arbeitslosengeld in der Höhe von ca. 600 – 800.- Euro. Er hat keine Ersparnisse angesammelt, weil er vieles in Casinos verspielt hat. Er hat sich bei örtlichen Firmen beworben und würde gerne Schweißer oder Techniker werden. Er hat keine partnerschaftliche Beziehung in Österreich und keine Verwandten. Er wurde einmal wegen des Verdachtes des Vergehens nach dem Suchtmittelgesetz zur Anzeige gebracht, dies von der StA vorläufig eingestellt wurde. In seiner Freizeit betreibt er Sport und trifft sich mit Freunden. Diese sind tlws Österreicher, aber auch Afghanen, Syrer und Iraner. Der Beschwerdeführer verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 des europäischen Referenzrahmens und hat an einem Werte- und Orientierungskurs abgeschlossen. Im Jahr 2016 betätige er sich für drei Tage bei dem caritativen Projekt „72 Stunden ohne Kompromiss“. Ein Empfehlungsschreiben beschreibt den Beschwerdeführer als sehr hilfsbereiten, offenen und lebensfreudigen Menschen.
2.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
2.4.1. Sichere Herkunftsregion:
Dem Beschwerdeführer wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Die Provinz ist sicher erreichbar.
2.4.2. Keine Verfolgung bei der Rückkehr:
Wie oben dargestellt (sh Punkt Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.) droht ihm keine Gefahr bei der Rückkehr. Aus der Sicht dieses Aspektes ist mit Sicherheit nicht zu erwarten, dass in seine körperliche Unversehrtheit eingegriffen wird.
2.4.3. Wirtschaftliches Überleben:
Ein Onkel mütterlicherseits und vier Onkel väterlicherseits leben in Afghanistan. Im Falle der Rückkehr würde er keine Unterstützung von seinem Onkel erwarten können.
Der Beschwerdeführer ist seit dem 12 Lebensjahr selbständig und kann sich sehr schnell an die neue Lebensumgebung anpassen. Er kann ein Teil seines Gehaltes sparen und in Falle der Rückkehr anfänglich auch von diesem Ersparten leben. Er ist gesund und kann verschiedene Arbeiten nachgehen. Er kann Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Er kann sich selbst erhalten und hat keine Sorgepflichten. Er ist mit der afghanischen Kultur vertraut.
Als gesunder junger Mann, droht ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch keine Gefahr einer tödlichen Erkrankung im Falle einer Ansteckung durch das Corona-Virus.
2.4.3.1. Rückkehr in Bezug auf den Bescheid vom 19.12.2018 (Relevant für das Verfahren W257 2172561-2)
Der Bescheid mit dem ihm der subsidiäre Schutz zuerkannt wurde ging von folgenden Fakten aus (sh Seite 84ff des Bescheides)
? Er hat seit seinem sechsten Lebensjahr keinen Kontakt mehr mit seiner Mutter.
? Sein Onkel hätte ihn nicht wie einen Minderjährigen, sondern wie einen „Sklaven“ behandelt.
? Er würde von den Onkeln keine Unterstützung erwarten können.
? Er hätte zudem lediglich vier Jahre die Koranschule besucht und verfügt über keine Berufsausbildung.
Hinsichtlich des ersten und des dritten Spiegelstriches ist keine Änderung eingetreten. Der zweite Spiegelstrich ist eine Beschreibung für einen allfälligen Fluchtgrund bzw beinhaltet im Kern das Motiv des Fluchtgrundes, hat aber keine Relevanz hinsichtlich der Situation im Falle der Rückkehr, die es hier zu beleuchten gilt. Er wird – nachdem er keine Unterstützung von den Onkeln bekommen wird – auch nicht mehr bei diesen wohnen können und so wird die gleiche Situation nicht wieder eintreten.
Hinsichtlich des vierten Punktes ist eine wesentliche Änderung eingetreten. Er hat hier die Pflichtschule abgeschlossen und hat ca 3,5 Jahre im Gastgewerbe gearbeitet.
Der nunmehr volljährige BF ist gesund, mobil, anpassungsfähig, befindet sich im erwerbsfähigen Alter, bzw. ist bzw war auch in Österreich erwerbstätig. Der Beschwerdeführer hat in Österreich nunmehr bereits Arbeitserfahrung in der Gastronomie als Koch/Kochgehilfe sammeln können und dieserart Arbeit kann der BF auch in Afghanistan finden und auch ausüben und sich hierdurch durch eigene Erwerbstätigkeit seine Existenzgrundlage selbst erwirtschaften.
Damit haben sich die persönlichen Verhältnisse des BF nachhaltig und wesentlich verändert. bzw. handelt es sich bei dem Beschwerdeführer im Unterschied zum Zeitpunkt der Zuerkennung nunmehr um einen jungen und gesunden Mann mit einem Pflichtschulabschluss und einer Berufsausbildung und ist weder auf den Schutz von Österreich angewiesen, noch bedarf es zum weiteren Leben eine Unterstützung von Österreich oder seinen Verwandten.
Er ist in Afghanistan mittlerweile selbsterhaltungsfähig.
2.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
2.5.1. Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
? Länderinformationsblatt (in der Folge kurz „LIB“ genannt) der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020. Dies wurde in der mündlichen Verhandlung seitens des Gerichtes eingebracht (sh Seite 14 der gerichtlichen Niederschrift). Zudem wurden folgende Länderberichte mit der Verhandlungseinladung (sh Punkt Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.) eingebracht:
? UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
? EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
? ecoi.net Themendossier zu Afghanistan: „Sicherheitslage und die soziökonomische Lage in Herat und in Masar-e Scharif“ vom 26.05.2020 (ECOI Herat und Masar-e Sharif)
? ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)
? ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)
? Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)
? Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06. 2017 (Landinfo 2)
? EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke)
? EASO-Bericht Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020 (EASO August 2020)
? ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 16.10.2020
2.5.2. Allgemeine Sicherheitslage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).
Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).
Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020)
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020 vgl.; BBC 25.3.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 6.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).
Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).
Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020, RFE/RL 2.6.2020).
Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).
Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 1.6.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.9.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020, UNSC 27.5.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban, Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020) und verfügt über Kontakte zu IS (RA KBL 12.10.2020; vgl. EASO 8.2020). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani [auch Sirajuddin Haqqani] (EASO 8.2020c; cf. UNSC 27.5.2020).
Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019). Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika und Khost aktiv. Sie verfügen jetzt über mehr Macht als in den Vorjahren und führen mehr Operationen durch. Es gibt keine größeren Gegenmaßnahmen der afghanischen Regierung oder der Sicherheitskräfte gegen das Netzwerk (RA KBL 12.10.2020)
Die afghanische Regierung entließ drei führende Mitglieder des Netzwerks im Zuge des Gefangenenaustausch im November 2019 (RA KBL 12.10.2020; vgl. NYT 19.11.2019, BBC 19.11.2019). Das Haqqani-Netzwerk ist an den aktuellen Friedensverhandlungen beteiligt (RA KBL 12.10.2020)
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Es ist aber nicht erwiesen, ob er mit dem IS im Irak und in Syrien verbunden ist oder nicht. (RA KBL 12.10.2020). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019) bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern (EASO 8.2020). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (VOA 21.5.2019).
Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020; vgl. RA KBL 12.10.2020), da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region (SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020) wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vgl.UNSC 27.5.2020, UNGASC 17.3.2020). Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020) und 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).
49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).
Der ISKP verurteilt die Taliban als 'Abtrünnige', die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche (EASO 8.2020c; vgl. SaS 10.2.2020). Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).
Am 4.4.2020 verhaftete die Nationale Sicherheitsdirektion Afghanistans (NDS) den IS-Führer in Afghanistan (RA KBL 12.10.2020; vgl. AnA 30.4.2020, HRW 6.4.2020), und laut NDS wurde das Hauptführungs- und Koordinierungsgremium des islamischen Staates eliminiert, aber die Teilnetzwerke existieren noch immer in verschiedenen Bereichen. Die Gruppe ist immer noch aktiv und führt weiterhin Angriffe durch (RA KBL 12.10.2020)
Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019). Einer Quelle zufolge hat Al-Qaida weniger Macht als in den letzten Jahren (RA KBL 12.10.2020b). Gemäss UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in 12 Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).
Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).
2.5.3. Grundversorgung
Letzte Änderung: 16.12.2020
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.7.2020; AF 2018). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden (AA 16.7.2020). Laut einer IPC-Analyse vom April wird die Zahl der Menschen, die in Afghanistan unter akuter Ernährungsunsicherheit der Stufe 4 der Emergency-IPC leiden, im Zeitraum Juni-November 2020 voraussichtlich von 3,3 Millionen auf fast 4 Millionen ansteigen (USAID 12.6.2020).
Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 170 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D). In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport (AA 16.7.2020). Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018), so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze (STDOK 21.7.2020; vgl. NSIA 2019).
Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.8.2019; vgl. WB 7.2019).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank Covid-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus (AA 16.7.2020; vgl. WB 4.2020).
Arbeitsmarkt
Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 10.2020) Er ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vgl. Ahmend 2018; CSO 2018). Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der Covid-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.7.2020), auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt (IOM 23.9.2020). Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 1.6.2020; vgl STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020, CSO 2018). In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000) (STDOK 4.2018; vgl. CSO 2018).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 8.6.2017). Im Rahmen einer Befragung an 15.012 Personen gaben rund 36% der befragten Erwerbstätigen an, in der Landwirtschaft tätig zu sein (AF 2018).
Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 13.6.2020, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.6.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge, gibt es keine Hinweise darüber, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).
In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (CSO 2018; vgl. IOM 23.9.2020). Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Für das Anmeldeverfahren sind das Ministerium für Arbeit und Soziale Belange und die NGO ACBAR zuständig; Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (STDOK 4.2018).
Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vgl. Haider/Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018).
Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, so stellen jedoch im Agrasektor 33% und im Textilbereich 65% der Arbeitskräfte (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018)
2.5.4. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 22).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 22.1).
2.5.5. Ethnische Minderheiten