Entscheidungsdatum
12.03.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W204 2194598-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde des A XXXX XXXX G XXXX , geb. am XXXX 1993 alias XXXX , StA Afghanistan, vertreten durch Mag. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein afghanischer Staatsbürger, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am 22.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
I.2. Am 24.12.2015 wurde der BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Burgenland niederschriftlich erstbefragt. Befragt nach seinen Fluchtgründen führte der BF aus, sein Vater sei wegen Problemen mit einem Geschäftspartner entführt worden. Außerdem habe die Familie Grundstücksprobleme mit seinem Onkel. Zudem sei versucht worden, den BF zu entführen.
I.3. Am 18.08.2017 wurde der BF von einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson unter anderem zu seinem Gesundheitszustand, seiner Identität, seinen Lebensumständen in Afghanistan, seinen Familienangehörigen und seinen Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die den BF bewogen, seine Heimat zu verlassen, gab er an, er sei zweimal von unbekannten Leuten aufgefordert worden, Papiere zu unterschreiben. Sie hätten ihm gedroht, ihn umzubringen, wenn er das nicht mache. Der BF vermute, dass das mit Grundstücksstreitigkeiten mit seinem Onkel zu tun habe, weswegen bereits sein Vater verschollen sei.
I.4. Am 17.01.2018 wurde der BF erneut von einem Organwalter des BFA in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari und seiner Vertreterin niederschriftlich einvernommen. Dabei gab der BF an, seine Familie habe aufgrund der Drohungen mittlerweile Afghanistan verlassen müssen.
I.5. Mit Bescheid vom 01.03.2018, dem BF am 06.04.2018 zugestellt, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte das BFA aus, der BF habe seine Fluchtgründe nicht glaubhaft gemacht, weswegen ihm der Status eines Asylberechtigten nicht gewährt werden könne. Dem BF sei eine Rückkehr nach Kabul möglich und zumutbar. Auch der Status des subsidiär Schutzberechtigten könne daher nicht gewährt werden. Gemäß § 57 AsylG sei auch eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nicht zu erteilen, da die Voraussetzungen nicht vorlägen. Letztlich hätten auch keine Gründe festgestellt werden können, wonach bei einer Rückkehr des BF gegen Art. 8 Abs. 2 EMRK verstoßen werde, weswegen auch eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.
I.6. Mit Verfahrensanordnung vom 01.03.2018 wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
I.7. Gegen den unter I.5. genannten Bescheid richtet sich die Beschwerde des BF vom 03.05.2018, in der beantragt wurde, eine Beschwerdeverhandlung durchzuführen, dem BF den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren, in eventu die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären, in eventu den Bescheid zu beheben und zur Durchführung eines ordentlichen Ermittlungsverfahrens an das BFA zurückzuverweisen.
Begründend wurde im Wesentlichen unter Verweis auf sein bisheriges Vorbringen die Beweiswürdigung des BFA bestritten. Unabhängig davon lasse nach Ansicht des BF die Sicherheits- und Versorgungslage eine Rückkehr nicht zu.
I.8. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 07.05.2018 vorgelegt, wobei das BFA auf die Durchführung und Teilnahme an einer Verhandlung verzichtete.
I.9. Am 01.12.2020 zeigte die im Spruch genannte Vertreterin ihre Bevollmächtigung an und legte Integrationsunterlagen vor.
I.10. Am 19.01.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung teilnahmen. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu seiner Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, seinen Familienangehörigen, seinen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.
I.11. Am 03.02.2021 legte der BF, wie in der Beschwerdeverhandlung angekündigt, eine Stellungnahme zur Schutzwürdigkeit seines Privat- und Familienlebens in Österreich sowie zu seinem Gesundheitszustand und eine Überweisung an einen Internisten vor.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
- Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF, insbesondere in die Befragungsprotokolle;
- Befragung des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 19.01.2021;
- Einsicht in die im Rahmen der Beschwerdeverhandlung beigezogenen Aktenbestandteile betreffend die beiden Brüder des BF;
- Einsicht in die im Rahmen des Verfahrens vorgelegten Unterlagen und Stellungnahmen;
- Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;
- Einsicht in das Strafregister, in das Grundversorgungssystem und in das Zentrale Melderegister.
II. Feststellungen:
II.1. Zur Person des BF:
Der BF führt den Namen A XXXX XXXX G XXXX und das Geburtsdatum XXXX 1993. Seine Identität steht nicht fest. Er ist afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, das er in Wort und Schrift beherrscht. Außerdem beherrscht er Paschtu in Wort und Schrift.
Der BF ist in der Provinz Nangarhar in der Stadt Jalalabad geboren. Seine Familie stammt ursprünglich aus dem etwa 30 bis 40 Autominuten entfernten Dorf C XXXX S XXXX im Distrikt S XXXX . Im Alter von einem oder zwei Jahren übersiedelte der BF mit seiner Familie von Jalalabad nach Kabul. Als der BF etwa sechs oder sieben Jahre alt war, verschwand sein Vater. Etwa im Jahr 2002 übersiedelte der BF mit seinem jüngeren Bruder und seiner Mutter in den Iran. Sein älterer Bruder blieb währenddessen in Afghanistan. Im Jahr 2010 rückübersiedelte der BF mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder nach Kabul, wo sie das Eigentumshaus des Vaters bewohnten und von den Erträgnissen dessen Erbschaft lebten.
Der BF besuchte in Afghanistan die Schule, die er mit Matura abschloss. Während seiner Zeit im Iran besuchte er eine Schule für Afghanen. Nach Ablegung der Matura studierte der BF fünf Semester Medizin in Kabul, wobei er im letzten Semester nicht alle Prüfungen positiv absolvieren konnte. Der BF arbeitete in Afghanistan zudem als Taxifahrer und gelegentlich auch auf Baustellen. Auch im Iran arbeitete der BF auf Baustellen und als Schuster. Außerdem hat der BF in Afghanistan Dari und Paschtu unterrichtet und im Krankenhaus auf der Notfallstation gearbeitet.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Der BF leidet an einer Thalassämie. Bei einer Thalassämie kommt es zur Störung der Bildung des roten Blutfarbstoffes (Hämoglobin). Grund dafür sind angeborene Veränderungen (Mutationen) der Erbsubstanz. Bei dieser Gruppe an Erkrankungen werden bestimmte Globinketten (Eiweißketten) in zu geringem Ausmaß oder gar nicht gebildet. Diese sind Bausteine des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin und dieses wiederum ist ein wesentlicher Bestandteil der roten Blutkörperchen. Infolge der Störung werden rote Blutkörperchen vermindert gebildet bzw. gehen diese vorzeitig zugrunde. Es kommt unter anderem zu einer Anämie (Blutarmut) sowie in schweren Fällen unter anderem zur Vergrößerung von Milz und Leber sowie zur Schädigung weiterer innerer Organe.
Je nach Schweregrad unterscheidet man bei einer Beta-Thalassämie zwischen:
? Thalassaemia minor. Betroffene erben von einem Elternteil die genetische Veränderung, vom anderen Elternteil das Gen ohne Veränderung (heterozygot, „mischerbig“). Sie sind Trägerin/Träger der Erkrankung und können diese an ihre Kinder vererben. Es kommt zu keinen oder gering ausgeprägten Symptomen (ev. leichte Anämie). In der Regel ist keine Therapie erforderlich.
? Thalassaemia intermedia. Spezielle genetische Konstellationen und Krankheitsausprägung prägen diese Form, z.B. haben Betroffene häufig Mutationen sowohl im Beta-Globinkettengen als auch im Alpha-Globinkettengen. Diese zeichnet sich durch mäßig ausgeprägte Symptome (Anämie, Splenomegalie) aus. Eine Transfusion ist nur gelegentlich notwendig.
? Thalassaemia major. Betroffene erben das fehlerhafte Gen von Mutter und Vater (homozygot, „reinerbig“). Es kommt zu schwerer Ausprägung mit meist schwerer Anämie. Bei schwerer Form müssen Betroffenen meist ein Leben lang Bluttransfusionen erhalten sowie eine Chelat-Therapie. Eine Stammzelltransplantation kann vorgenommen werden. Bei schwerer Form der Beta-Thalassämie kommt es bereits im ersten Lebensjahr zu schwerer Anämie, die behandelt werden muss. Bei schwerer Form der Alpha-Thalassämie entsteht die Anämie bereits im Mutterleib und ein Überleben ist nur durch Transfusionen über die Nabelschnur während der Schwangerschaft möglich. Zeichen der Erkrankung bzw. des Sauerstoffmangels bei Babys und Kindern sind eine zunehmende Blässe, Ermüdbarkeit, Ikterus, Wachstumsstörungen, Knochenbrüche, Knochendeformationen (im Kleinkindalter). Leber und Milz können vergrößert sein.
Untersuchungen und Kontrollen sind laufend notwendig, um Komplikationen rechtzeitig zu erkennen und medizinische Maßnahmen setzen zu können. Dafür können je nach Situation z.B. Blutuntersuchungen, Bestimmung der Blutgruppen, Virenserologie (Bluttransfusion), Untersuchungen im Vorfeld einer Stammzelltransplantation, Ultraschall, EKG, Echokardiograpie, MRT, Leberwerte, Schilddrüsenwerte, Hormonstatus etc. erforderlich sein.
Die Erkrankung des BF wurde im Jahr 2018 diagnostiziert, als er im XXXX Spital in Behandlung war. Anfänglich wurde er monatlich, in weiterer Folge alle zwei Monate einer Blutuntersuchung unterzogen und erhielt eine Physio-Therapie. Beim BF äußert sich die Thalassämie laut seinen eigenen Angaben aktuell in Beinschmerzen und morgendlicher Übelkeit. Der BF leidet überdies an einer leichten bis mittelgradigen Depression mit gelegentlichen Schlafstörungen, einer chronischen Gastritis und saisonalen Allergien.
Der BF erhielt im Jahr 2020 und fortlaufend gegen seine Beschwerden Vitamin B- und D-Präparate, Pantoprazol 20mg zur Verminderung der Magensäure und Sucralfat 1g/5ml als schleimhautschützenden Wirkstoff für Magen und Speiseröhre sowie ein Schmerzmittel, Fentrinol Nasentropfen, Badezusätze und Hautlotionen. Es kann nicht festgestellt werden, dass er ein Eisen-Präparat erhält. Insbesondere erhält der BF keine Transfusionen und befindet sich aktuell nicht in Therapie. Derzeit besteht der Verdacht seiner Allgemeinmedizinerin eines progredienten Verlaufs der Thalassämie, weswegen sie den BF im Jänner 2021 an einen Internisten überwiesen hat. Weitere medizinische Unterlagen legte der rechtsfreundlich vertretene BF bis zum Entscheidungszeitpunkt nicht vor, weshalb dieser Verlauf nicht festgestellt werden kann.
Die Erkrankungen des BF sind auch in Afghanistan behandelbar und der BF hat Zugang zu Behandlungen und den notwendigen Medikamenten. Der BF verfügt über Kontakte zu medizinischem Personal in Afghanistan und Deutschland, das den BF bei einer Rückkehr unterstützen kann und wird.
Der BF ist arbeitsfähig.
II.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF wurde nicht wegen Grundstücksstreitigkeiten mit seinem Onkel bedroht. Er wird in Afghanistan nicht gesucht.
Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen einer ihm drohenden Lebensgefahr verlassen.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.
II.3. Zum (Privat-)Leben des BF in Österreich:
Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich und hält sich zumindest seit dem 22.12.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom selben Tag in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der BF besuchte mehrere Deutschkurse bis zum Niveau B2 und beherrscht Deutsch in etwa auf diesem Niveau. Im März 2017 hat der BF die A2-Prüfung beim Internationalen Kulturinstitut in Wien, einer vom ÖSD zertifizierten Einrichtung, bestanden. Zudem besuchte der BF den Vorstudienlehrgang an der Universität Wien. Der BF nahm an einem Vorbereitungslehrgang für das Bachelorstudium Pharmazie teil, den er aufgrund eines negativen Ergebnisses auf die letzte mündliche Deutschprüfung Niveau B2 nicht bestand. Alle anderen vorgesehenen Prüfungen absolvierte der BF positiv. Im März wird der BF die nicht bestandene Prüfung wiederholen.
Der BF hat den schriftlichen Aufnahmetest 2020/2021 des Bachelorstudiums der Pharmazie an der Universität XXXX nicht bestanden.
Der BF ist beim XXXX Kulturverein XXXX und dem Verein XXXX aktiv und besuchte mehrere Veranstaltungen dieser Organisationen. Außerdem hält der BF dort Dari- und Paschtu-Unterricht. Auch unterrichtete er dort Deutsch bis zum Niveau A2.
Der BF unterhält mehrere Freundschaften zu österreichischen Staatsbürgern, die er zumeist im Rahmen seiner Deutschkurse kennengelernt hat. Er unternimmt mit diesen gemeinsame Ausflüge. Ebenso hat er durch seine Tätigkeiten bei A XXXX viele afghanische Freunde.
Der BF hat seit 2018 unregelmäßig in verschiedenen Restaurants geringfügig gearbeitet. Zuletzt arbeitete er bis zum 06.12.2020 und wurde aufgrund einer Erkrankung gekündigt. Das dadurch verdiente Gehalt sparte er und bezahlte damit die Universitäts- und Prüfungsgebühren.
Der BF hat zwei Einstellungszusagen, wobei jeweils eine gültige Arbeitsbewilligung Voraussetzung für eine Einstellung ist. Eine dieser Einstellungszusagen stammt von seiner letzten Arbeitsstätte, bei der er wegen Krankheit gekündigt wurde.
Der BF ist seit 31.12.2020 mit einer afghanischen Staatsbürgerin verlobt, der in Österreich der Status der Asylberechtigten zukommt. Der BF kennt seine Verlobte seit etwa einem Jahr. Sie haben nie in einem gemeinsamen Haushalt gelebt und den Kontakt im Wesentlichen telefonisch aufrechterhalten. Vor den Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie sahen sie sich etwa ein- bis zweimal pro Woche, seitdem seltener. Seine Verlobte lebt in Linz und ist arbeitslos.
Der BF lebt in Wien gemeinsam mit seinen beiden Brüdern. Sein jüngerer Bruder ist mit ihm ins Bundesgebiet eingereist. Beide Brüder stellten ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz. Der des älteren Bruders wurde in Bezug auf den Status des Asylberechtigten abgewiesen, jedoch wurde ihm im April 2011 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Er ist derzeit als Zusteller tätig. Der Antrag seines jüngeren Bruders wurde vollinhaltlich vom BFA abgewiesen und es wurde gegen diesen unter anderem eine Rückkehrentscheidung erlassen. Dagegen hat der jüngere Bruder des BF Beschwerde erhoben. Das Verfahren ist beim Bundesverwaltungsgericht zu W248 2194593-1 anhängig.
Der BF lebte mit seinem älteren Bruder lediglich während seiner ersten Lebensjahre in Nangarhar und Kabul im gemeinsamen Haushalt. Während des Aufenthalts des BF im Iran blieb der ältere Bruder in Afghanistan und verbrachte nur nach seiner eigenen Ausreise aus Afghanistan drei Monate bei der Familie im Iran, bevor er nach Europa weiterreiste. Als der BF mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder nach Afghanistan zurückkehrte, reiste der ältere Bruder bereits nach Österreich. Mit seinem jüngeren Bruder lebte der BF auch bereits in Afghanistan und im Iran im gemeinsamen Haushalt.
Der BF hat eine gute Beziehung zu seinen beiden Brüdern. Gelegentlich unterstützt der ältere Bruder den BF mit kleinen Beträgen, ähnlich einem Taschengeld.
Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Er bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, nämlich monatlich € XXXX für die Miete und € XXXX Verpflegungsgeld. Außerdem ist der BF über die Grundversorgung krankenversichert.
II.4. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
Der BF stammt aus einer wohlhabenden Familie, der ein 40 bis 50 Hektar großes Grundstück in Jalalabad gehört. Die Ernte dieses Grundstücks wurde verkauft und die Erlöse daraus wurden unter den Familienmitgliedern aufgeteilt. Die Familie des BF erhielt daraus jedes Jahr rund 25.000-30.000 Afghani, wovon die Familie weitgehend leben konnte. Außerdem war sein Vater Eigentümer eines Hauses und einer Eigentumswohnung in Kabul. Das Haus gehört nach wie vor der Familie und ist derzeit vermietet. Die Miete in Höhe von 6.000 bis 7.000 Afghani pro Monat erhält die Mutter.
Der BF beziehungsweise seine Familie ist nach wie vor am Familiengrundstück beteiligt und ihm steht sein Anteil an den Erträgen des Grundstücks zu. Seine Verwandten werden ihm seinen Anteil nicht vorenthalten.
Der BF hat in Afghanistan am 05.01.1394 (25.03.2015) traditionell geheiratet. Seine Frau lernte er beim Medizinstudium kennen. Der Ehe entstammen keine Kinder. Der BF hat sich von seiner Frau nicht getrennt. Die Schwiegerfamilie des BF kommt aus Kabul. Der Schwiegervater des BF hat eine Geldwechselstube. Nach der Ausreise des BF nahm dieser die Mutter des BF zeitweise bei sich auf. Dabei wechselte sich die Schwiegerfamilie des BF mit der ebenfalls in Kabul wohnhaften Schwiegerfamilie seines älteren, in Österreich aufhältigen Bruders ab.
Die Frau des Bruders des BF lebt in Kabul bei deren Eltern. Sie arbeitet nicht. Der Schwiegervater seines Bruders ist verstorben. Die Schwager des Bruders des BF haben keine Berufsausbildung, sie arbeiten als Tagelöhner in verschiedenen Bereichen. Die Familie in Kabul war an Corona erkrankt, ist mittlerweile jedoch genesen und hat keine Folgewirkungen der Erkrankung mehr.
Eine Schwester des BF lebt mit ihrem Ehemann, der als Arzt praktiziert, in Deutschland. Die Schwester des BF ist Krankenschwester. Beide besitzen mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie haben zwei Söhne im Alter von 18 und 15 oder 16 Jahren.
Die Mutter des BF lebt mittlerweile durch Vermittlung der Angehörigen in Deutschland in der Türkei bei einem Freund ihres Schwiegersohnes. Die Mutter musste Afghanistan nicht aufgrund von Bedrohungen durch die Onkel in Richtung Pakistan verlassen.
Der Großvater des BF hatte sieben Söhne von drei Frauen. Der Vater des BF sowie ein Halbonkel waren je ein Einzelkind, die anderen fünf Halbonkel entstammen einer Ehe. Der BF hatte und hat eine gute Beziehung zu seinen Onkeln, die ebenfalls einen Teil des Familiengrundstücks besitzen. Fünf der Onkel leben in Jalalabad, ein Onkel lebt in Kabul.
Der BF kann und wird bei einer Rückkehr nach Afghanistan von seinen Familienangehörigen aus dem In- und Ausland finanziell und organisatorisch unterstützt werden. Ebenfalls kann er Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen und auch von seinen Freunden im Bundesgebiet Hilfe erhalten.
Der BF ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.
Dem BF wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsort Kabul Stadt aber auch nach Herat Stadt oder Mazar-e Sharif kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Die Städte sind über den Luftweg sicher erreichbar.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in den weniger volatilen Gebieten Afghanistans wie Kabul Stadt, Herat Stadt oder Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Der BF kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und dort einer Arbeit nachgehen und sich selbst erhalten.
In Kabul kann der BF von seinen dort wohnhaften Familienangehörigen und den verschiedenen Schwiegerfamilien zumindest vorübergehend aufgenommen werden. Diese sind willig und fähig, den BF bei einer Rückkehr zu unterstützen.
Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
II.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB);
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR);
- UNHCR: Afghanistan, Compilation of Country of Origin Information (COI) Relevant for Assessing the Availability of an Internal Flight, Relocation or Protection Alternative (IFA/IRA/IPA) to Kabul, December 2019;
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019);
- EASO Country Guidance Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO 2020);
- EASO Bericht Afghanistan Networks (EASO Netzwerke);
- EASO: Afghanistan - Key-socio-economic indicators. Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (August 2020) (EASO Indikatoren);
- EASO: Afghanistan - Security Situation (September 2020) (EASO Security);
- EASO: Afghanistan - State Structure and Security Forces (August 2020) (EASO State);
- EASO: Afghanistan - Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs) (August 2020) (EASO AGEs);
- ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif);
- ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat) und
- Ecoi.net-Themedossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Sharif (ecoi).
II.5.1. Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktszentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten (LIB, Kapitel 5). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B). Zwischen 01.03.2019 und 30.06.2020 wurden 15.287 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, wovon 573 Vorfälle sich gegen Zivilisten richteten (EASO Security, 1.3.). Während des ersten Viertels 2020 blieb der Konflikt in Afghanistan einer der tödlichsten der Welt für Zivilisten. Zwischen 01.01.2020 und 30.06.2020 dokumentierte UNAMA 3.458 zivile Vorfälle, inkludierend 1.282 Tote und 2.176 Verletzten. Das stellt einen Rückgang von 13% zur Vorjahresperiode dar. Dieser allgemeine Rückgang ist auf einen Rückgang von Luftschlägen und einer Reduzierung der IS Aktivitäten zurückzuführen (EASO Security, 1.4.1.). Zwischen 01.01.2020 und 30.09.2020 wurden von UNAMA 5.939 zivile Opfer gezählt, das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang um 13% und den niedrigsten Wert seit 2012 (LIB, Kapitel 5).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 7).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus. High-Profile Angriffe (HPAs) ereigneten sich insbesondere in der Hauptstadtregion (LIB, Kapitel 5). Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant (LIB, Kapitel 5).
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 4).
Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet, wobei die afghanische Regierung daran weder beteiligt war noch von ihr unterzeichnet wurde. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen ist von der Einhaltung der Taliban an ihren Teil der Abmachung abhängig. Die Taliban haben im Abkommen unter anderem zugesichert, terroristischen Gruppierungen keine Zuflucht zu gewähren und innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (LIB, Kapitel 4).
Die Taliban haben jedoch die politische Krise aufgrund der Präsidentschaftswahl als Vorwand genutzt, den Einstieg in die Verhandlungen hinauszuzögern. Außerdem werfen sie der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung nicht einzuhalten und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4). Diese Angriffe der Taliban richten sich gegen die ANDSF und nicht gegen internationale Kräfte (EASO Security, 1.3.). Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gewalt hat allerdings trotzdem nicht nachgelassen (LIB, Kapitel 4).
II.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant (LIB, Kapitel 22).
Einer Prognose der Weltbank vom Juli 2020 zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Afghanistans im Jahr 2020 als Folge der COVID-19-Maßnahmen zwischen 5,5 und 7,4 % schrumpfen, was die Armut verschlimmern und zu einem starken Rückgang der Staatseinnahmen führen werde. Schon 2019 ist das absolute BIP trotz Bevölkerungswachstums das zweite Jahr in Folge gesunken. Seit 2013 ist auch das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf stark zurückgegangen, von rund 660 auf 540 US-Dollar im Jahr 2019 (EASO Indikatoren, Kapitel 2.1.1.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (LIB, Kapitel 22).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor, der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tägliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).
Die Lage am afghanischen Arbeitsmarkt, der vom Agrarsektor dominiert wird, bleibt angespannt und die Arbeitslosigkeit hoch. Es treten viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, der nicht in der Lage ist, ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, allerdings beratende Unterstützung, die auch Rückkehrende in Anspruch nehmen können (LIB, Kapitel 20).
Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020 Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5). In den ländlichen Gebieten leben bis zu 60% der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze, in den urbanen Gebieten rund 41,6% (LIB, Kapitel 22).
Afghanistan ist weit von einem Wohlfahrtsstaat entfernt. Afghanen rechnen auch nicht mit staatlicher Unterstützung. Die fehlende staatliche Unterstützung wird von verschiedenen Netzwerken ersetzt und kompensiert (LIB, Kapitel 22).
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungssicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. Im ersten Halbjahr 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt (LIB, Kapitel 3).
Ebenfalls infolge der COVID-19-Maßnahmen, insbesondere aufgrund von Grenzschließungen und Exporteinschränkungen, kam es ab März 2020 zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittelpreise. So ist etwa der Preis für Weizenmehl in ganz Afghanistan gestiegen. Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) geht davon aus, dass viele Haushalte aufgrund reduzierter Kaufkraft nicht in der Lage sein werden, ihren Ernährungs- und essentiellen Nicht-Ernährungs-Bedürfnissen nachzukommen. UNOCHA zufolge hat sich der Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren in den meisten Teilen Afghanistans verschlechtert, wobei in 25 der 34 Provinzen Notfalllevels an akuter Unterernährung erreicht würden (EASO Indikatoren, Kapitel 2.4.1.).
Zur Beeinflussung des Arbeitsmarkts durch COVID-19 gibt es keine offiziellen Regierungsstatistiken, es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat. Die afghanische Regierung warnt vor einer Steigerung der Arbeitslosigkeit um 40%. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen habe in einer Befragung bis Juli 2020 84% angegeben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Fall einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten, bei einer vierwöchigen Quarantäne steigt diese Zahl auf 98%. Insgesamt ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war. 2019 waren 10,2 Millionen von Lebensmittelunsicherheit betroffen, während 11,3 Millionen humanitäre Hilfe benötigen (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
Der Finanzsektor in Afghanistan entwickelt sich und es gibt mittlerweile mehrere Banken. Auch ist es relativ einfach, ein Bankkonto zu eröffnen. Außerdem kann über das sogenannte Hawala-System Geld einfach und kostengünstig weltweit transferiert werden (LIB, Kapitel 22).
II.5.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es 2018 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei rund 87 % der Bevölkerung eine solche innerhalb von zwei Stunden erreichen könnten. Laut WHO gab es 2018 134 Krankenhäuser, 26 davon in Kabul (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.1.; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Staatsbürger zur Verfügung zu stellen. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Voraussetzung dafür ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis oder Tazkira. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet jedoch kaum bis gar nicht statt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist allerdings sichergestellt, weniger dagegen auf der Ebene von Distrikten und Dörfern. Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Das ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (LIB, Kapitel 23).
Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos (LIB, Kapitel 23).
Berichten von UN OCHA zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Berichten zufolge können Patienten in manchen öffentlichen Krankenhäusern aufgefordert werden, für Medikamente, ärztliche Leistungen, Laboruntersuchungen und stationäre Behandlungen zu bezahlen. Medikamente sind auf jedem afghanischen Markt erwerbbar, die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren (LIB, Kapitel 23).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 23). Die Einwohner Kabuls, auch die Frauen, profitieren von einem einfacheren Zugang zu medizinischen Einrichtungen als in anderen Städten (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.2.).
In einem Fact-Finding-Mission-Report legte FIS dar, dass Gesundheitseinrichtungen häufig Probleme mit der Beschaffung von Medikamenten haben. Ebenso war die Qualität der Medizin ein Thema. Es waren jedoch Medikamente sowohl von guter als auch von schlechter Qualität vorhanden. Die, die es sich leisten können, können Medikamente guter Qualität kaufen, während die, die dazu nicht in der Lage sind, auf Medikamente von schlechter Qualität beschränkt sind. Der Zugang zu qualitativ hochwertigen Medikamenten kann nicht immer garantiert werden. Laut einem Fact-Sheet des BAMF, IOM und ZIRF-Counselling aus dem Jahr 2017 ist jede Art von Medikamenten auf dem afghanischen Markt erhältlich. Die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Herstellern. Die Verfügbarkeit von Medikamenten und medizinischen Geräten ist aufgrund von Unsicherheit, Unzulänglichkeit von Straßen und Unterbrechung von Elektrizität oder temperaturabhängigen Lieferketten begrenzt. Oft gibt es keine lebensrettenden Arzneimittel, auch in überweisenden Krankenhäusern. Erforderliche Medikamente werden manchmal nicht rechtzeitig an Krankenhäuser geliefert, was eine vorübergehende Medikamentenknappheit schafft. In solchen Fällen werden Medikamente nur in Notfällen eingesetzt. Die übrigen Patienten müssen sie in privaten Apotheken kaufen (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.2.):
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sowie auch spezialisierte Kliniken sind grundsätzlich verfügbar. Außerdem werden sie als in der afghanischen Gesellschaft als schutzbedürftig betrachtet und werden als Teil der Familie gepflegt (LIB, Kapitel 23.1).
II.5.3.1. COVID-19
Der erste offizielle Fall in Afghanistan wurde Ende Februar 2020 festgestellt. Nach einer Umfrage des afghanischen Gesundheitsministeriums hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (LIB, Kapitel 3).
Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Bevölkerung unabhängig von etwaigen Ausgangsbeschränkungen dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).
Durch die COVID-19-Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. 53% der Bevölkerung haben nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten (LIB, Kapitel 3).
II.5.4. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 18).
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlich politischen Einfluss im Land. In Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 18.2.).
II.5.5. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 17).
II.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 12).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
II.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 20).
Nach Schließung einiger Grenzübergänge aufgrund der COVID-19 Pandemie sind nunmehr alle Grenzübergänge wieder geöffnet. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen. Auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt. Ebenso verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führ zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 3).
Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. In Kabul ist die Fluktuation aufgrund verschiedener Faktoren größer, was oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht, dass man seine Nachbarn nicht mehr kenne (LIB, Kapitel 20).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 20.1).
II.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 5).
Taliban:
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und –pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt. Sie bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (LIB, Kapitel 5).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 5).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug geschätzt etwa 40.000-85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf 100.000 ansteigt. (LIB, Kapitel 5).
Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami bekannt ist. Diese Gruppe ist gegen den US-Taliban Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (LIB, Kapitel 5).
Laut dem unabhängigen Afghanistan-Experten Borhan Osman rekrutieren die Taliban in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos, in Madrasas und ethnisch paschtunisch ausgebildet sind.138 Die Rekrutierung erfolgt normalerweise über die Militärkommission der Gruppe und den Einsatz in Moscheen sowie über persönliche Netzwerke und Familien von Kämpfern, von denen viele motiviert sind, "die westlichen Institutionen und Werte, die die afghanische Regierung ihren Verbündeten abgenommen hat, zutiefst zu verabscheuen". Anstatt Gehälter zu zahlen, übernehmen die Taliban die Kosten (EASO AGEs, 2.4.). Die Taliban Kämpfer werden von einem Bericht in zwei Kategorien eingeteilt. Einerseits professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (LIB, Kapitel 5).
Haqani-Netzwerk:
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida und verfügt über Kontakte zu IS. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 5).
Islamischer Staat (IS/Daesh) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):
Der IS bezeichnet sich in Afghanistan selbst als Khorosan Zweig des IS. Eine Verbindung mit dem IS im Irak und in Syrien ist aber nicht erwiesen Die Stärke des ISKP variiert zwischen 2.500 und 4.000, bzw. 4.500 und 5.000 Kämpfern (LIB, Kapitel 5).
Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. In letzter Zeit geriet der ISKP unter großem Druck und verlor auch seine Hochburg in Ostafghanistan. Er soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKO hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfern reduziert (LIB, Kapitel 5).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Verlust des Territoriums ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel 5).
Der ISKP ist mit den Taliban verfeindet und betrachtet diese als Abtrünnige. Während die Taliban ihre Angriffe auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB, Kapitel 5).
Al-Qaida:
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB, Kapitel 5).
II.5.9 Provinzen und Städte
II.5.9.1. Herkunftsprovinz Kabul:
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat geschätzt 4.434.550 Einwohner. Andere Berichte schätzen die Einwohnerzahl zwischen 3.5 und 6.5 Millionen. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 5.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 5.1 und Kapitel 5.35).
In den von neu eingewanderten Bewohnern bewohnten Stadtvierteln entsteht eine dofgesellschaftsähnliche Gemeinschaft. Die Verbindung dieser zu ihren früheren Herkunftsorten ist meistens direkter als zum Zentrum Kabuls (LIB, Kapitel 5.5.).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul und alle Distrikte gelten las unter Regierungskontrolle. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen in den letzten Jahren insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 5.1). Anschläge der regierungsfeindlichen Gruppierungen in Kabul richten sich zumeist gegen Regierungsinstitutionen, militärische und zivile Einrichtungen der afghanischen Regierung und internationaler Organisationen sowie Justizbedienstete, Gesundheitsbedienstete, Entwicklungshelfer und Menschenrechtsaktivisten. Zusätzlich wird auch von Angriffen gegen Medien berichtet. Vom 01.03.2019 bis zum 30.06.2020 richteten sich demnach von insgesamt 142 Vorfällen 22 gegen Zivilisten. Die Zahl der Anschläge ging nach einem Anstieg im ersten Halbjahr 2018 zudem seitdem bis 2019 zurück, während sich im dritten Quartal 2019 – wie in gesamt Afghanistan – die Zahl der Anschläge wieder erhöhte. Seitdem ging die Zahl wieder zurück, während sie seit dem zweiten Quartal 2020 wieder stieg. Die Anschläge richten sich jedoch nicht mehr so häufig wie früher auf „high-profile“ Ziele, sondern es stieg vielmehr die Zahl gezielter Tötungen vor allem von Regierungsangehörigen. Die Anschläge richteten sich in der überwiegenden Zahl gegen Regierungseinrichtungen (EASO Security, 2.1.3.1.).
Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).
Rund ein Drittel aller Rückkehrer nach Afghanistan lebt entweder in Kabul oder Nangarhar. Während 2018 landesweit 46 % der Binnenvertriebenen angaben, der Zugang ihres Haushalts zu wichtigen Lebensgrundlagen wäre eingeschränkt, war die Situation in Kabul mit einem Anteil von 33 % etwas besser (EASO Indikatoren, Kapitel 2.2.3.). Während aus Kabul keine gewaltbedingte Vertreibung feststellbar ist, nimmt Kabul nach wie vor gewaltb