Entscheidungsdatum
30.03.2021Norm
BEinstG §14Spruch
W218 2237463-1/7E
BESCHLUSS!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Benedikta TAURER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Marion STEINER sowie die fachkundige Laienrichterin Mag. Bettina PINTER als Beisitzerinnen über die Beschwerde der XXXX , geboren am XXXX , VN XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Niederösterreich vom 26.08.2020, betreffend die Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten, beschlossen:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) idgF zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang:
1. Mit Bescheid vom 26.08.2020 hat das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Kurzbezeichnung: Sozialministeriumservice; in der Folge belangte Behörde genannt) dem Antrag auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten gemäß § 2, § 3 und § 14 BEinstG stattgegeben und einen Grad der Behinderung in Höhe von 50 vH festgestellt.
Dem Bescheid zugrunde gelegt wurde das von der belangten Behörde im Verfahren betreffend Ausstellung eines Behindertenpasses eingeholte medizinische Sachverständigengutachten von einer Ärztin für Allgemeinmedizin, basierend auf der persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 23.06.2020, das einen Gesamtgrad der Behinderung von 50 vH ergab.
2. Gegen diesen Bescheid wurde von der Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde erhoben. Unter Vorlage von Beweismitteln wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass ihre rheumatologischen Befunde nicht berücksichtigt worden seien. Sie sei zudem mit einer Begleitperson zur Untersuchung erschienen und könne nicht immer frei gehen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Die Beschwerdeführerin hat am 21.08.2020 beim Sozialministeriumservice einen Antrag auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten gestellt.
Die belangte Behörde hat zur Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung das Sachverständigengutachten betreffend Verfahren zur Ausstellung eines Behindertenpasses, basierend auf der persönlichen Untersuchung am 23.06.2020 herangezogen. Die belangte Behörde hat die mit Antrag vom 21.08.2020 übermittelten Befunde einer Ärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 20.08.2020 und eines Facharztes für Innere Medizin vom 06.08.2020 nicht zur Beurteilung herangezogen. Die belangte Behörde hat es sohin unterlassen, den notwendigen Sachverhalt zu ermitteln.
Darüber hinaus wurde das vorliegende psychische Leiden im herangezogenen Sachverständigengutachten, basierend auf der persönlichen Untersuchung am 23.06.2020, von einer Ärztin für Allgemeinmedizin eingestuft. Das erstellte Sachverständigengutachten ist mangels Hinzuziehung einer Fachärztin/eines Facharztes für Psychiatrie nicht schlüssig.
1. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.
Gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, sofern die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt hervorgehoben (vgl etwa das hg. Erkenntnis vom 10. September 2014, Ra 2014/08/0005), dass selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, keine Zurückverweisung der Sache rechtfertigen, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind.
Der Umstand, dass gegebenenfalls (punktuelle) ergänzende Einvernahmen durchzuführen wären, rechtfertigt nicht die Zurückverweisung; vielmehr wären diese Einvernahmen, sollten sie wirklich erforderlich sein, vom Verwaltungsgericht - zweckmäßigerweise im Rahmen einer mündlichen Verhandlung - durchzuführen. (Ra 2015/08/0178 vom 27.01.2016)
In § 28 VwGVG 2014 ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs 3 zweiter Satz leg cit vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (Hinweis E vom 17. Dezember 2014, Ro 2014/03/0066, mwN). Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden (Hinweis E vom 27. Jänner 2015, Ra 2014/22/0087, mwN). Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (Hinweis E vom 12. November 2014, Ra 2014/20/0029, mwN). (Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016) Zu A)
1. Zur Entscheidung in der Sache:
Begünstigte Behinderte im Sinne dieses Bundesgesetzes sind österreichische Staatsbürger mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 vH.
Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen, die geeignet ist, die Teilhabe am Arbeitsleben zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten (§ 3 BEinstG).
Liegt ein Nachweis im Sinne des Abs. 1 nicht vor, hat auf Antrag des Menschen mit Behinderung das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen den Grad der Behinderung nach den Bestimmungen der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) einzuschätzen und bei Zutreffen der im § 2 Abs. 1 angeführten sonstigen Voraussetzungen die Zugehörigkeit zum Kreis der nach diesem Bundesgesetz begünstigten Behinderten (§ 2) sowie den Grad der Behinderung festzustellen. Hinsichtlich der ärztlichen Sachverständigen ist § 90 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152, anzuwenden.
Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt aus folgenden Gründen als mangelhaft:
Die belangte Behörde hat zur Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung ausschließlich das Sachverständigengutachten, basierend auf der persönlichen Untersuchung am 23.06.2020, aus dem Verfahren betreffend Ausstellung eines Behindertenpasses herangezogen. Ein eigenes Ermittlungsverfahren hat die belangte Behörde nicht durchgeführt. Dabei hat die belangte Behörde insbesondere den mit dem Antrag auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten vom 21.08.2020 übermittelten Arztbrief vom 06.08.2020 nicht berücksichtigt. In diesem Arztbrief ist als Diagnose Spondyloarthritis angeführt. Im herangezogenen Sachverständigengutachten wurde das Leiden 2 „Cervikodorsalgie bei Zustand nach Bandscheibensanierung C5/6, multiplen Bandscheibenschäden in der mittleren und unteren Brustwirbelsäule mit Neuroforamenenge, Dysplasiehüften, Bindegewebsverquellungen mit Druckdolenz, Hinweise auf entzündliche Veränderun der Becken-Darmbeinfuge links“ unter der Positionsnummer 02.01.02 mit dem oberen Rahmensatz mit einem Grad der Behinderung von 40 vH eingestuft. In der Begründung der herangezogenen Positionsnummer und des gewählten Rahmensatzes führte die Sachverständige unter anderem aus, dass die rheumatologische Abklärung noch nicht abgeschlossen ist.
Im herangezogenen Sachverständigengutachten, basierend auf der persönlichen Untersuchung am 23.06.2020, wurde als führendes Leiden 1 „Neurotische Belastungsreaktionen, somatoforme Störungen und posttraumatische Belastungsstörung“ unter der Positionsnummer 03.05.01 mit einem Grad der Behinderung von 40 vH eingestuft. Das Gutachten wurde jedoch von einer Ärztin für Allgemeinmedizin erstellt, für die Beurteilung des führenden Leidens 1 wäre jedoch die Beiziehung eines Facharztes/Fachärztin für Psychiatrie heranzuziehen gewesen.
Die belangte Behörde hat im gegenständlichen Fall notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen und erweist sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung der Voraussetzungen für Beurteilung der Feststellung der Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten auf Grund der zu kurz gegriffenen Ermittlungen im verwaltungsbehördlichen Verfahren als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich sind. Im Beschwerdefall hat das Sozialministeriumservice im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes den maßgeblichen Sachverhalt bloß ansatzweise ermittelt.
Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde ein fachärztliches Sachverständigengutachten einer Fachärztin/ eines Facharztes für Innere Medizin einzuholen haben, worin auf die Frage der Einstufung des rheumatischen Leidens, insbesondere unter Berücksichtigung des am 21.08.2020 vorgelegten Befundes eines Facharztes für Innere Medizin einzugehen sein wird.
Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde weiters ein fachärztliches Sachverständigengutachten eines Facharztes/ einer Fachärztin für Psychiatrie einzuholen haben, worin das psychiatrische Leiden der Beschwerdeführerin zu beurteilen ist sowie ein Gesamtgutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin.
Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich.
Hinzu kommt, dass dem Bundesverwaltungsgericht keine Sachverständigen zur Verfügung stehen und es für die belangte Behörde eine Leichtes ist, einen Facharzt/eine Fachärztin für Innere Medizin und einen Facharzt/eine Fachärztin für Psychiatrie mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens zu beauftragen.
Von den vollständigen Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.
Die Beschwerdeführerin beabsichtigt offensichtlich die Beantragung der Zuerkennung der Zusatzeintragung Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel aufgrund einer Behinderung in den Behindertenpass. Diesbezüglich tätigte sie auch Ausführungen in der Beschwerde betreffend Feststellungsverfahren der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten und übermittelte den entsprechenden Antrag mit der Beschwerde im Feststellungsverfahren. Der Beschwerdeführerin ist offensichtlich nicht bewusst, dass das Verfahren betreffend Ausstellung eines Behindertenpasses samt Zusatzeintragungen strikt vom Feststellungsverfahren der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten zu trennen ist und ist sie im fortgesetzten Verfahren jedenfalls darauf hinzuweisen.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückzuverweisen.
Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 24 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 idgF hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. In diesem Sinne ist eine Verhandlung als erforderlich anzusehen, wenn es nach Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 Abs. 2 GRC geboten ist, wobei gemäß Rechtsprechung des VfGH der Umfang der Garantien und des Schutzes der Bestimmungen ident sind.
Der Rechtsprechung des EGMR kann entnommen werden, dass er das Sozialrecht auf Grund seiner technischen Natur und der oftmaligen Notwendigkeit, Sachverständige beizuziehen, als gerade dazu geneigt ansieht, nicht in allen Fällen eine mündliche Verhandlung durchzuführen (vgl. Eriksson v. Sweden, EGMR 12.4.2012; Schuler-Zgraggen v. Switzerland, EGMR 24.6.1993).
Im Erkenntnis vom 18.01.2005, GZ. 2002/05/1519, nimmt auch der Verwaltungsgerichtshof auf die diesbezügliche Rechtsprechung des EGMR (Hinweis Hofbauer v. Österreich, EGMR 2.9.2004) Bezug, wonach ein mündliches Verfahren verzichtbar erscheint, wenn ein Sachverhalt in erster Linie durch seine technische Natur gekennzeichnet ist. Darüber hinaus erkennt er bei Vorliegen eines ausreichend geklärten Sachverhalts das Bedürfnis der nationalen Behörden nach zweckmäßiger und wirtschaftlicher Vorgangsweise an, welches das Absehen von einer mündlichen Verhandlung gestatte (vgl. VwGH vom 4.3.2008, 2005/05/0304).
Der im gegenständlichen Fall entscheidungsrelevante Sachverhalt wurde auf gutachterlicher Basis ermittelt. Zudem wurde von der Beschwerdeführerin in der Beschwerde kein Vorbringen erstattet, welches eine weitere Erörterung notwendig erschienen ließ.
Im Hinblick auf obige Überlegungen sah der erkennende Senat daher unter Beachtung der Wahrung der Verfahrensökonomie und -effizienz von einer mündlichen Verhandlung ab, zumal auch eine weitere Klärung der Rechtssache hierdurch nicht erwartbar war.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG) hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung SachverständigengutachtenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W218.2237463.1.00Im RIS seit
07.06.2021Zuletzt aktualisiert am
07.06.2021