TE Vwgh Erkenntnis 2021/5/3 Ra 2019/11/0036

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Veröffentlicht am 03.05.2021
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §37
AVG §39a
AVG §52

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie Hofrat Dr. Grünstäudl und Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der C M, vertreten durch Mag. Sabine Barbach, Rechtsanwältin in 1080 Wien, Albertgasse 1/Tür 14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Dezember 2018, Zl. W166 2003742-1/86E, betreffend Anträge nach dem Verbrechensopfergesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Der Antrag auf Ersatz der Barauslagen und das Aufwandersatzmehrbegehren werden abgewiesen.

Begründung

1        1. Bisheriger Verfahrensgang:

2        Die Revisionswerberin stellte am 16. Oktober 2012 bei der belangten Behörde Anträge auf Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG). Mit Bescheid vom 15. November 2013 gab die belangte Behörde ihrem Antrag auf Zuerkennung der Kostenübernahme für Psychotherapie statt; die Entscheidung über die weiteren Anträge der Revisionswerberin wurde einer späteren Entscheidung vorbehalten.

3        Infolge einer Säumnisbeschwerde der Revisionswerberin vom 29. Jänner 2014 wurde das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht fortgesetzt. Das Bundesverwaltungsgericht holte - jeweils auf einer persönlichen Untersuchung der Revisionswerberin beruhende - medizinische Sachverständigengutachten aus den Bereichen der Psychiatrie und Neurologie, der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, der Augenheilkunde und ein diese fachärztlichen Gutachten zusammenfassendes allgemeinmedizinisches Sachverständigengutachten ein. Die Anträge der Revisionswerberin wurden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. September 2016 abgewiesen.

4        Der Verwaltungsgerichtshof gab der gegen diese abweisende Entscheidung erhobenen Revision mit Erkenntnis vom 23. November 2017, Ra 2016/11/0160, statt und hob das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf.

5        In seiner Begründung führte der Verwaltungsgerichtshof insbesondere aus:

„Die Beiziehung eines Sachverständigen ist regelmäßig dann „notwendig“ iSd § 52 Abs. 1 AVG, wenn zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts besonderes Fachwissen erforderlich ist, über das das Verwaltungsorgan selbst nicht verfügt; der Sachverständige ist derart also „Hilfsorgan“ des erkennenden Verwaltungsorgans (vgl. Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I, 2. Auflage, E 141 zu § 52 AVG). Kann sich der Sachverständige bei seiner Gutachtenserstattung nicht auf schon aktenkundige Umstände stützen, sondern hat er selbst erst - im Rahmen einer Befundaufnahme - die entscheidenden Tatsachen zu erheben, auf Grund derer er dann das eigentliche Gutachten abgibt, sind die gleichen Aspekte, die bei einer unmittelbar durch die Behörde durchzuführenden Vernehmung gegebenenfalls die Beiziehung eines Dolmetschers erfordern, auch hier maßgeblich: Eine solche Beiziehung ist erforderlich, wenn der zu Vernehmende nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt, um verlässlich die an ihn gerichteten Fragen zu verstehen und sie zweckentsprechend beantworten zu können (vgl. VwGH 19.2.2003, 99/08/0146). Gerade dann, wenn den Angaben des im Rahmen der Befundaufnahme durch den Sachverständigen zu Vernehmenden entscheidende Bedeutung zukommt, weil der aufzunehmende Befund Grundlage für das zu erstattende Gutachten ist, beeinträchtigen nämlich allfällige Verständigungsprobleme die Verlässlichkeit eines entscheidenden Beweismittels und damit die Schlüssigkeit der Beweiswürdigung.

...

Dem Verwaltungsgericht lagen der Aktenlage nach (etwa: zahlreiche englischsprachige Eingaben der Revisionswerberin, wobei in der vom 9.9.2014 ausdrücklich das Erfordernis der Beiziehung eines ‚suitable translator‘, also eines geeigneten Übersetzers, angesprochen wurde; die von der Revision ins Treffen geführten Passagen der Gutachten) zumindest Anhaltspunkte dafür vor, dass die Revisionswerberin der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sei. Vor diesem Hintergrund konnte das Verwaltungsgericht nicht ohne weiteres Gewissheit haben, dass die Revisionswerberin die bei der Befundaufnahme an sie gerichteten Fragen verstehen und beantworten konnte.“

6        2.1. Im fortgesetzten Verfahren führte das Verwaltungsgericht am 6. November 2018 im Beisein der Revisionswerberin und ihrer Verfahrenshelferin unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die englische Sprache sowie im Beisein jener Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, die basierend auf der persönlichen Untersuchung der Revisionswerberin am 17. April 2015 das der Entscheidung des Verwaltungsgerichts im ersten Rechtsdurchgang zugrunde gelegte Gutachten erstattet hatte, eine mündliche Verhandlung durch. In dieser Verhandlung wurden die im ersten Rechtsgang eingeholten Gutachten von der Dolmetscherin übersetzt und der Revisionswerberin Gelegenheit zur Stellungnahme und Erörterung mit der Sachverständigen gegeben.

7        2.2. Mit dem hier angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht die offenen Anträge auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse der mündlichen Verhandlung im zweiten Rechtsgang erneut ab. Die Revision erklärte es für nicht zulässig.

8        In seiner Begründung stellte das Verwaltungsgericht fest, die Revisionswerberin sei am 26. Dezember 2010 bei einer Auseinandersetzung mit ihrem damaligen Lebensgefährten von diesem verletzt worden und habe dabei mit Wahrscheinlichkeit eine Schädelprellung, eine Zerrung der Halswirbelsäule und der Muskulatur des rechten Oberarmes sowie in weiterer Folge eine Posttraumatische Belastungsstörung erlitten. Die Schädelprellung, die Zerrung der Halswirbelsäule und der Muskulatur des rechten Oberarmes seien vollkommen folgenlos abgeheilt. Eine verbrechenskausale Hörstörung, Hörschädigung, Sehstörung oder Augenschädigung lägen nicht vor. Ein verbrechensbedingter Zahnverlust habe nicht nachgewiesen bzw. belegt werden können. Eine sich aus der vorliegenden Posttraumatischen Belastungsstörung ergebende verbrechenskausale Arbeitsunfähigkeit bzw. Einschränkung der Arbeitsfähigkeit sei nicht gegeben.

9        Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht aus, die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Revisionswerberin ergäben sich aus den eingeholten Sachverständigengutachten sowie den diesbezüglichen Erörterungen durch die ärztliche Sachverständige in der mündlichen Verhandlung. Die Gutachten seien in der mündlichen Verhandlung am 6. November 2018 wortwörtlich in die englische Muttersprache der Revisionswerberin übersetzt worden. Die Revisionswerberin habe zu den Gutachten im Wesentlichen vorgebracht, dass die medizinischen Sachverständigen sie teilweise unfreundlich behandelt und nicht ordnungsgemäß untersucht hätten und die Gutachten Mängel aufwiesen. Das Vorbringen habe jedoch einesteils bereits in den Gutachten Berücksichtigung gefunden, andernteils keinen maßgeblichen Bezug zum erhobenen bzw. zu erhebenden Sachverhalt aufgewiesen. Auch nach Übersetzung und Erörterung der Gutachten in der mündlichen Verhandlung sei es somit zu keinen abweichenden Ermittlungsergebnissen gekommen, habe die Revisionswerberin kein substantiiertes Vorbringen erstattet und keine relevanten Gutachtensmängel dargelegt. Das Verwaltungsgericht habe diese Gutachten daher seinen Feststellungen in freier Beweiswürdigung zugrunde gelegt.

10       In seiner rechtlichen Beurteilung kam das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Gewährung der beantragten Hilfeleistungen nach dem VOG auf Grundlage der genannten Gutachten nicht vorlägen.

11       3. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.

12       4. Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13       4.1. Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, es liege ein Verfahrensmangel vor, weil es vor dem Hintergrund der aufhebenden Entscheidung durch den Verwaltungsgerichtshof im ersten Rechtsgang nicht ausreichend sei, wenn nunmehr bei der durchgeführten mündlichen Verhandlung eine Fachärztin und nicht alle betroffenen Ärzte unter Beiziehung der Dolmetscherin anwesend gewesen seien bzw. die Befundaufnahmen nicht wiederholt worden seien.

14       Die Revision ist aufgrund des vorgebrachten Verfahrensmangels zulässig und begründet.

15       4.2. Wie bereits oben festgehalten hat der Verwaltungsgerichtshof im ersten Rechtsgang in seinem Erkenntnis vom 23. November 2017, Ra 2016/11/0160, seine aufhebende Entscheidung damit begründet, dass es das Verwaltungsgericht trotz Vorliegens ausreichender Anhaltspunkte dafür, dass die Revisionswerberin der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sei, unterlassen habe, der Frage nachzugehen, ob die Revisionswerberin die bei der Befundaufnahme an sie gerichteten Fragen verstehen und beantworten habe können.

16       Das Verwaltungsgericht hat nunmehr im fortgesetzten Verfahren - ungeachtet der Bindung an die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtshofs - keine neuerliche, von einem Dolmetscher unterstützte Befundaufnahme veranlasst, sondern lediglich im Rahmen der durchgeführten mündlichen Verhandlung eine Erörterung der eingeholten Sachverständigengutachten unter Beiziehung einer Dolmetscherin vorgenommen. Der Verwaltungsgerichtshof betonte in seiner aufhebenden Entscheidung im ersten Rechtsgang, dass gerade dann, wenn den Angaben des Untersuchten im Rahmen der Befundaufnahme entscheidende Bedeutung zukommt, weil der aufzunehmende Befund Grundlage für das zu erstattende Gutachten ist, allfällige Verständigungsprobleme die Verlässlichkeit eines entscheidenden Beweismittels und damit die Schlüssigkeit der Beweiswürdigung beeinträchtigen, sodass „erforderlichenfalls“ auch bei einer Befragung im Rahmen einer Befundaufnahme durch einen Sachverständigen ein Dolmetscher beizuziehen ist, um dem Gebot des § 39a AVG, dessen Befolgung für ein mängelfreies Verfahren unabdingbar ist, zu entsprechen. Ist die im Sinne dieser Rechtsprechung notwendige Beiziehung eines Dolmetschers bei der Befundaufnahme, die als Grundlage eines die den entscheidungswesentlichen Feststellungen zugrunde gelegten Sachverständigengutachtens dient, unterblieben, so kann dieser Verfahrensmangel nicht durch eine bloße Erörterung der auf einer (insofern mangelhaften) Befundaufnahme basierenden Gutachten saniert werden. Die Vorgehensweise des Verwaltungsgerichts entsprach demnach auch nicht dem insofern bindenden Auftrag durch den Verwaltungsgerichtshof.

17       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren wird das Verwaltungsgericht neuerliche Befundaufnahmen unter Beiziehung eines Dolmetschers für die englische Sprache zu veranlassen haben.

18       5. Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

19       Der Antrag auf Ersatz der Barauslagen (ERV-Gebühr von € 2,10 sowie Kosten der postalischen Einbringung des Antrages iHv € 0,88) war abzuweisen, weil in der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 ein Zuschlag für eine im Weg des elektronischen Rechtsverkehrs erfolgte Einbringung von Schriftsätzen nicht vorgesehen ist (vgl. VwGH 2.12.2020, Ra 2019/02/0132).

20       Das in der Revision erstattete, auf den Ersatz verfahrensfremder Kosten im Zusammenhang mit den Dauerfolgen der den Anträgen auf Hilfeleistung nach dem VOG zugrundeliegenden Verletzung gerichtete Mehrbegehren war mangels gesetzlicher Grundlage abzuweisen.

Wien, am 3. Mai 2021

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung Arzt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019110036.L00

Im RIS seit

07.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.06.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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