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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des I S, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Juni 2020, W105 2151844-1/11E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Abweisung der Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der darauf aufbauenden Spruchpunkte) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans aus der Provinz Kunar, beantragte am 11. September 2014 internationalen Schutz in Österreich.
2 Mit Bescheid vom 14. März 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis mit der Maßgabe, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zehn Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage, als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
4 Begründend führte das BVwG - soweit für das Revisionsverfahren relevant - zur Nichtgewährung subsidiären Schutzes aus, dass eine Rückkehr in die Heimatprovinz des Revisionswerbers aufgrund der schlechten Sicherheitslage nicht möglich sei, ihm jedoch die Inanspruchnahme einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif zur Verfügung stehe.
5 Die vorliegende außerordentliche Revision richtet sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und bringt im Wesentlichen vor, das BVwG sei von näher genannter höchstgerichtlicher Judikatur zur amtswegigen Ermittlungspflicht sowie zur Aktualität der einer Entscheidung zugrunde gelegten Länderberichte abgewichen, indem es die - von der Revision dargestellte - aktuelle Lage, insbesondere bezüglich der Erreichbarkeit sowie der Sicherheits- und Versorgungslage in den als inländische Fluchtalternative herangezogenen Landesteilen Afghanistans, außer Acht gelassen und auf zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr aktuelle Länderberichte verwiesen habe.
6 Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach erkannt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 18.3.2021, Ra 2020/18/0496, mwN).
10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat (auch) das BVwG seiner Entscheidung die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben. Eine Verletzung dieser Vorgabe stellt einen Verfahrensmangel dar (vgl. erneut VwGH 18.3.2021, Ra 2020/18/0496, mwN).
11 Ein derartiger Verfahrensfehler ist dem BVwG im vorliegenden Fall unterlaufen.
12 Dem angefochtenen Erkenntnis sind, wie die Revision zutreffend unter Darstellung der aktuellen Länderberichte zum Entscheidungszeitpunkt, ausführt, keinerlei - zum Entscheidungszeitpunkt des BVwG - aktuelle Feststellungen zur Lage in jenen Städten zu entnehmen, in die es den Revisionswerber verweist, gründen sich die Feststellungen des BVwG zu Herat und Mazar-e Sharif doch auf die, zum Entscheidungszeitpunkt bereits über ein Jahr alten EASO Country Guidance Notes zu Afghanistan aus Juni 2019 sowie auf dem Länderinformationsblatt der BFA-Staatendokumentation zu Afghanistan aus November 2019.
13 Es werden insoweit auch keine - über die allgemeinen und kurzen Ausführungen hinausgehenden - rechtlichen Überlegungen zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif angestellt (vgl. dazu auch VwGH 15.9.2020, Ra 2020/18/0145).
14 Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG daher die entsprechenden Feststellungen zur aktuell vorherrschenden Lage in Afghanistan unter Einräumung von Parteiengehör zu treffen haben und sich bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative mit den sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Rückkehrsituation des Revisionswerbers (Erreichbarkeit, Versorgungslage, Unterkunft, Arbeitsmarkt) auseinanderzusetzen haben (vgl. neuerlich VwGH 18.3.2021, Ra 2020/18/0496, mwN).
15 Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensmängel zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Von der beantragten mündlichen Verhandlung war gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abzusehen.
17 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 12. Mai 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180275.L00Im RIS seit
07.06.2021Zuletzt aktualisiert am
14.06.2021