TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/3 I414 2231213-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.12.2020
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Entscheidungsdatum

03.12.2020

Norm

BBG §43 Abs1
BBG §45
BBG §45 Abs1
BBG §45 Abs2
BBG §45 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I414 2231213-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian EGGER als Vorsitzender und den Richter Dr. Harald NEUSCHMID sowie die fachkundig Laienrichterin Dr. Elisabeth RIEDER als Beisitzerin über die Beschwerde des XXXX , vertreten durch Mader & Krapf Rechtsanwälte, Andreas-Hofer-Straße 13, 6020 Innsbruck, gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Tirol (SMS) vom 24.04.2020, Zl. XXXX , in nichtöffentlicher Sitzung, zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und festgestellt, dass ein Gesamtgrad der Behinderung von 70% vorliegt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

XXXX (im Folgenden als Beschwerdeführer bezeichnet) wurde am 30.11.2016 ein bis zum 31.05.2020 befristeten Behindertenpass ausgestellt. Der Gesamtgrad der Behinderung wurde mit 70% festgelegt.

Grundlage für die Ausstellung des Behindertenpasses war ein am 17.08.2016 nach persönlicher Untersuchung erstelltes medizinisches Sachverständigengutachtens. Dies wurde mit einem Zustand nach Prostatakrebs mit Wiederauftreten (Positionsnummer 13.01.03, GdB 70%) begründet. Die ebenfalls vorliegende Mehrgelenkserkrankung mit Einschluss der Wirbelsäule (Positionsnummer 02.02.02, GdB 40%) würde das führende Leiden wegen fehlender wechselseitiger Leidensbeeinflussung nicht weiter erhöhen. Eine Nachuntersuchung im Juli 2020 werde wegen Ablauf der Heilbewährung empfohlen.

Am 28.01.2020 beantragte der Beschwerdeführer die Neuausstellung des Behindertenpasses. In der Folge wurde am 08.04.2020 von Herrn Dr. P. aufgrund der Aktenlage ein medizinisches Sachverständigengutachten erstellt.

Dabei wurde unter Berücksichtigung der vorgelegten medizinischen Unterlagen im Wesentlichen nachfolgende Funktionseinschränkungen festgestellt:

„[…]

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktions-einschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Pos.Nr.

Gdb %

1

Zustand nach Prostatakrebs mit Wiederauftreten

Strahlen- und Chemotherapie bis Juli 2015, als Folge starke überfallsartige Harninkontinenz

08.01.07

60

2

Mehrgelenkserkrankung mit Einschluss der Wirbelsäule

Begründung: Zustand nach Hüftgelenksersatz beidseits, Verengung der Nervenaustritte in der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlen der Schmerzen in die Beine

02.02.03

50

Gesamtgrad der Behinderung 60 v. H.

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:

Das führende Leiden 1 wird durch das Leiden 2 wegen fehlender wechselseitiger Leidensbeeinflussung nicht weiter erhöht.

Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:

Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:

Ablauf der Heilungsbewährung, nun Harninkontinenz im Vordergrund, Verschlechterung des Mehrgelenkleidens

[…]“

Mit Schreiben vom 24.04.2020 wurde dem Beschwerdeführer ein Behindertenpass in Form einer Scheckkarte mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 60% übermittelt.

Dagegen erhob der rechtsfreundlich vertretene Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Im Beschwerdeschriftsatz wird zusammengefasst ausgeführt, dass der Bescheid auf der Basis des Sachverständigengutachtens vom 08.04.2020 aufgrund der Aktenlage erlassen worden sei. Der Inhalt dieses Gutachtens sei nicht nachvollziehbar, zumal der Sachverständige das Gutachten ausschließlich auf der Basis der ihm bereits vorgelegenen medizinischen Unterlagen aus den Jahren 2016 und 2017 erstellt habe. In damaligen Sachverständigengutachten sei ein Gesamtgrad der Behinderung von 70% festgestellt worden.

Das gegenständliche Sachverständigengutachten sei nicht nachvollziehbar, zumal einerseits entgegen den vorhandenen Unterlagen der Gesamtgrad der Behinderung nunmehr mit 60% statt bisher 70% festgelegt worden sei, trotz Vorliegens eines Gutachtens des Urologen Dr. St.. Tatsächlich habe sich am Gesundheitszustand des Beschwerdeführers keine Besserung ergeben, sodass auf der Basis der Feststellungen im Vorverfahren der Gesamtgrad der Behinderung 70% betrage. Beantragt werde außerdem die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“.

Vom erkennenden Gericht wurde ein ergänzendes Sachverständigengutachten eingeholt und beantwortete Dr. G. die ihm gestellten Fragen nach persönlicher Untersuchung des Beschwerdeführers am 31.07.2020 wie folgt (Anonymisierung durch BVwG):

„[...] Stellungnahme zu den Fragen:

a)       Zu der Begutachtung des Herrn Dr. St. vom 27.1.2020 hat sich der Gesundheitszustand nach Prostatakrebs mit Wiederauftreten im Sinne eines Lokalrezidivs, notwendiger Strahlenbehandlung, anfallsartigem Harndrang und Harndranginkontinenz bei Z.n. Prostatakrebs nicht derart geändert, wobei anzumerken ist, dass im Handbuch für ärztliche Sachverständige zur Einschätzungsverordnung unter Pos. Nr. 08.01.07 - GdB 70 % nur bei Entleerungsstörung der Blase schweren Grades einzuschätzen ist bei regelmäßiger Katheterisierung, Tragen eines Dauerkatheters, eines suprapubischen Blasenfistelkatheters sowie Notwendigkeit eines Urinals, weshalb von vornherein hier die Einschätzung mit 60 % von 100 erfolgen müsste.

b)       Funktionsbeeinträchtigungen, Einschätzung Grad der Behinderung:

Entleerungsstörung der Blase schweren Grades    08.01.07 60 % von 100

Hüftleiden beidseits, Z.n. Hüfttotalendoprothesen bds. 02.05.10 50 % von 100 entsprechende Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit wie auch deutliche Bewegungseinschränkung in Beugung

Wirbelsäulenleiden        02.01.03 50 % von 100

rezidivierend und anhaltende Dauerschmerzen, maßgebliche Einschränkungen im Alltag, Bandscheibenvorfall mit Wurzelkompression und Z.n. Bandscheibenoperation

Diabetes mellitus Typ II       09.02.01 30 % von 100

Medikamentöse Therapie bei HbA1c-Wert von 8 %

Arterielle Hypertonie       05.01.02 20 % von 100

höher dosierte Kombinationsbehandlung zur Erreichung des Zielwertes RR 140/90

___________________________________________________________________________

Gesamtgrad der Behinderung:      70 % von 100

Das Leiden 1 wird durch die Leiden 2 bis 4 aufgrund gegenseitiger, negativer, wechselseitiger Leidensbeeinflussung um eine Stufe erhöht.

Das Leiden 5 erhöht aufgrund von nicht Beeinflussung nicht weiter.

Im Vergleich zum Aktengutachten bzw. zum Vorgutachten aus dem Jahr 2017 ist die Einschätzung insofern genauer aufzuschlüsseln mit den einzelnen Richtsatzpositionen, da die beiden Hüftleiden wie auch das Wirbelsäulenleiden für sich jeweils eine derart ausgeprägte Veränderung aufzeigt, dass man aus medizinischer Sicht jedes dieser Leiden für sich anführen muss, da sich diese Leiden auch gegenseitig negativ im Wechsel beeinflussen. Des Weiteren ist auch die Erkrankung des Diabetes mellitus gesondert anzuführen, da auch diese eine negative Auswirkung sowohl auf die Nieren wie auch auf die Gelenke und auf die Gefäße hat.

c)       Bei den Funktionsbeeinträchtigungen handelt es sich um Dauerzustände und es bedarf keiner weiteren Nachuntersuchung.

d)       Einschätzung des Grades der Behinderung:

siehe Punkt b)

e)       Richtsatzpositionen laut Einschätzungsverordnung:

08.01.07 mittlerer Rahmensatz, da noch keine Notwendigkeit einer Kathetisierung bzw. einer Blastenfistel besteht;

02.05.10 fixer Rahmensatz;

02.01.03 unterer Rahmensatz, da keine Opioidmedikation erforderlich;

09.02.01 oberer Rahmensatz, aufgrund eines deutlich erhöhten Hbl C-Wertes;

05.01.02 fixer Rahmensatz;

f)       Im Vergleich zum Gutachten vom 8.4.2020, welches als Aktengutachten durchgeführt wurde, ist insofern eine Änderung des Gesundheitszustandes zu attestieren, als dass die beiden Hüftprothesen derart ausgelockert sind, dass es zu einer Revisionsoperation beider Hüften kommen sollte. Die Problematik der Blasenentleerungsstörung ist mit 60 % von 100 gleichbleibend.

g)       Der Gesamtgrad der Behinderung beträgt 70 % von 100.

h)       Das Hauptleiden ist das Prostataleiden mit Blasenentleerungsstörung schweren Grades, welches durch das Lendenwirbelsäulenleiden wie auch durch das Hüftleiden und den Diabetes mellitus verstärkt wird und sich gegenseitig negativ beeinflusst, weshalb es zu einer Erhöhung um eine Stufe kommt.

Die Blutdruckerkrankung, die durch Medikamente therapiert wird, trägt nicht zu einer negativen wechselseitigen Leidensbeeinflussung bei, weshalb diese nicht weiter erhöht.

Die im Arztbericht Dr. XXXX dargelegte klinische Untersuchung und Diagnostik vom 27.1.2020 ist mit der Begründung einer Strahlenzystitis und Harnröhrenläsion, starker Urge-Symptomatik mit überfallsartigem Harndrang und Harndranginkontinenz angegeben. Es hat sich diesbezüglich von urologischer Seite keine wesentliche Änderung ergeben. […]“.

Das Ergebnis der Beweisaufnahme wurde den Verfahrensparteien zur Kenntnis gebracht. Von der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme wurde von keiner Seite Gebrauch gemacht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist österreichischer Staatsangehöriger und hat er seinen Wohnsitz im Inland.

Er war in Besitz eines befristeten Behindertenpasses und beantragte am 28.01.2020 die Neuausstellung des Passes. Die Vornahme einer Zusatzeintragung wurde am 24.04.2020 mittels bundeseinheitlichem Formular beantragt. Mit gegenständlich angefochtenem Bescheid wurde über die Vornahme der Zusatzeintragung nicht abgesprochen.

Der Beschwerdeführer leidet an folgenden Funktionseinschränkungen:

-Leiden 1: Entleerungsstörung der Blase, Pos. Nr. 08.01.07 mit einem Grad der Behinderung von 60%

-Leiden 2: Hüftleiden beidseits, Pos. Nr. 02.05.10 mit einem Grad der Behinderung von 50%

-Leiden 3 Wirbelsäulenleiden, Pos. Nr. 02.01.03 mit einem Grad der Behinderung von 50%

-Leiden 4: Diabetes mellitus Typ II, Pos. Nr. 09.02.01 mit einem Grad der Behinderung von 30%

-Leiden 5: arterielle Hypertonie, Pos. Nr. 05.01.02 mit einem Grad der Behinderung von 20%.

Das führende Leiden 1 wird durch die Leiden 2 bis 4 negativ beeinflusst und erhöht sich dadurch der Gesamtgrad der Behinderung um eine Stufe auf 70%.

Es liegt ein Dauerzustand vor.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde aufgenommen durch die Einsicht in den Akt der belangten Behörde, insbesondere in den Antrag vom 28.01.2020, in die Gutachten von Dr. P. vom 08.04.2020 und von Dr. G. vom 14.08.2020 nach persönlicher Untersuchung des Beschwerdeführers, in den bekämpften Bescheid sowie in den Beschwerdeschriftsatz.

Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers sowie zum Behindertenpass basieren auf dem vorliegenden Verwaltungsakt und sind unstrittig. An dieser Stelle ist bereits die Rechtsfrage vorzugreifen, dass der Beschwerdegegenstand ausschließlich die Einschätzung des Grades der Behinderung ist. Im verfahrensgegenständlichen Bescheid (Ausstellung des Behindertenpasses) wurde nicht über die Vornahme einer Zusatzeintragung abgesprochen und wurde eine solche erst mit gesondertem Antrag beantragt. Dies ergibt sich aus dem eindeutigen Antragsformular vom 28.01.2020, auf dem Pkt. 3. unausgefüllt geblieben ist. Da der Beschwerdeführer erst am 24.04.2020 mittels gesondertem Antrag die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ beantragte und die Zuständigkeit dafür bei der belangten Behörde liegt, kann im gegenständlichen Verfahren nicht darüber abgesprochen werden.

Die getroffenen Einschätzungen basieren auf dem erhobenen klinischen Befund und den vorgelegten medizinischen Beweismitteln und entsprechen den festgestellten Funktionseinschränkungen nach der Einschätzungsverordnung.

Insgesamt ist festzuhalten, dass der erkennende Senat den Ausführungen des Gutachters Dr. G. folgt, der nach persönlicher Untersuchung den aktuellen und ganzheitlichen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers darlegen konnte. Das von der belangten Behörde eingeholte Gutachten ist ein Aktengutachten und basiert größtenteils auf älteren medizinischen Unterlagen, die bereits in früheren Verfahren herangezogen wurden. Der Gutachter Dr. G. ist auf die Art der Leiden und deren Ausmaß ausreichend eingegangen und sind die Beeinträchtigungen im Sinne der Einschätzungsverordnung richtig eingestuft worden.

Insbesondere legte Dr. G. ausführlich und nachvollziehbar dar, weshalb im Vergleich zum Vorgutachten andere bzw. noch weitere Funktionseinschränkungen festzustellen waren. Insbesondere hielt Dr. G. fest, dass sich aus der Diagnostik des Dr. St. aus urologischer Sicht keine wesentliche Veränderung ergeben hat, jedoch die beiden Hüftprothesen derart ausgelockert sind, dass es zu einer Revisionsoperation kommen sollte. Damit begründete Dr. G. nachvollziehbar, dass das Hüft- und das Wirbelsäulenleiden gesondert anzuführen sind, weil die Leiden auch gegenseitig in negativer Beeinflussung stehen. Ebenso war auch Leiden 4 (Diabetes mellitus Typ II) als ein Leiden für sich unter der Positionsnummer 09.02.01 aufzunehmen, weil dieses eine negative Auswirkung auf die Niere, Gelenke und Gefäße hat.

Dass sich hinsichtlich Leiden 1 keine Änderung im Vergleich zum Vorgutachten ergibt, begründet Dr. G. nachvollziehbar mit den Kriterien der Einschätzungsverordnung, weil nur bei Entleerungsstörungen schweren Grades ein höherer Grad der Behinderung anzuwenden wäre. Da aber weder eine Kathetisierung notwendig ist, noch eine Blasenfistel besteht, war der mittlere Rahmensatz zu wählen.

Auch die angewendeten Rahmensätze der Leiden 2 bis 5 begründete der Sachverständige schlüssig. Leiden 2 und Leiden 5 haben fixe Rahmensätze und kam für Leiden 3 der untere Rahmensatz aufgrund nicht erforderlicher Opiadmedikation und für Leiden 4 der obere Rahmensatz aufgrund eines deutlich erhöhten Hb1C-Wertes zur Anwendung.

Der Sachverständige setze sich auch schlüssig mit den wechselseitigen Leidensbeeinflussungen auseinander und gab er nachvollziehbar an mehreren Stellen in seinem Gutachten an, dass das führende Leiden 1 durch die Leiden 2 bis 4 negativ beeinflusst wird und den Gesamtgrad der Behinderung um eine Stufe erhöht wird. Die Blutdruckerkrankung wird durch Medikamente therapiert und erhöht deshalb nicht weiter.

Das Gutachten steht mit den allgemeinen Gesetzen der Logik in Einklang, ist schlüssig und vollständig. Es enthält Befund und Gutachten im engeren Sinn und wurde nach persönlicher Untersuchung des Beschwerdeführers erstellt. Aus diesen Gründen legt der erkennende Senat diese Gutachten von Dr. G. unter freier Beweiswürdigung seiner Entscheidung zu Grunde und gibt diesem den Vorzug gegenüber dem älteren, von der belangten Behörde eingeholten Gutachten aufgrund der Aktenlage. Den Ausführungen wurde seitens der Parteien nicht mehr entgegengetreten, sodass angenommen werden kann, dass nunmehr ein unstrittiger Sachverhalt vorliegt.

Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:

Nach § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen (§ 24 Abs. 1 VwGVG). Wurde - wie im vorliegenden Fall - kein entsprechender Antrag gestellt, ist die Frage, ob von Amts wegen eine Verhandlung durchgeführt wird, in das pflichtgemäße - und zu begründende - Ermessen des Verwaltungsgerichts gestellt, wobei die in § 24 Abs. 2, 3, 4 und 5 normierten Ausnahmebestimmungen als Anhaltspunkte der Ermessensübung anzusehen sind (vgl. zur insofern gleichartigen Regelungsstruktur des § 67d Abs. 1 und 2 bis 4 AVG [alte Fassung] die Darstellung bei Hengstschläger/Leeb, AVG [2007] § 67d Rz 17 und 29, mwH). Gemäß Abs. 3 leg.cit. hat der Beschwerdeführer die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Gemäß Abs. 4 leg. cit. kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.

Der im Beschwerdefall maßgebliche Sachverhalt ergibt sich aus dem Akt der belangten Behörde und dem eingeholten Ergänzungsgutachten. Zudem sind die Verfahrensparteien dem letztlich eingeholten Ergänzungsgutachten nicht (mehr) entgegengetreten.

Dies lässt - gerade auch vor dem Hintergrund des Umstandes, dass eine mündliche Verhandlung weder vom rechtsfreundlich vertretenen Beschwerdeführer, noch von der belangten Behörde beantragt wurde - die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließ und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung im Beschwerdefall nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel ist, sondern auch im Sinne des Gesetzes (§ 24 Abs. 1 VwGVG) liegt, weil damit dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis (§ 39 Abs. 2a AVG) gedient ist, gleichzeitig aber das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt wird.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. § 7 Abs. 1 BVwGG lautet wie folgt:

"Senate

§ 7. (1) Die Senate bestehen aus einem Mitglied als Vorsitzendem und zwei weiteren Mitgliedern als Beisitzern. Für jeden Senat sind mindestens ein Stellvertreter des Vorsitzenden und mindestens zwei Ersatzmitglieder (Ersatzbeisitzer) zu bestimmen."

§ 45 Abs. 3 und 4 Bundesbehindertengesetz (BBG), BGBl 1990/283 in der geltenden Fassung, lauten wie folgt:

"(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen."

Über die vorliegende Beschwerde war daher durch einen Senat, bestehend aus zwei Berufsrichtern und einem fachkundigen Laienrichter, zu entscheiden.

Die §§ 1, 17, 28 Abs. 1 und 2 und 58 Abs. 1 und 2 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz VwGVG) lauten wie folgt:

"§ 1. Dieses Bundesgesetz regelt das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes.

§ 17. Soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, sind auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 28. (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist."

Zu Spruchpunkt A)

3.2. Die maßgeblichen Bestimmungen des BBG lauten wie folgt:

"§ 43 (1) Treten Änderungen ein, durch die behördliche Eintragungen im Behindertenpaß berührt werden, hat das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen diese zu berichtigen oder erforderlichenfalls einen neuen Behindertenpaß auszustellen. Bei Wegfall der Voraussetzungen ist der Behindertenpaß einzuziehen.

(2) Der Besitzer des Behindertenpasses ist verpflichtet, dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen binnen vier Wochen jede Änderung anzuzeigen, durch die behördliche Eintragungen im Behindertenpaß berührt werden, und über Aufforderung dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen den Behindertenpaß vorzulegen.

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht Vorheriger Suchbegriffstattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu."

§ 4 der Einschätzungsverordnung (EVO) in der geltenden Fassung, lautet wie folgt:

"Grundlage der Einschätzung

§ 4. (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.

(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten."

Dem vom Bundesverwaltungsgericht als schlüssig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei gewertete Sachverständigengutachten von Dr. G. vom 14.08.2020 folgend, beträgt der Grad der Behinderung des Beschwerdeführers nunmehr 70%.

Die führende funktionelle Einschränkung wurde vom Gutachter unter die Positionsnummer 08.01.07 mit einem Grad der Behinderung von 60% eingestuft und entspricht diese Beurteilung der Einschätzungsverordnung, so wie auch die Einstufung der weiteren Leiden 2 bis 5.

Auch bei der Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist der Gutachter nach den Vorgaben von § 3 Abs. 3 der Einschätzungsverordnung ausgegangen, wonach eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, (nur) dann vorliegt, wenn sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt oder zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen. Diesbezüglich hat der Gutachter angegeben, dass sich die Leiden 2 bis 4 negativ auch das führende Leiden 1 auswirken und sich auch wechselseitig beeinflussen und begründete dies ebenso schlüssig. Der Gesamtgrad der Behinderung des Beschwerdeführers wurde daher zu Recht mit 70% festgestellt.

Entgegen der Feststellung im angefochtenen Bescheid, wonach der Grad der Behinderung 60% betrage, beträgt der Grad der Behinderung des Beschwerdeführers nunmehr 70%. Abschließend sei nochmals ausgeführt, dass über die gesondert am 24.04.2020 beantragte Vornahme einer Zusatzeintragung mit gegenständlichem Bescheid nicht abgesprochen wurde und daher nicht Gegenstand dieses Verfahren ist.

Der Beschwerde war insgesamt stattzugeben und spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Insbesondere zur Frage der Feststellung und Einschätzung der Leiden mittels fachärztlichem Gutachten konnte auf die angeführte Judikatur zurückgegriffen werden.

Schlagworte

Behinderung Grad der Behinderung Gutachten Nachvollziehbarkeit Sachverständigengutachten Schlüssigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:I414.2231213.1.00

Im RIS seit

31.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

31.05.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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