TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/4 I419 2233416-1

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Veröffentlicht am 04.12.2020
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Entscheidungsdatum

04.12.2020

Norm

AlVG §11
AlVG §38
AlVG §9 Abs2
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I419 2233416-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Tomas JOOS als Vorsitzenden sowie die fachkundigen Laienrichter MMag. Marc Deiser und Thomas Geiger MBA als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX gegen den Bescheid des AMS Feldkirch vom 24.02.2020, Zl. XXXX , betreffend Nichtgewährung von Notstandshilfe zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der Spruch des angefochtenen Bescheids durch folgenden ersetzt:

„Der Ausschluss vom Bezug der Notstandshilfe für 22.01. bis 14.02.2020 wird Ihnen gemäß § 11 Abs. 2 und § 38 AlVG zur Gänze nachgesehen.“

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Mit dem bekämpften Bescheid sprach das AMS aus, dass der Beschwerdeführerin die Notstandshilfe für 22.01. bis 14.02.2020 nicht erhalte. Sie habe ihr Dienstverhältnis freiwillig gekündigt, und Nachsichtsgründe seien nicht zu berücksichtigen gewesen.

2. Beschwerdehalber wird vorgebracht, die Beschwerdeführerin habe gekündigt, weil sie von H. nach S. gezogen und auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sei. Die Wegzeit mit diesen betrage pro Richtung 1:55 h, die sie ohnedies 2,5 Monate auf sich genommen habe, zwei Wochen länger als vereinbart, um die Nachfolgerin einzulernen. Damals habe sie zwei Stellen in Aussicht gehabt und nicht gedacht, auf das AMS angewiesen zu sein.

3. Das AMS legte den Akt mit dem Bemerken vor, dass eine Wegzeitprüfung erfolgt sei, die Beschwerdeführerin ihren Wohnsitz tatsächlich verlegt habe und die Frist für die Beschwerdevorentscheidung zwischenzeitlich verstrichen sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt, wie in I. wiedergegeben. Außerdem wird festgestellt:

Die Beschwerdeführerin war seit September 2019 Angestellte der S. GmbH in der Gemeinde L., wohin sie aus ihrer Wohngemeinde H. pendelte. Ihre Arbeitszeiten als Teilzeitbeschäftigte mit 20 Wochenstunden waren montags bis freitags 10 bis 14 Uhr. Da sie kein Auto besaß, war sie auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, wobei ihre Wegzeiten morgens 43 oder 47 Minuten und nachmittags 40 Minuten waren, täglich also etwa 1:25 h.

Mitte November 2019 zog sie in die Gemeinde Z., in die Ortschaft B., wodurch sich ihre Wegzeiten auf 1:45 h früh und 1:42 h nachmittags verlängerten, somit pro Tag 207 min oder 3:27 h. Aus diesem Grund kündigte sie ihr Dienstverhältnis, welches darauf am 17.01.2020 endete.

Am 22.01.2020 sprach sie beim AMS vor, beantragte Notstandshilfe und gab dabei an, selbst gekündigt zu haben. Sie gab dazu bei ihrer späteren Einvernahme an, es sei ihr Nachsicht zu gewähren, weil das Erreichen ihrer Arbeitsstelle in L. nach ihrer Übersiedlung sehr erschwert gewesen sei, zumal keine Busverbindungen vorhanden gewesen wären und ihr auch das Auto des Lebensgefährten nicht zur Verfügung gestanden sei, der es selbst benötigt habe.

Es kann nicht festgestellt werden, dass Personen aus der Wohngemeinde der Beschwerdeführerin oder der Ortschaft, wo sie wohnt, üblicherweise länger als 1,5 Stunden zum Arbeitsplatz und zurück benötigen.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zum Verfahrensgang ergeben sich aus dem Akteninhalt des AMS und sind soweit unstrittig.

Die weiteren Feststellungen ergaben sich aus den Angaben der Beschwerdeführerin und der dazu durchgeführten Abfragen aus dem ZMR und dem Register der Sozialversicherungen, betreffend die Wegzeiten einer Fahrplanabfrage auf der Homepage des Verkehrsverbundes.

Die Negativfeststellung betreffend die üblichen Wegzeiten ergab sich daraus, dass eine längere übliche Wegzeit von keiner der Parteien behauptet wird und eine Fahrplanabfrage ergibt, dass vom Zentrum der Ortschaft B. aus der Bahnhof Rankweil in etwa 20 min, der Bahnhof Feldkirch in gut 30 min mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist, jeweils mit rund 15 min Fußweg am Anfang in B. zur Haltestelle.

Die Lebenserfahrung lehrt, dass häufiger in die Zentralorte gependelt wird als in periphere Dörfer, sodass davon auszugehen war, für den pendelnden Bevölkerungsteil der Ortschaft B. werde das auch gelten. Damit kann aber nicht davon ausgegangen werden, diese Menschen würden üblicherweise länger als 1,5 Stunden zum Arbeitsplatz und zurück benötigen, zumal einige Pendelnde mit dem Privatfahrzeug kürzere Wegzeiten erzielen werden, da sie sich den Fußweg ersparen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Stattgebung der Beschwerde:

1. In § 11 Abs. 1 AlVG ist angeordnet, dass Arbeitslose, deren Dienstverhältnis infolge eigenen Verschuldens beendet wurde oder die es freiwillig gelöst haben, für vier Wochen, gerechnet vom Tage seiner Beendigung, kein Arbeitslosengeld erhalten. Der Ausschluss vom Bezug ist nach Abs. 2 in berücksichtigungswürdigen Fällen, wie z. B. „wegen Aufnahme einer anderen Beschäftigung, freiwilliger Beendigung eines Dienstverhältnisses oder einer Erwerbstätigkeit aus zwingenden gesundheitlichen Gründen oder Einstellung der Erwerbstätigkeit […] bei Saisonabhängigkeit wegen Saisonende“, ganz oder teilweise nachzusehen. Beides gilt nach § 38 AlVG auch für die Notstandshilfe.

2. Eine Beschäftigung ist nach § 9 Abs. 2 AlVG zumutbar, wenn sie - unter anderem - in angemessener Zeit erreichbar ist oder eine entsprechende Unterkunft am Arbeitsort zur Verfügung steht sowie gesetzliche Betreuungsverpflichtungen eingehalten werden können. Die zumutbare tägliche Wegzeit für Hin- und Rückweg beträgt jedenfalls eineinhalb Stunden und bei einer Vollzeitbeschäftigung jedenfalls zwei Stunden. Wesentlich darüber liegende Wegzeiten sind nur unter besonderen Umständen zumutbar, insbesondere dann, wenn am Wohnort lebende Personen üblicher Weise eine längere Wegzeit zum Arbeitsplatz zurückzulegen haben oder besonders günstige Arbeitsbedingungen geboten werden.

3. Nach den Feststellungen belief sich die Wegzeit der Beschwerdeführerin auf knapp 3,5 Stunden täglich. Es liegt damit eine deutliche Überschreitung der in § 9 Abs. 2 AlVG genannten Werte vor, wobei noch hinzukommt, dass die Wochenarbeitszeit 20 Stunden umfasste. Es wurde auch weder behauptet noch festgestellt, dass in der Ortschaft der Beschwerdeführerin lebende Personen üblicher Weise eine längere Wegzeit hätten, also schon gar nicht, dass es dort üblich wäre, bei einer Halbtagsbeschäftigung 3,5 Stunden hin und zurück zu bauchen.

4. Der VwGH hat zu § 11 AlVG in der Fassung BGBl. Nr. 609/1977 erklärt, eine Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses aus dem Grund, dass die Erreichbarkeit vom neuen Wohnort aus nicht zumutbar im Sinn des § 9 Abs. 3 AlVG ist, könne keinesfalls kann die Folgen des § 11 AlVG auslösen. (26.01.2000, 99/08/0137) Nach dieser Fassung war der damalige § 10 Abs. 2 AlVG sinngemäß anzuwenden, der anordnete, den Ausschluss vom Bezug „in berücksichtigungswürdigen Fällen, wie zB Aufnahme einer anderen Beschäftigung, ganz oder teilweise nachzusehen“. Nach § 9 Abs. 3 in der damaligen Fassung BGBl. Nr. 314/1994 war eine Beschäftigung außerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Arbeitslosen „zumutbar, wenn hiedurch die Versorgung seiner Familienangehörigen, zu deren Unterhalt er verpflichtet ist, nicht gefährdet wird und am Orte der Beschäftigung, wenn eine tägliche Rückkehr an den Wohnort nicht möglich ist, entsprechende Unterkunftsmöglichkeiten bestehen.“

Nach dieser seinerzeitigen Rechtslage hätte also fallbezogen kein Bescheid des AMS zu ergehen gehabt, weil die Folgen des (damaligen) § 11 AlVG infolge der unzumutbaren Wegzeit nicht eingetreten wären.

5. Mit BGBl. I Nr. 104/2007 wurde § 11 in die nunmehrige Fassung gebracht, wobei diese wie oben dargetan die Nachsicht in Abs. 2 regelt. Die Rechtsprechung hat dazu erkannt, dass der Gesetzgeber damit die Prüfung von im Einzelfall vorliegenden subjektiven Faktoren der Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung erfolgt in den Rahmen der Nachsichtgewährung verlegten wollte. Weder dem Gesetz noch den Materialien sei aber zu entnehmen, dass dabei der Maßstab für deren Beachtlichkeit geändert werden sollte. Auch ein Wohnsitzwechsel, der bei Aufrechterhaltung des früheren Dienstverhältnisses tägliche Wegzeiten zwischen dem Wohnort und der Arbeitsstätte entstehen ließe, welche die Zumutbarkeitsgrenze gemäß § 9 Abs. 2 AlVG eindeutig bei Weitem überschreiten, sei demnach weiter beachtlich. (VwGH 19.01.2011, 2009/08/0272 mit Hinweis auf. (99/08/0137)

6. Daraus ergibt sich, dass auch im vorliegenden Fall der subjektiven Faktor der Unzumutbarkeit der Wegstrecke zu berücksichtigen ist, und zwar mit Blick auf die eben wiedergegebene neuere Rechtsprechung nicht dadurch, dass ein Bescheid über den Ausschluss vom Bezug überhaupt unterbleibt, sondern ein solcher zu ergehen hat, der die Nachsichtsgewährung ausspricht, und zwar im Hinblick auf die gesetzlich intendierte Folge, dass der Bezug nicht entfällt, die Gewährung gänzlicher Nachsicht.

Deshalb war der Beschwerde im Ergebnis stattzugeben, der angefochtene Bescheid aber nicht zu beheben, sondern abzuändern.

Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung zur Zumutbarkeit der Beschäftigung nach Wohnsitzwechsel. Weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich anzusehen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

4. Zum Unterbleiben einer Verhandlung:

Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von amtswegen eine öffentliche Verhandlung durchzuführen.

Aufgrund der Aktenlage steht fest, dass die Rechtsfolge des bekämpften Bescheids nicht eintreten soll. Im Ergebnis entspricht die Abänderung materiell einer ersatzlosen Aufhebung des Bescheids.

Die Parteien haben keine Verhandlung beantragt, und mit Blick auf § 24 Abs. 2 Z. 1, wonach die Verhandlung entfallen kann, wenn bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, hält das Gericht eine Verhandlung nicht für erforderlich, weil die Änderung des Spruchs einer Aufhebung gleichkommt.

Schlagworte

Bezugsentfall Freiwilligkeit Kündigung Nachsichtantrag Nachsichterteilung Notstandshilfe Unzumutbarkeit Wohnsitz

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:I419.2233416.1.00

Im RIS seit

31.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

31.05.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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