TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/22 W272 2119414-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.01.2021
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Entscheidungsdatum

22.01.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W272 2119414-2/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch RA Dr. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 30.08.2018, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.01.2020 und 13.01.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. wird stattgegeben und XXXX gem. § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gem. § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. – VI. aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 30.10.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der Folge AsylG).

2. Im Rahmen dieser Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer – nachdem er angab, der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Religionsgemeinschaft anzugehören und aus der Provinz Maidan Wardak von Afghanistan zu stammen – im Wesentlichen vor, sein Vater sei ein Glücksspieler gewesen und habe alle Grundstücke bzw. den gesamten Besitz verspielt. Als der Bruder des Beschwerdeführers von den Taliban getötet worden sei, habe der Beschwerdeführer für die Familie sorgen müssen. Schließlich habe der Vater den Beschwerdeführer beim Glücksspiel eingesetzt und verloren. Der Mann, dem der Beschwerdeführer gehören sollte, sei ein Paschtune aus Kandahar. Er sei vor ca. 1 Monat von seinem Heimatort mit seinem Onkel nach Kabul gefahren. Dort sei er einem unbekannten Mann übergeben worden. Dieser habe ihn mittels Pkw in den Iran gebracht. Der Beschwerdeführer habe nicht als Sklave leben wollen und sei deshalb aus Afghanistan geflohen. Er habe Angst, dass ihn jene Leute, denen er jetzt gehöre, aufgreifen und vergewaltigen.

3. Am 12.10.2015 erfolgte eine Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, wobei der Beschwerdeführer im Wesentlichen ausführte, vor ca. drei Jahren sei sein Bruder, der mit dem Schwager des Beschwerdeführers Container für die Amerikaner transportiert habe, bei einem Angriff der Taliban ums Leben gekommen. Er habe sechs Jahre die Schule besucht, habe danach im Bazar von XXXX gearbeitet. Sei gesund und habe keine Kinder. Er habe in Kabul einen Onkel, in seinem Heimatdorf seine Eltern und eine Schwester, ob sie dort noch leben wisse er nicht, da er keinen Kontakt in seinen Herkunftsstaat habe. Er habe in der Provinz Maidan Wardak gelebt, im Distrikt Jalrez im Dorf XXXX . Weiters sei sein Vater ein Spieler und habe den Beschwerdeführer beim Glücksspiel verloren. Der Beschwerdeführer hätte dann mit dem Gewinner nach Kandahar gehen sollen, wo er hätte tanzen sollen, wobei er auch sexuell belästigt worden wäre. Auf den Einwurf des Bundesamtes, der Beschwerdeführer sei mit 17 Jahren zu alt für eine Tätigkeit als „Bacha Bazi“ – ohne näher auf eine solche Tätigkeit einzugehen und den Einwurf zu begründen – replizierte der Beschwerdeführer, dass dies keine Rolle spiele. Der Beschwerdeführer habe sich zunächst zu seinem Onkel nach Kabul begeben, wo ihn der Vater des Beschwerdeführers jedoch mit bewaffneten Männern gesucht habe. Daraufhin habe er Afghanistan verlassen. Der Vertreterin wurden schließlich Länderfeststellungen zu Afghanistan übergeben, die jedoch nicht im Akt des Bundesamtes einliegen, und gleichzeitig die Möglichkeit eingeräumt, binnen einer Frist von zwei Wochen hiezu Stellung zu nehmen.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurden vorgelegt:

?        Mehrere Deutschkursbestätigungen (A1 und A2)

?        Ehrenamtliche Tätigkeit im „Karl Schubert Haus“

?        Zusage einer vollständigen Anstellung beim Karl-Schubert-Haus, bei positiven Bescheid

4. Mit Schriftsatz vom 06.11.2015 wurde sodann von der Vertreterin eine diesbezügliche Stellungnahme erstattet, wobei im Wesentlichen ausgeführt wurde, es sei vom Beschwerdeführer in Kandahar eine Tätigkeit als „Bacha Bazi“ erwartet worden, wobei er mit hoher Wahrscheinlichkeit regelmäßigen sexuellen Belästigungen ausgesetzt sei. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan habe der Beschwerdeführer Angst, bei dem Mann, an den der Beschwerdeführer verspielt worden sei, als „Bacha Bazi“ arbeiten zu müssen oder aufgrund seiner Flucht von diesem getötet zu werden. Es wurde sodann auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender hingewiesen, wonach Kinder, die Opfer von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt wurden, einer Verfolgungsgefahr auf Grund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und/oder der (ihnen unterstellten) politischen Überzeugung ausgesetzt sein könnten. In diesem Zusammenhang wurde auf die Praxis von „Bacha Bazi“, bei dem Jungen vorwiegend älteren und mächtigen Männern zur sexuellen und sozialen Unterhaltung dienen, hingewiesen. Insbesondere wurde auf eine Anfragebeantwortung von ACCORD vom 06.10.2015 hingewiesen, wonach die Zunahme der Praxis von „Bacha Bazi“ beobachtet werde, wonach der Großteil der Opfer Kinder unter 18 Jahren seien, wobei allerdings auch junge Menschen über 18 Jahre der Praxis zum Opfer fallen. So seien 45% zwischen 16 und 18 Jahre und 13% zwischen 18 und 25 Jahre alt.

5. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, wies dann den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten mit Bescheid vom 03.12.2015, Zahl: XXXX , gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV). Das Bundesamt traf hiebei auch Länderfeststellungen zu Afghanistan, wobei jedoch die relevierte Praxis von „Bacha Bazi“ nicht berücksichtigt und somit völlig unbeleuchtet blieb. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte im Bescheid abermals aus, dass der Beschwerdeführer für die Praxis schon zum damaligen Zeitpunkt zu alt gewesen sei, wobei dies eindeutig aus den Länderfeststellungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu Afghanistan hervorgehe. Wie bereits oben dargestellt, wurden im angefochtenen Bescheid jedoch keine diesbezüglichen Feststellungen getroffen. Es wurde im Bescheid zwar die Stellungnahme vom 06.11.2015 angeführt, eine Darstellung deren Inhaltes und eine Auseinandersetzung mit dieser unterblieben jedoch zur Gänze.

6. Gegen diesen Bescheid richtete sich eine fristgerecht erhobene Beschwerde, wobei insbesondere releviert wird, dass die allgemein gehaltenen Feststellungen des Bundesamtes sich nicht auf das individuelle Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers beziehen und daher zur Beurteilung seines Schutzbedürfnisses ungeeignet seien, wobei abermals auf die ACCORD-Anfragebeantwortung, wonach 45% der Opfer der Praxis von „Bacha Bazi“ zwischen 16 und 18 Jahre und 13% zwischen 18 und 25 Jahre alt seien, hingewiesen wird.

7. Nachgereicht wurden

?        eine Kursbesuchsbestätigung für den Pflichtschulabschlusskurs im Bildungszentrum BACH

?        Praktikumszeugnis für Absolvierung der berufspraktischen Tage in der ÖBB Lehrwerkstatt Wien

?        Referenzschreiben von XXXX

?        Referenzschreiben von XXXX

8. Mit Beschluss des BVwG, W152 2119414-1/15E vom 27.02.2018, wurde der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gem. § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen. Begründet wurde die Entscheidung im Wesentlichen damit, dass sich die belangte Behörde nicht mit der Praxis von „Bacha Bazi“ in Afghanistan ausreichend oder gar nicht beschäftigt hat bzw. entsprechende Feststellungen fehlen, obwohl im Rahmen der Einvernahme und dem Vorbringen des BF, diese Gefahr dargelegt wurde. Die Behörde hat es gänzlich unterlassen entsprechende Feststellungen zu treffen und daher die notwendigen Ermittlungen nicht durchgeführt.

9. Der BF ersuchte, um einen positiven Bescheid, um einer Lehre nachgehen zu können.

10. Am 22.08.2018 erfolgte eine neuerliche Einvernahme des BF vor dem BFA. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme, gab der BF wiederum im Wesentlichen die bisherigen Angaben wieder, dass er von seinem Vater verspielt worden sei und aufgrund der Aufforderung der Mutter, das Haus verlassen habe und zu seinem Onkel nach Kabul gegangen sei. Dort sei er bei dessen Freund untergebracht gewesen und habe nach zwei Tagen, das Land verlassen müssen, da sein Vater mit Männern, beim Onkel, nach ihm gesucht habe. Er spreche Dari, sei in der Schule gewesen und habe bereits seit zumindest einem Jahr gearbeitet. Er fürchte, dass er von den Männern, an den ihn sein Vater verspielt habe, sexuell mißbraucht werde.

11. Mit gegenständlichen Bescheid des BFA vom 30.08.2018, wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt I. und II.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gem. § 10 Abs.s 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV) und gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde eien Frist für die freiwillige Ausreise von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gem. § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zuerkannt.

Im Wesentlichen wurde die Entscheidung damit begründet, dass der BF bei der Wiedergabe des Fluchtgrundes, das Verspielen seiner Person durch den Vater, völlig vage war und keine Details nannte und dadurch unglaubwürdig gewesen sei. Die Behörde habe daher der Fluchtgeschichte keinen Glauben geschenkt. Weiters sei der BF in der Lage seinen Lebensunterhalt in Kabul zu bestreiten, da er ein junger, erwachsener, gesunder und arbeitsfähiger Mann sei, die dortige Sprache spreche und die dort ansässige Kultur kenne. Auch habe der BF noch Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Im Verfahren sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, die die Vermutung einer besonderen Integration seiner Person in Österreich rechtfertigen würde, ein Familienleben in Österreich bestehe nicht, sodass eine Rückkehrentscheidung im öffentlichen Interesse stehe.

12. Dagegen brachte der BF durch seine ihm zugewiesene Rechtsberatung fristgerecht Beschwerde ein. Die Vertretung monierte, dass die Behörde trotz Auftrag des Verwaltungsgerichtes keine entsprechenden Ermittlungen durchgeführt habe. Der BF sei bei der Einvernahme „verhöhrt“ worden und habe aber auch bisher klar dargelegt, dass die Gefahr bestehe, dass er als „Bacha Bazi“ mißbraucht werden würde. Es ist auch auf sein minderjähriges Alter in Rahmen der Einvernahmen Rücksicht zu nehmen. Dass sein Bruder bei den Amerikanern gearbeitet habe und dadurch der BF als Familienangehöriger von Unterstützer von internationalen Organisationen gelte und dadurch die Gefahr der Bedrohung durch die Taliban ausgesetzt sei, sei überhaupt nicht festgestellt oder begründet worden.

Außerdem leide der BF seit längeren unter psychosomatischen Beschwerden, diesbezüglich wird auf den ärztlichen Befund von Herrn Dr. XXXX , Facharzt für Psychiatrie hingewiesen.

Die Sicherheitslage in Afghanistan sei volatil, insbesondere in der Heimatprovinz Maidan Wardak, sodass eine Rückkehr nicht möglich sei. Im Fall seiner Rückker in seinem Heimatort, werde der ehemalige Kommandant der Mujaheddin ihn nach wie vor als Tanzjunge begehren.

Auch sei die Situation für Hazara, sehr schwierig, es werde hier auf eine Accord-Anfrage vom November 2016 verwiesen.

Da die Beweiswürdigung mangelhaft sei, werde auch eine mündliche Verhandlung beantragt. Weiters befinde sich der BF seit 4 Jahren in Österreich, sei ausgezeichnet integriert, spreche sehr gut Deutsch, besuche eine Abendschule der Handelsakademie, sei beim Verein Lupe Cinema Theater und habe seinen Pflichtschulabschluss nachgeholt. In seiner Freizeit treffe er sich mit seinen (mehrheitlich österreichischen) Schulkollegen und Freunde.

Mitvorgelegt wurden:

?        Zeugnis über die Pflichtschulabschlussprüfung (positiv)

?        Zertifikat A2 (Deutsch)

?        Zertifikat B1 (Deutsch)

?        Teilnahmebestätigung bei Produktion „Lupe Cinema Theater“ über 8 Monate

?        2 Referenzschreiben

?        Ärtzlicher Befundbericht mit Diagnose mittelschwer depressive Episode, Verdacht posttraumatische Belastungsstörung, Medikation Mirtazapin 1-mal pro Tag.

13. Mit Schreiben vom 10.01.2020 gab die RA Dr. XXXX die Vollmacht bekannt und legte zur Vorbereitung auf die Behandlung den ärztlichen Befund durch Dr. XXXX vom 10.01.2020 sowie eine Bestätigung über eine Psychotherapie vor.

14. Am 15.01.2020 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Aufgrund der Mitteilung über sexuellen Missbrauch und psychische Belastungen entschied das Gericht ein Gutachten über den psychischen Zustand des BF erstellen zu lassen.

Vorgelegt wurde:

?        Workshop Hilfe im Notfall

?        Schulbesuchsbestätigung 2019/2020

?        Entsprechende Zeugnisse

?        Praktikumszeugnis 2016

?        Terminvereinbarung mit AMS vom 19.01.2018

?        Empfehlungsschreiben von der Pfarre Wr. Neustadt mit einer Unterschriftenliste

?        Empfehlungsschreiben von Herrn XXXX und XXXX

?        Weitere Empfehlungsschreiben

?        2 Semesterzeugnis HAK 2018/2019

Danach Semesterzeugnis 2019/2020, Fotos, Bestätigung der Lehrstellensuche beim Lebensmittelgeschäft HOFER.

15. Am 29.01.2020 langte eine schriftliche Stellungnahme der gewillkürten Rechtsvertretung ein, in welcher auf die volatile Sicherheitslage in Afghanistan hingewiesen wurde. Weiters auf den schlechten psychischen Gesundheitszustand des BF und der darausfolgenden Diskriminierung des BF in Afghanistan, sowie der hohen Kosten an Medikamente. Daraus ergebe sich auch die Frage der Arbeitsfähigkeit und der BF würde in eine existenzielle Notlage geraten. Ungeachtet dessen sei der BF bereits seit über fünf Jahren in Österreich und habe sich hervorragend sozial integriert. Er kam als minderjähriger nach Österreich und sei schwer traumatisiert gewesen. Die Vielzahl an Unterschriften seines Empfehlungsschreibens zeigen auch die Integration des BF in Österreich. Er habe hier eine Ersatzfamilie erhalten und seine Bindung an seinen Herkunftsstaat ist sehr schwach ausgeprägt.

16. Am 20.11.2020 erfolgte die Übermittlung des medizinischen Gutachtens von Univ. Doz. Dr. XXXX . Das Gericht übermittelte das Gutachten an das BFA und den BF. Seitens des BFA erfolgte keine Stellungnahme. Die Rechtsvertretung moniert, dass seitens des Gutachten nicht klar ist, wie der Gutachter die vorgelegten Diagnosen unterscheidet. Es wurde nicht dargelegt, welche Therapien der BF zu absolvieren hat. Weiters wird auf die bisherigen Stellungnahmen verwiesen und dargelegt, dass im Herkunftsland ein Mangel an ausgebildeten Personal bestehe und für den BF aus finanzieller Sicht überwiegend als unerschwinglich darstellt. So gebe es Probleme beim Zugang zur Behandlung von psychischen Erkrankungen bzw. einen Mangel an spezialisierten Gesundheitsversorgungen. Weiters seien Personen mit geistiger und psychischer Erkrankung von Misshandlungen betroffen und mit Diskriminierungen und mit eingeschränktem Zugang zur Erwerbstätigkeit, Bildung und angemessener medizinischer Behandlung. Unter Berücksichtigung der Covid-19 Pandemie, ist davon auszugehen, dass der BF im Falle der Rückkehr keinen Zugang zu erforderlichen medizinischen Behandlungen haben würde und er wegen der fehlenden familiären Unterstützung auch den oben beschriebenen Diskriminierungen bis hin zu erschwerten Bedingungen am Arbeitsmarkt ausgesetzt sein würde. Der BF benötige eine andere Person, welche bei ihm übernachte. Der BF habe in Österreich eine psychosoziale Unterstützung und bei Rückkehr komme auch der Gutachter zum Ergebnis kommt, dass sich der Gesundheitszustand des BF verschlechtern würde. Das Fehlen einer spezifischen Therapie würde sich konsequenterweise auch auf seine Arbeitsfähigkeit und damit die Sicherung der eigenen Existenz auswirken. Der BF wäre auf sich alleine gestellt und würde in kürzester Zeit in eine existenzbedrohende bzw. wirtschaftlich ausweglose Lage geraten. Mitübermittelt wurde ein am 02.12.2020 erstellter ärztlicher Befund, indem festgestellt wird, dass der BF an mittelschwerer depressiver Episode, Panikstörung und posttraumatischen Störungen leide. Der BF befinde sich in laufender psychiatrischer Betreuung bei dem befundeten Arzt. Er präsentiere sich aufgrund der bevorstehenden Asylverhandlung wieder deutlich schlechter mit vermehrten Angstzuständen, Durchschlafstörungen sowie Flash Backs. Der BF werde nicht in der Lage sein, seine Gedächnisinhalte bezüglich seiner traumatischen Vorgeschichte exakt abzurufen. Ein Abschub würde zu einer kompletten Dekompensation des BF führen, dies zeige auch, dass beide Psychopharmaka nunmehr in der Dosierung gesteigert werden musste. Die Medikation ist Mirtazapin und Pram.

17. Am 13.01.2021 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG. Es wurde vorgelegt:

?        Eine Schulbesuchtsbestätigung – Semesterzeugnis der Schulart HAK für Berufstätige vom 03.07.2020

?        B1 Zertifikat Deutsch

?        Zeugnis über den Pflichtschulabschluss.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung gab der BF an, dass er Mirtazapin und Fram erhalte.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person des BF:

Der volljährige BF führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum ist mit XXXX festgelegt, wobei der BF zum Zeitpunkt der Entscheidung zwischen 24 und 25 Jahre alt ist. Er ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam.

Der BF ist in Afghanistan, Provinz Maidan Wardak, Distrikt XXXX im Dorf XXXX , geboren und hat bis zu seiner Ausreise mit seinen Eltern, und seiner Schwester gelebt. Sein älterer Bruder arbeitete für die Amerikaner und wurde getötet.

In Afghanistan hat der BF sechs Jahre lang die Schule besucht. Er ging danach einer Beschäftigung in einem Lebensmittelgeschäft nach. Der BF kann lesen und schreiben und spricht die Sprachen Paschtu, Dari und Deutsch.

Der BF ist grundsätzlich seinem Alter entsprechend entwickelt und grundsätzlich arbeitsfähig. Der BF leidet unter psychischen Beschwerden, so leidet er unter mittelgradige Depression, längerdauernde depressive Reaktion, ein Zustand nach posttraumatischer Belastungsstörung. So leidet er unter depressiver Anpassungsstörung, welche jedoch nicht von relevanten Krankheitswert ist. So hat er Angst alleine zu schlafen, nimmt Mirtazapin und Pram. Er befindet sich unter fachpsychiatrischer Betreuung und ging im Jahr 2018 in psychotherapeutische Behandlung. Die Anpassungsstörung ist behandelbar. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass der BF an einer beschränkten Wiedergabefähigkeit leide, eine beschränkte Wahrnehmungstätigkeit oder einer beschränkten Erinnerungsfähigkeit. Der BF ist sehr gut integriert und würde bei Rückkehr, vollständig aus dem aktuellen Lebenskontext gerissen werden. Er hat in Österreich psychosoziale Unterstützung. Bei Rückkehr würde es zu einer depressiven Begleitreaktion kommen.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, er hat sich nicht politisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsland.

Der BF hat keinen Kontakt mit seinen Familienangehörigen und erhält auch keine Unterstützung.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

Der BF reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 30.10.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF absolvierte den Pflichtschulabschluss, die Deutschprüfung B1 und die HAK für Berufstätige. Der BF ist mit der Familie XXXX eng verbunden und hat hier eine neue Familie gefunden. Er hat hier österreichische Freunde, ist in der kirchlichen Gemeinschaft Wr. Neustadt sehr gut integriert und lebt gemeinsam mit einer anderen Person in einer Unterkunft. Der BF hat ehrenamtliche Tätigkeiten absolviert und versuchte eine Lehre zu absolvieren oder einen Beruf auszuüben. Der BF spricht außerdem sehr gut Deutsch. Er ging keiner dauerhaften Beschäftigung nach, war jedoch ehrenamtlich tätig und absolvierte ein Kurzpraktikum. Der BF hat keine familiären, jedoch sozialen Anknüpfungspunkte in Österreich. Er hat einen engagierten Gesamteindruck vermittelt und ist in seinem Umfeld hilfsbereit. Der BF lebt von der Grundversorgung.

1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF wurde durch seinen Vater im Rahmen eines Glücksspieles verloren und es bestand die Gefahr, dass er für die Tätigkeit als „Bacha Bazi“ herangezogen wird. Es konnte nicht festgestellt werden, dass aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Rasse, Religion, Nationalität oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter einer Gefährdung ausgesetzt war. Eine Gefährdung aufgrund der Tätigkeit seines Bruders bei den amerikanischen Streitkräften konnte nicht festgestellt werden.

Der BF war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.

1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland:

Es wird festgestellt, dass der BF im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter keiner Gefährdung ausgesetzt ist.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Es wird festgestellt, dass der BF auf Grund der Tatsache, dass er sich etwas über sechs Jahre und drei Monate in Europa aufgehalten hat bzw. dass er als afghanischer Staatsangehöriger, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, deshalb in Afghanistan keiner Verfolgung ausgesetzt wird.

Bezüglich der Rückkehr nach Afghanistan in die Provinz Maidan Wardak wird festgestellt, dass die Provinz volatil ist. Wardak ist einer der stärksten umkämpften Gebiete Afghanistans und wird zum größten Teil von den Taliban kontrolliert. Die Sicherheitslage hat sich seit 2019 verschlechtert und der Einfluss der Taliban hat sich seit Februar 2020 verstärkt. Dem BF ist es daher mit der dementsprechenden Wahrscheinlichkeit nicht möglich, sich ohne Gefahr einen ernstlichen Schaden zu erleiden, dort anzusiedeln.

Dem BF steht grundsätzlich als innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in die Städte Mazar-e-Sharif oder Herat zur Verfügung, obwohl in diesen beiden Städten eine angespannte Situation vorherrscht. Der BF kennt sich mit der sozialen und kulturellen Umgebung in Afghanistan aus. Er ist in Afghanistan aufgewachsen und hat dort die Schule besucht und gearbeitet. Die Städte Mazar-e-Sharif und Herat sind von Österreich aus sicher über Kabul mit dem Flugzeug zu erreichen. Die Rückführung nach Afghanistan wird von Österreich organisiert. Die Städte können vom Flughafen sicher erreicht werden.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Coronapandemie in Afghanistan, mit Stand 13.01.2021 (Verhandlungstag) und zum Zeitpunkt der Entscheidung in Zusammenschau mit seinen persönlichen Umständen derzeit ein Rückkehrhindernis darstellt. Zum Zeitpunkt der Verhandlung bzw. der Entscheidung liegt die Infektion bei mehr als 54.000 Personen und 2.300 Todesfällen, die Sterberate liegt im Altersbereich des BF bei unter 1%. Der BF ist körperlich gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen einschlägiger physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Die Lockdown-Maßnahmen in Afghanistan sind nur mehr eingeschränkt und situationsabhängig vom Infektionsgeschehen. So sind die Geschäfte teilweise geöffnet, das wirtschaftliche Leben beginnt wieder, obwohl die Situation wie zur Dürrezeit ist und Arbeitsmöglichkeiten, jedoch sehr eingeschränkt, insbesondere für Tagelöhner, sind.

Im Zusammenschau mit der psychischen Beeinträchtigung, der Notwendigkeit einer Medikation und der Fortführung von psychosozialer Betreuung und keiner weiteren Unterstützung ist es ihm jedoch nicht möglich ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können, bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF würde bei seiner Rückkehr in eine dieser Städte ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Der BF hat zwar die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen und kann damit vorrübergehend verschiedene Hilfsprogramme in Anspruch nehmen, die ihn bei der Ansiedelung helfen. Eine weitere Unterstützung wird er nicht erhalten und auch von seinen Familienangehörigen oder Volksgruppen oder Religionsgruppenangehörigen ist keine Unterstützung zu erwarten.

Es ist dem BF daher aufgrund der wirtschaftlichen Situation im Zusammenhang mit der Coronapandemie und seinen psychischen Einschränkungen und der notwendigen Medikation derzeit nicht möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten in der Stadt Mazar-e Sharif oder Herat Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4. Zum Herkunftsstaat:

Das BVwG trifft folgende Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat unter Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019 und Teilaktualisierung am 16.12.2020:

„Länderspezifische Anmerkungen

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (12.2020) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.

Letzte Änderung: 14.12.2020

Covid-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: // www.who.int/ emergencies/ diseases/nov el-coronav irus-2019/ situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https:// gisanddata.maps.arcgis.com/apps/ opsdashboard/index.html#/ bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (AfghanMoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban:

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt.

Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien,Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten.

Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen

(30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet

die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

4 Politische Lage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelte Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60????000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).

5 Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020). Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020).

Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu(SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020)

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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