Entscheidungsdatum
08.03.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
L504 2232536-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , XXXX geb., StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.05.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 57, 10 AsylG 2005, §§ 52 Abs 2 Z 2 u. Abs 9, 46, 55 Abs 1 u. 3 FPG idgF, als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrenshergang
Die beschwerdeführende Partei [bP] stellte am 26.02.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Es handelt sich dabei um einen Mann, welcher seinen Angaben nach Staatsangehöriger der Türkei mit muslimischen Glaubensbekenntnis ist, der Volksgruppe der Kurden angehört und aus Gaziantep stammt.
Bei der niederschriftlichen Erstbefragung vor der PI am 26.02.2018 gab die bP vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes zum Fluchtgrund Folgendes an: „Mein Onkel XXXX ist ein PKK-Anhänger, deswegen haben sie mich in der Schule gemobbt, weil ich ein Kurde bin. Weiters hätte ich meinen Militärdienst in der Türkei ableisten müssen und das wollte ich auf keinen Fall.“
Die Eltern hätten ihr sehr Druck gemacht, dass sie ins Ausland reist. Der Vater habe die Reise organisiert. Ca. im Jänner 2018 habe sie den Entschluss zur Ausreise gefasst. Ziel sei Österreich gewesen, da hier Onkel und Tanten leben.
Im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat befürchte sie, dass sie den Militärdienst ableisten und kämpfen muss. Vor der Ausreise sei sie andauernd ohne Gründe in Untersuchungshaft gewesen, sie glaube sie wäre im Falle der Rückkehr in Lebensgefahr. Hausdurchsuchungen habe es auch gegeben und sei politisch alles sehr chaotisch in der Türkei.
Die Frage, ob es konkrete Hinweise gebe, dass ihr bei der Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohen würde und ob sie bei einer Rückkehr mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen hätte, verneinte sie.
Am 04.02.2019 wurde das Verfahren eingestellt, da die bP unter Verletzung ihrer Mitwirkungsverpflichtung unbekannt verzogen war und im Melderegister seit 11. Mai 2018 nicht aufschien. Am 20.03.2019 wurde die bP wieder an einer Meldeadresse angemeldet.
Bei der niederschriftlichen Einvernahme am 02.03.2020 gab die bP vor einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (auszugsweise dargestellt) Folgendes an:
„(…)
F: Haben Sie irgendwelche Dokumente oder sonstige Beweismittel die Sie im bisherigen Verfahren noch nicht vorgelegt haben?
A: Nein.
F: Entsprechen Ihre bisherigen Angaben im Zuge der früheren Einvernahme/n im Asylverfahren der Wahrheit?
A: Ja.
F: Sind Sie in Behandlung wegen einer Erkrankung, nehmen Sie Medikamente, machen Sie eine Therapie?
A: Nein. Ich bin gesund.
F: Welcher Religion gehören Sie an?
A: Islam
F: Welcher Volksgruppe gehören Sie an?
A: Kurde
F: Haben Sie in Österreich familiäre Beziehungen oder sonstige verwandtschaftliche Bindungen?
A: 1 Tante mütterlicherseits wohnt in XXXX , sie hat 6 Kinder. Drei Onkel mütterlicherseits, zwei leben in Kärnten, einer in XXXX , sie haben insgesamt 12 Kinder. Einige meiner Cousins sind bereits verheiratet und haben selbst schon Kinder. Ein Onkel väterlicherseits wohnt auch in XXXX .
F: Haben Sie noch weitere Familienangehörige in Österreich?
A: Nein.
F: Bei der Erstbefragung am 26.02.2018 haben Sie angegeben auch einen Bruder in Österreich zu haben. Möchten Sie sich dazu äußern?
A: Ja, das stimmt. Er ist aber derzeit nicht in Österreich. Er ist nach Frankreich gegangen, weil sein Asylverfahren in Österreich negativ ausging.
F: Wie heißt Ihr Bruder?
A: XXXX , er ist im Jahr XXXX geboren.
(Anm.: IFA 1112626403/160585661)
F: Sie sind nun schon länger in Österreich aufhältig. Was haben Sie in diesem Zeitraum gemacht? Wie gestaltet sich Ihr Tagesablauf?
A: Ich versuche Kontakte zu Menschen in Österreich zu knüpfen. Manchmal gehe ich spazieren. Manchmal gehe ich Laufen.
F: Sprechen Sie Deutsch?
A: Nicht viel.
Anm.: Auf Befragen in Deutsch kann d. AW Deutsch nicht verstehen und nicht auf Deutsch antworten.
F: Haben Sie einen Beruf erlernt bzw. eine Ausbildung gemacht?
A: Ich habe die Matura gemacht. Ich habe die Berufsschule Richtung Maschinenbau besucht.
F: Sind Sie verheiratet?
A: Nein.
F: Haben Sie Kinder?
A: Nein.
F: Haben Sie in Österreich andere nahe Verwandte oder Verwandte, von denen Sie finanziell abhängig sind?
A: Ja, meine Onkel mütterlicherseits sorgen für mich.
F: Haben Sie Arbeit in Österreich? Wenn ja, welche und seit wann?
A: Nein.
F: Besuchen Sie in Österreich sonstige Kurse, eine Schule oder eine Universität oder sind Sie Mitglied in einem Verein?
A: Nein. Ich bin nicht Mitglied in einem Verein.
F: Haben Sie einen Freundeskreis in Österreich?
A: Ja. Es gibt Freunde mit denen ich manchmal zusammen bin.
F: Können Sie mir die Namen und Adressen Ihrer Freunde nennen?
A: Nein.
F: Sind Sie legal oder illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist?
A: Illegal.
F: Hatten Sie jemals ein nicht auf das Asylverfahren gegründetes Aufenthaltsrecht in Österreich, zB ein Visum oder einen Aufenthaltstitel?
A: Nein.
F: Haben Sie in Österreich strafbare Handlungen gesetzt und/oder wurden Sie auf Grund des Verdachtes einer strafbaren Handlung zur Anzeige gebracht?
A: Nein.
F: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt?
A: Nein.
F: Haben Sie eine andere besondere Bindung an Österreich, die Sie anführen möchten?
A: Ich bin ständig in Kontakt mit meinen Onkeln mütterlicherseits in Österreich. Ein Cousin von mir möchte in Österreich Architekt werden. Er nimmt mich immer mit, wenn er sich mit seinen Freunden trifft.
F: Wie viel hat die Reise gekostet?
A: Ich weiß es nicht. Mein Vater hat alles bezahlt.
F: Woher hat Ihr Vater so viel Geld?
A: Mein Vater arbeitet in einer Fabrik.
F: Welche Verwandten haben Sie noch im Heimatland Türkei? Damit sind auch Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins usw. gemeint.
A: Meine Eltern, meine zwei Großmütter, mein Großvater, drei Brüder und eine Schwester, sowie auch Tanten und Onkeln. Ich habe eine sehr große Familie.
F: Wo lebt die Familie?
A: In Gaziantep, in der Türkei.
F: Wie waren Ihre allgemeinen Lebensbedingungen in der Türkei?
A: Ich habe die Schule besucht. Mein Vater hat für mich gesorgt. Im letzten Jahr in der Türkei habe ich Maschinen betreffend eine Fortbildung gemacht.
F: Wann haben Sie die Türkei verlassen?
A: Im 22.02.2018.
F: Wohin sind Sie gereist?
A: Ich war in einem Reisebus versteckt. Es gab Wechsel von Fahrzeugen. Die Reise dauerte 4 Tage, dann wurde ich in Österreich auf der Autobahn abgesetzt.
F: War Österreich Ihr Reiseziel?
A: Ja, ich habe mich für Österreich entschieden, weil die Hälfte meiner Familie in Österreich lebt. Ich habe gehört wie freundlich die Menschen in Österreich mit Fremden umgehen.
F: Laut Zentralem Melderegister waren Sie von 11.05.2018 bis 20.03.2019 nicht im Bundesgebiet gemeldet. Wo haben Sie sich in dieser Zeit aufgehalten?
A: Ich war immer in XXXX .
F: Warum haben Sie die Türkei verlassen?
A: Ich war gezwungen die Türkei zu verlassen.
F: Sie erzählen sehr allgemein. Möchten Sie sich dazu näher äußern?
A: Ich bin Kurde. Nachdem AKP und die andere Partei koaliert haben, ist die Lage für die Kurden in der Türkei schlimmer geworden. MHP und AKP sind dafür bekannt, dass sie nationalistisch veranlagt sind. Die Lage für Kurden wurde schlimmer. Es gab für mich auch ein Problem mit dem Militärdienst. Man hat mir bevor ich das Land verlassen habe, immer wieder gesagt, dass ich bald meinen Militärdienst antreten werden muss. Aber ich will in der Türkei meinen Militärdienst nicht antreten. Denn die Kurden werden, wenn sie den Militärdienst antreten, immer in die Kriegsgebiete geschickt. Entweder nach Syrien oder in den Irak. Man will, dass wir Kurden gegen die dort befindlichen Kurden kämpfen. Die türkische Regierung verbreitet die Message: „Ein toter Kurde, ist ein guter Kurde.“. Die Türkei hat sich in den Kopf gesetzt Kurden durch Kurden beseitigen zu lassen.
Ich war sehr an der kurdischen Partei HDP interessiert. Zum Beispiel am Führjahrsfest Nevroz. Wir sind hingegangen. Dort gab es live Musik. Es gab Folklore-Musik. Wir haben mitgemacht. Jedesmal kam die Polizei und wir wurden mitgenommen zur Polizeistation. Nachdem sie uns geredet hatten, traten sie mir in den Hintern uns sagten, dass wir jetzt gehen könnten.
Ich wurde auch von der zivilen türkischen Gemeinschaft ausgegrenzt. Ein Onkel von mir war in den Bergen. Er hat dort gekämpft. Deshalb wurde ich in der Türkei verfolgt.
Wenn man in der Türkei beim Militär ist, muss man andere erschießen, oder man wird selbst erschossen. Das wollte ich nicht.
V: Gibt es in der Türkei eine allgemeine Wehrpflicht?
A: Ja.
V: Also betrifft diese allgemeine Wehrpflicht alle Türken?
A: Ja, ich will aber nicht im türkischen Militär dienen.
F: Warum sind Sie nicht innerhalb von der Türkei verzogen?
A: Für Kurden gibt es überall gleiche Gesetze. Es ist ja nicht nur in unserer Stadt. Überall in der Türkei werden die Kurden so behandelt.
F: Es gibt sehr viele Kurden in der Türkei. Möchten Sie sich dazu äußern?
A: Das weiß ich. Die sind alle in der gleichen Lage wie ich. Es habe ja nicht nur ich solche Erfahrungen gemacht.
F: Ihre Familie lebt noch immer in der Türkei. Möchten Sie sich dazu äußern?
A: Ja, sie leben dort. Aber mein Bruder und ich hatten viel mehr Druck in der Türkei gespürt. Meine anderen Brüder sind jünger als ich, sie hatte noch nicht solche Probleme. Sie werden irgendwann einmal mit den gleichen Problemen konfrontiert sein.
F: Was würde Ihrer Ansicht nach passieren, wenn Sie angenommener Weise morgen in Ankara oder in Istanbul aus dem Flugzeug aussteigen würden?
A: Ich vermute, dass ich in Istanbul von der Polizei sofort verhaftet und ins Gefängnis gebracht werden würde.
V: Nach Ansicht der erkennenden Behörde sind Sie mit dem Wunsch nach Migration nach Österreich gekommen um hier ein wirtschaftlich besseres Leben zu führen. Möchten Sie sich dazu äußern?
A: Ich bin ein Mensch der hier um Asyl angesucht hat, weil in der Türkei meine Lebenssicherheit nicht gegeben ist. Ich bin nicht gekommen um hier vergnügt zu leben.
F: Möchten Sie, dass man die Länderfeststellungen zu der Türkei mit Ihnen erörtert?
A: Nein.
F: Möchten Sie noch irgendetwas anführen?
A: Nein, das ist alles.
Anmerkung: Die gesamte Niederschrift wird wortwörtlich rückübersetzt.
Nach vollständiger Übersetzung durch den Dolmetscher um 10.25 Uhr.
F: Möchten Sie etwas korrigieren oder ergänzen?
A: Nein.
F: Wurde alles richtig aufgenommen?
A: Ja.
F: Haben Sie den Dolmetscher gut verstanden?
A: Ja
F: Haben Sie nun nach Rückübersetzung Einwendungen gegen die Niederschrift selbst?
A: Nein“
Mit Verfahrensanordnung vom heutigen Tag wurde Ihnen ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
(…)“
Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom Bundesamt gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt.
Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt.
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die bP gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei.
Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
Der Bescheid konnte im Mai 2020 nicht an der von der bP genannten Adresse zugestellt werden und ergaben polizeiliche Erhebungen, dass die bP dort seit 10.01.2020 nicht mehr aufhältig ist. Die bP hat am 17.06.2020 den Bescheid persönlich übernommen.
Das Bundesamt gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung des Status eines asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht glaubhaft gemacht worden sei. Ebenso ergebe sich aus der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende bzw. reale Gefährdung der bP. Relevante Abschiebungshindernisse würden demnach nicht vorliegen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen seien nicht gegeben. Ein die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung übersteigendes Privat- und Familienleben würde nicht gegeben sein und werde daher eine Rückkehrentscheidung mit der angegebenen Frist für die freiwillige Ausreise verfügt.
Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist durch die gewillkürte Vertretung Beschwerde erhoben und angemerkt, dass die bP ihre Verfolgung glaubhaft dargelegt habe. Sie werde als Kurde, Wehrdienstverweigerer und Sympathisant der HDP verfolgt bzw. im Falle der Rückkehr gesucht und verhaftet.
Kurden würden in der Türkei verfolgt werden und gehe im vorliegenden Fall die Gefahr von staatlicher Seite aus. Die Gefahr ergäbe sich aus den glaubhaft vorgebrachten Ereignissen und wäre auch eine Verfolgung von vermeintlichen Regierungskritikern als Folge des gescheiterten Putsches gegeben. Die bP sei ins Visier der türkischen Behörden geraten, da sie Kurde sei und an den Newroz-Feiern teilgenommen habe. Es wurden Ausführungen (unter Zitierung von Berichten) zur HDP getroffen, welche im Visier türkischer Behörden stünde und würde dies maßgeblich zur von der bP angesprochenen schlechten Sicherheitslage beitragen. Insbesondere würde auch durch die Haftbedingungen eine Bedrohung iSd der Art 2 und 3 EMRK bestehen. Wenngleich das Vorbringen noch keine direkte Verbindung zur Festnahme und Befragung der bP herzustellen vermag, so sei der bP im Sinne einer Prognoseentscheidung Schutz zu gewähren.
Darüber hinaus habe die bP aus Angst, in gefährlichen Regionen eingesetzt zu werden, ihren Wehrdienst nicht abgeleistet. Sie wolle auch nicht gegen Kurden kämpfen. Die Staatendokumentation spreche zwar nicht von einer systematischen Diskriminierung von Minderheiten im Militär, es würde jedoch Einzelfälle geben und wurde aus Berichten zitiert. Auch sei die Sicherheitslage insbesondere in Anbetracht der exzessiven Anwendung des Anti Terror Gesetzes gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner derart gestaltet, dass der bP im Falle der Rückkehr eine relevante Verfolgung drohe.
Beachtlich sei auch, dass die bP privat verzogen ist und freiwillig auf die Unterstützungsleistungen des österreichischen Staates verzichtet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde Beweis erhoben.
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1. Identität und Herkunftsstaat:
Name und Geburtsdatum (wie im Einleitungssatz des Spruches angeführt) stehen lt. Bundesamt fest. Da dem BVwG selbst keine nationalen, mit Lichtbild versehenen Identitätsdokumente im Original vorlagen, kann mangels Überprüfbarkeit, seitens des BVwG dazu keine eigene Feststellung getroffen werden.
Die bP ist der Volksgruppe der Kurden und dem muslimischen Glauben zugehörig.
Ihre Staatsangehörigkeit und der hier der Prüfung zugrundeliegende Herkunftsstaat ist die Türkei.
1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnisse vor der Ausreise:
Die bP stammt aus Gaziantep und absolvierte dort ihre Schulbildung.
Sie wohnte vor ihrer Ausreise in Gaziantep, besuchte bis 2017 das Gymnasium, schloss dieses mit Matura ab und spezialisierte sich in Richtung Maschinenbau.
Ihren Lebensunterhalt bestritt sie zuletzt durch finanzielle Unterstützung ihres Vaters, der für sie gesorgt hat.
1.3. Aktuelles familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat:
Die bP ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. In Gaziantep leben noch die Eltern der bP, zwei Großmütter, ein Großvater, drei Brüder, eine Schwester und mehrere Tanten und Onkeln.
Die Reise finanzierte sich die bP mit Geld ihres Vaters.
Die bP hat weder beim Bundesamt noch in der Beschwerde oder in der Einvernahme angegeben, dass bei der Rückkehr in den Herkunftsstaat kein für sie zugängliches familiäres Netzwerk mehr bestünde.
1.4. Ausreisemodalitäten:
Sie reiste am 22.02.2018 von Gaziantep nach Istanbul, wo sie sich zwei Tage lang in einem Hotel aufhielt. Von dort reiste sie schlepperunterstützt und unter mehrfachen Wechseln der Fahrzeuge aus und reiste am 26.02.2018 in Bundesgebiet ein, wo sie von ihrem Onkel auf einer Raststation abgeholt worden ist.
Sie durchreiste auf ihrem Weg nach Österreich mehrere als sicher geltende Staaten. In diesen suchte sie nicht um Schutz an. Es wurde nicht dargelegt, dass ihr dort die Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz nicht auch möglich gewesen wäre oder, dass Flüchtlinge dort keinen Schutz erlangen könnten.
1.5. Aktueller Gesundheitszustand:
Die bP hat im Verfahren keine aktuell behandlungsbedürftige Erkrankung dargelegt. Sie gehört keiner Covid Risikogruppe an.
1.6. Privatleben / Familienleben in Österreich:
Art, Dauer, Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthaltes
Die bP begab sich ohne Vorhandensein eines gültigen Einreise- bzw. Aufenthaltstitels am 26.02.2018 in das Bundesgebiet. Der Bruder der bP ist nach negativem Asylverfahren in Österreich gemäß Angaben der bP nach Frankreich weitergereist. Die bP hat in Österreich während des behördlichen Verfahrens ihre Meldepflicht verletzt und war zw. 11. Mai 2018 und 20.03.2019 unbekannten Aufenthalts . Mit der am selben Tag erfolgten Stellung des Antrages auf internationalen Schutz erlangte die bP eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung gem. AsylG, die nach Antragsabweisung durch die Beschwerdeerhebung verlängert wurde.
Da ihr in diesem Verfahren weder der Status eines Asylberechtigten noch jener eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen war, erweist sich die Einreise als rechtswidrig und stellt grds. gem. § 120 Abs 1 iVm Abs 7 FPG eine Verwaltungsübertretung dar.
Familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich
In Österreich wohnen eine Tante mütterlicherseits mit ihren sechs Kindern in XXXX , drei Onkel mütterlicherseits, zwei in Kärnten und einer in XXXX , mit ihren zwölf Kindern. Einige der Cousin der bP sind bereits verheiratet und haben Kindern. Auch ein Onkel väterlicherseits wohnt in XXXX . Die bP wird von ihren Verwandten in Österreich finanziell unterstützt.
Grad der Integration
Die bP hat keine relevanten Deutschkenntnisse dargelegt. Der Besuch von Deutschkursen oder die Ablegung von Prüfungen wurde nicht behauptet bzw. nachgewiesen. Sie hat sich auch nicht ehrenamtlich engagiert.
Teilweise oder gänzliche wirtschaftliche Selbsterhaltung während des Verfahrens bzw. Teilnahme an möglicher und erlaubter Erwerbstätigkeit für Asylwerber (https://www.ams.at/unternehmen/service-zur-personalsuche/beschaeftigung-auslaendischer-arbeitskraefte/beschaeftigung-von-asylwerberinnen-und-asylwerbern#wieknnenasylwerberinnenundasylwerberbeschftigtwerden) oder Abhängigkeit von staatlichen Leistungen
Die bP ist nicht legal erwerbstätig und war bis 29.01.2019 in staatlicher Grundversorgung. Seit dem sorgen die Onkel mütterlicherseits für ihn ohne dass aber ein Rechtsanspruch auf diese finanzielle Unterstützung dargelegt wurde.
Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Familienleben; die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren
Die bP hat diese Anknüpfungspunkte in Österreich während einer Zeit erlangt, in der der Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet stets prekär war.
Bindungen zum Herkunftsstaat
Die beschwerdeführende Partei ist im Herkunftsstaat geboren, absolvierte dort ihre Schulzeit, kann sich im Herkunftsstaat – im Gegensatz zu Österreich – problemlos verständigen und hat ihr überwiegendes Leben in diesem Staat verbracht. Sie lebte seit Geburt im Jahr 1999 bis 2018 in der Türkei. Sie kennt die dortigen Regeln des Zusammenlebens. Es leben dort auch noch Familienangehörige / Verwandte.
Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführende Partei als von ihrem Herkunftsstaat entwurzelt zu betrachten wäre.
Strafrechtliche/verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen
In der Datenbank des österreichischen Strafregisters scheinen keine Vormerkungen wegen rk. gerichtlicher Verurteilungen auf.
Das Vorliegen von rk. Verwaltungsstrafen wurde dem BVwG nicht mitgeteilt und ergibt sich auch nicht aus dem Akteninhalt.
Sonstige Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts
Da der bP weder der Status einer Asylberechtigten noch der einer subsidiär schutzberechtigten Person zukommt, stellt die rechtswidrige Einreise (bei strafmündigen Personen) gegenständlich auch grds. eine Verwaltungsübertretung dar (vgl. § 120 Abs 1 iVm Abs 7 FPG).
Sie verletzte die Meldepflicht im Rahmen des Meldegesetzes.
Durch den unbekannten Aufenthalt während des behördlichen Verfahrens verletzte sie auch ihre gesetzliche Mitwirkungsverpflichtung iSd § 15 AsylG.
Verfahrensdauer
Gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz wurde am 26.02.2018 gestellt und erging der Bescheid vom Bundesamt am 28.05.2020. Das behördliche Verfahren wurde durch die Verletzung der Mitwirkungsverpflichtung der bP (unbekannter Aufenthalt) erheblich verlängert. Nach eingebrachter Beschwerde erging mit heutigem Erkenntnis die Entscheidung im Beschwerdeverfahren.
1.7. Zu den behaupteten ausreisekausalen Geschehnissen / Erlebnissen im Zusammenhang mit staatlichen / nichtstaatlichen Akteuren bzw. den von der bP vorgebrachten Problemen, die sie persönlich im Entscheidungszeitpunkt im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat erwartet:
a) Betreffend ihrer aktuellen persönlichen Sicherheit / Verfolgung im Herkunftsstaat:
Die bP ist keinen aktuellen, glaubhaften und entscheidungsrelevanten Bedrohungen seitens des türkischen Staates oder nichtstaatlicher Akteure ausgesetzt gewesen.
Die bP ist in der Türkei nicht der Gefahr einer individuellen, konkret gegen sie gerichteten Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt.
Die bP hat keine asylrelevante Verfolgung angegeben.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat, konkret ihre Herkunftsregion Gaziantep, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr oder einer entscheidungsrelevanten realen Gefahr von Leib und/oder Leben ausgesetzt wäre.
Aus der derzeitigen Lage ergibt sich im Herkunftsstaat, insbesondere in der Herkunftsregion der bP, unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse, keine Situation, wonach im Falle der Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bestünde.
b) Betreffend der aktuellen, persönlichen Versorgungssituation mit Lebensnotwendigem (insb. Lebensmittel, Unterkunft) im Herkunftsstaat:
Die bP war im Hinblick auf Unterkunft und Versorgung mit Lebensmitteln auch vor der Ausreise schon in der Lage im Herkunftsstaat ihre Existenz zu sichern. Sie ist erwerbsfähig und verfügt in der Türkei auch noch über Familienangehörige. Es kam nicht konkret hervor, weshalb dies nicht auch bei einer Rückkehr wieder möglich sein könnte. Sie hat hinsichtlich ihrer persönlichen Versorgungssituation im Falle der Rückkehr weder vor dem Bundesamt noch in der Beschwerde eine konkrete Problemlage vorgebracht.
1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat
Zur Lage im Herkunftsstaat Türkei zieht die Behörde die im verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 15.09.2020 enthaltenen Feststellungen zu der Türkei auf Basis des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation mit letztmaliger Ergänzung vom 08.04.2020 heran. Die bP äußerte sich im Verfahren beim Bundesamt dazu im Rahmen des Parteiengehörs lediglich dahingehend, dass sie nicht möchte, dass mit ihr die Länderfeststellungen erörtert werden.
Das BVwG schließt sich den nachfolgenden Feststellungen des Bundesamtes an:
1. Politische Lage
Letzte Änderung am 29.11.2019
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 14.6.2019). Diese Entwicklung wurde mit der Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Juni 2018 abgeschlossen, u.a. wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft (bpb 9.7.2018).
Die Venedig Kommission des Europarates zeigte sich in einer Stellungnahme zu den Verfassungsänderungen besorgt, da mehrere Kompetenzverschiebungen zugunsten des Präsidentenamtes die Gewaltenteilung gefährden, und die Verfassungsänderungen die Kontrolle der Exekutive über Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft in problematischerweise verstärken würden. Ohne Gewaltenkontrolle würde sich das Präsidialsystem zu einem autoritären System entwickeln (CoE-VC 13.7.2017).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden Stimmen stärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die unter Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und es der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).
Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustands sind viele seiner Verordnungen in die ordentliche Gesetzgebung aufgenommen worden. Das neue Präsidialsystem hat etliche der bisher bestehenden Elemente der Gewaltenteilung aufgehoben und die Rolle des Parlaments geschwächt. Dies hat zu einer stärkeren Politisierung der öffentlichen Verwaltung und der Justiz geführt. Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen; gegen Gesetze Veto einzulegen, und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z.B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind inzwischen dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019).
Zunehmende politische Polarisierung, insbesondere im Vorfeld der Gemeinderatswahlen vom März 2019, verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft. Laut europäischer Kommission muss die parlamentarische Immunität gestärkt werden, um die Meinungsfreiheit der Abgeordneten zu gewährleisten (EC 29.5.2019).
Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018).
Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands in Gewahrsam genommen und mehr als 78.000 wegen Terrorismusbezug verhaftet, von denen 50.000 noch im Gefängnis sitzen (EC 29.5.2019). Die rund 50.000 wegen Terrorbezug Inhaftierten machen 17% aller Gefängnisinsassen aus (AM 4.12.2018).
[siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
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2. Sicherheitslage
Letzte Änderung am 29.11.2019
Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie – in sehr viel geringerem Ausmaß – auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019).
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und A?r? (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen A?r?, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbak?r, Gaziantep, Hakkâri, Kilis, Mardin, ?anl?urfa, Siirt, ??rnak, Tunceli und Van, wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019).
Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).
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2.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Letzte Änderung am 8.4.2020
Fethullah Gülen, ist ein muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung bezeichnet (bpb 1.9.2014). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen von Anhängern geben, oft in einflussreichen Positionen. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Zahlreiche Gülen-Schulen wurden, teilweise auf Druck hin, auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern geschlossen, anderen Eigentümern oder der türkischen staatlichen Stiftung Maarif, die eigens hierfür gegründet wurde, übertragen (SCF 5.2.2019; vgl. DS 31.7.2018). Mit Februar 2019 waren laut Direktor von Maarif rund 70% aller Gülen-Schulen in 21 Ländern, ausgenommen in westlichen Staaten, der Kontrolle der Gülen-Bewegung entzogen. Hiervon wurden inzwischen 191 ehemalige Gülen-Schulen der türkischen Maarif-Stiftung übergeben (SCF 5.2.2019).
Erdo?an stand Gülen jahrzehntelang nahe. Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den sekulären, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die AKP bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 21.7.2016). Erdo?an nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Das Bündnis zwischen Erdo?an und Gülen begann sich aufzuweichen, als die Gülenisten in Polizei und Justiz zu unabhängig wurden. Das Klima verschärfte sich, als Gülen selbst Erdo?an für seinen Umgang mit den Protesten im Gezi-Park im Jahr 2013 kritisierte. Erdo?an beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren und zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 21.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdo?an, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Im Juni 2017 definierte das Oberste Appelationsgericht die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018).
Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als „Fetullahç? Terör Örgütü – (FETÖ)“, „Fetullahistische Terror Organisation“, tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Parallel Devlet Yap?lanmas? (PDY)", die „Parallele Staatsstruktur“ bedeutet (UK Home Office 2.2018). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).
Laut Angaben des Vize-Vorsitzenden der Regierungspartei MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) vom Dezember 2019 wurde seit dem Putschversuch vom Juli 2016 insgesamt gegen 562.581 Personen wegen tatsächlicher und angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung ermittelt. Von diesen wurden 263.553 festgenommen und 91.610 inhaftiert (TP 17.12.2019). Nach einer Mitteilung des Innenministeriums an den türkischsprachigen Dienst der BBC waren mit Stand Mitte Februar 2020 noch 26.862 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert, fast 5.000 von ihnen waren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, während sich die Übrigen in Untersuchungshaft befanden. Inzwischen führen die Staatsanwälte 69.701 Untersuchungen durch, bei denen 135.708 Verdächtige der Mitgliedschaft in der Bewegung beschuldigt werden. Darüber hinaus sind 42.717 Verfahren anhängig, in denen 60.167 Angeklagte, die der Verbindungen zu Gülen beschuldigt werden, angeklagt sind (TM 21.2.2020).
Laut Staatspräsident Erdo?an sind die staatlichen Institutionen noch nicht vollständig von Mitgliedern der „FETÖ“ befreit (Ahval 10.4.2019). Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung dauert an (AA 14.6.2019). Mitte Jänner 2020 erließen die Behörden Haftbefehle gegen 237 Personen. Im Zuge von Polizeioperationen in 49 Provinzen wurden mindestens 203 Verdächtige festgenommen (DS 14.1.2020). Anfang März 2020 wurden Haftbefehle gegen 115 Verdächtige in mehreren Städten erlassen. Betroffen waren Lehrer, Geschäftsleute, Anwälte sowie ehemalige Polizisten (TM 4.3.2020).
Mit Stand 1.1.2020 waren insgesamt 3.879 Angeklagte wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Putschversuch verurteilt, darunter 2.335 zu lebenslanger Haft und 1.544 zu Haftstrafen zwischen einem Jahr und zwei Monaten bis zu 20 Jahren. 18 von 289 Fällen im Zusammenhang mit einem Putschversuch im Jahr 2016 in der Türkei warten noch auf die Urteile der Gerichte (Ahval 2.1.2020). Anfang Jänner 2020 verurteilte ein Gericht in Istanbul 70 ehemalige Kadetten der Luftstreitkräfte zu lebenslanger Haft (Ahval 3.1.2020).
Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind hierbei recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind, sondern auch dann, wenn diese z. B. lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind. In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher „Gülenist“ einzuleiten: Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App ByLock; Geldeinlage bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordneten Wohltätigkeitsorganisationen; Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive abhängige Beschäftigung (AA 14.6.2019). Allerdings entschied der Oberste Berufungsgerichtshof im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten noch seine Einschreibung eines Kindes in einer Gülen-Schule als Beweis dienen kann, dass die Person in terroristische Aktivitäten verwickelt oder Mitglied einer terroristischen Vereinigung war (SCF 6.8.2019).
ByLock
Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 urteilte dasselbe Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, unter dem Vorwurf, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018). Im September 2019 wurden bei Operationen in sechs Städten über 40 Verdächtige als ehemalige ByLock-Nutzer verhaftet (DS 11.9.2019). Anfang Oktober 2019 ordnete die Staatsanwaltschaft der Provinz Izmir die Festnahme von 51 Verdächtigen an, von denen 33 beschuldigt wurden, ByLock verwendet zu haben (Anadolu 8.10.2019). Laut Innenministerium wurden bislang mehr als 95.000 Nutzer identifiziert und zudem 4.676 neue ByLock Nutzer entdeckt (DS 11.9.2019).
Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zur willkürlichen Inhaftierung gab im Oktober 2019 eine Stellungnahme ab, wonach die Nutzung von ByLock unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt. Solange die türkischen Behörden nicht offen erklären würden, wie die Verwendung von ByLock einer kriminellen Aktivität gleichkommt, wären Verhaftungen aufgrund der Benutzung von ByLock willkürlich (TM 15.10.2019; vgl. UN-HRC 18.9.2019). Die Arbeitsgruppe bedauerte zudem, dass ihre Ansichten in vormaligen Stellungnahmen zu Fällen, die nach dem gleichen Muster abgelaufen waren, seitens der türkischen Behörden keine Berücksichtigung gefunden hatten (UN-HRC 18.9.2019).
Asya Bank
Das Oberste Berufungsgericht entschied 2018, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018; vgl. TP 16.2.2019). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018). Im September 2019 ordneten Staatsanwälte die Festnahme von 35 Personen an, die beschuldigt werden, die Messenger-App Bylock verwendet und Geld in der Asya Kat?l?m Bank deponiert zu haben. 14 Personen wurden in Ankara und sieben weiteren Städten festgenommen (DS 18.9.2019). [zu Verurteilungen siehe: 4.Rechtsschutz/Justizwesen].
Entführungen aus dem Ausland
Über 100 mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wurden laut türkischem Außenminister vom Geheimdienst (M?T) im Ausland entführt und im Rahmen der globalen Fahndung der Regierung in die Türkei zurückgebracht (SCF 16.7.2018). Demnach seien Menschen aus Malaysia, Pakistan, Kasachstan, dem Kosovo, Moldawien, Aserbaidschan, Ukraine, Gabun und Myanmar von der türkischen Regierung entführt worden. Ein weiterer Versuch in der Mongolei sei von der mongolischen Polizei im Juli 2018 verhindert worden (Welt 15.9.2019).
Als Teil einer weltweiten Razzia gegen Gülen-Anhänger hat die Türkei die Auslieferung von 750 Personen aus 101 Ländern beantragt, allerdings lehnten einige Länder bereits die Auslieferung von 74 betroffenen Personen ab. Außerdem beantragte das türkische Innenministerium bei Interpol die Ausstellung eines sog. „Red Notice“ für 555 Verdächtige (TM 21.2.2020).
Quellen: (…)
2.2. Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Letzte Änderung am 29.11.2019
Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei, PKK, die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 haben PKK-Attentate und Operationen mehr als 40.000 militärische und zivile Opfer gefordert. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2019).
Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 6.2019)
2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch HDP-Politiker zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der AKP im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2019). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2019).
Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den südostanatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich im Berichtszeitraum (2018) fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH-D 6.2019).
Quellen: (…)
2.3.
2.4. Terroristische Gruppierungen: TAK - Teyrêbazên Azadiya Kurdistan – (Freiheitsfalken Kurdistans)
(…)
2.4. Terroristische Gruppierungen: MLKP – Marksist Leninist Komünist Parti (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei)
(…)
2.5. Terroristische Gruppierungen: DHKP-C - Devrimci Halk Kurtulu? Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)
(…)
3. Rechtsschutz/Justizwesen
Letzte Änderung am 6.4.2020
Der zwei Jahre andauernde Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hat zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit geführt (EP 13.3.2019; vgl. PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 29.5.2019, USDOS 11.3.2020). Negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten und der Justiz wurden nicht angegangen (EC 29.5.2019). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme wie der Missbrauch der Untersuchungshaft verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).
Neben der Aushöhlung der verfassungsrechtlichen und strukturellen Garantien zu