TE Vfgh Erkenntnis 2021/2/24 E4208/2020

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Veröffentlicht am 24.02.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §9, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Aberkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan; keine Auseinandersetzung mit aktuellen Länderberichten des EASO zu Personen, die lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein afghanischer Staatsangehöriger, der in Pakistan geboren und aufgewachsen ist. Im Jahr 2014 ist er im Alter von 13 Jahren von Pakistan nach Österreich geflüchtet, bis dahin hat er mit seiner Familie ausschließlich in Pakistan gelebt. Der Beschwerdeführer verfügt über keine Angehörigen in Afghanistan, seine Familie ist inzwischen von Pakistan in den Iran gezogen. Seine Muttersprache ist Hazaragi, er spricht aber auch Dari und Deutsch. Am 27. August 2014 reiste der Beschwerdeführer ins Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17. August 2015 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), dem Beschwerdeführer wurde jedoch der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 leg cit zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß §8 Abs4 leg cit eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 17. August 2016 erteilt (Spruchpunkt III.).

Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde im Wesentlichen damit begründet, dass sich vor dem Hintergrund der unsicheren Gesamtlage die fehlende Existenz sozialer oder familiärer Netzwerke besonders negativ auswirke. Angesichts dieser Konstellation stelle sich der Zugang zu Wohnraum und Nahrung nicht als hinreichend gesichert dar, weshalb im Falle einer Rückführung in das Herkunftsland eine Verletzung seiner von Art3 EMRK umfassten Rechte nicht gänzlich ausgeschlossen werden könne.

3. Mit Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt vom 22. November 2016 (im Alter von 15 Jahren) wurde der Beschwerdeführer wegen versuchten Diebstahls, Drohung, Urkundenunterdrückung sowie -fälschung und unerlaubtem Umgang mit Suchtgift zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 10 Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt. Im Jänner 2020 ist der Beschwerdeführer betrunken und ohne Führerschein mit einer "L-Tafel" gefahren und hat eine Verwaltungsstrafe bekommen.

4. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27. September 2018 wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung zuletzt bis zum 17. August 2020 verlängert.

5. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 2. Jänner 2019 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §9 Abs1 Z1 AsylG 2005 aberkannt (Spruchpunkt I.), die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß §9 Abs4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.), kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.) sowie gemäß §10 Abs1 Z5 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Des Weiteren wurde gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß §46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

6. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 15. Oktober 2020 als unbegründet ab. Begründend führt es in Bezug auf die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz im Zusammenhang mit der Situation in Afghanistan unter anderem Folgendes aus:

"Dass es dem Beschwerdeführer möglich sein wird, im Fall eines Aufenthaltes in HERAT oder MAZAR-E- SHARIF ein Leben aufzubauen, und sei es auch unter Anwendung entsprechender Anstrengung und bei zunächst sehr schwierigen Bedingungen, kann das Bundesverwaltungsgericht aus einer Gesamtschau des Beweismaterials schließen. Bei dieser Gesamtschau ist zunächst auch der Umstand zu berücksichtigen, dass bereits die mit Indizwirkung ausgestatteten UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 zwar grundsätzlich davon ausgehen, dass Rückkehrer dann eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative vorfinden, wenn sie im 'voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft' haben, dass diese Richtlinien aber gerade für den Fall von 'alleinstehende[n], leistungsfähige[n] Männer[n] ... im erwerbsfähigen Alter ohne ... besondere Gefährdungsfaktoren' eine Ausnahme von dieser Grundannahme festhalten und ausführen, dass diese Personengruppe 'unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen' (UNCHR, 30.08.2018, deutsche Fassung S. 125, vgl https://www.ecoi.net/en/file/local/1449845/90_1542006632_unhcr-2018-08-30-afg-richtlinien.pdf). Beim Beschwerdeführer handelt es sich um eine Person, die in diese Ausnahmekategorie fällt."

7. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend führt der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass er in Pakistan geboren und aufgewachsen sei und nie in Afghanistan gelebt habe. Der Beschwerdeführer verweist auf die EASO-Leitlinien aus dem Jahr 2019 betreffend Personen, die außerhalb Afghanistans aufgewachsen sind, und legt dar, dass bei diesen Personen besondere Kriterien zu beachten seien. Der Beschwerdeführer verfüge über kein familiäres bzw soziales Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan, habe keinerlei Ortskenntnis oder Kenntnis der dortigen Verhältnisse und keine besonderen Fähigkeiten. Auch auf Grund seines sozialen und wirtschaftlichen Hintergrundes habe er keine gesteigerten Fähigkeiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Beschwerdeführer habe psychische Probleme, die ihn an der Existenzgründung und Anpassung in einem fremden Land hindern würden. Zudem sei er vom Islam abgefallen (Apostasie), lebe ohne religiöses Bekenntnis und habe eine westliche Lebenseinstellung angenommen. Dazu komme die auf Grund der COVID-19 Pandemie verschärfte Lage in Afghanistan.

8. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte die Verwaltungsakten und das Bundesverwaltungsgericht die Gerichtsakten vor; beide sahen von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht geht im Wesentlichen davon aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten weggefallen seien, weil der Beschwerdeführer angesichts seiner hinzugewonnenen Lebens- und Berufserfahrung nicht mehr in eine mit unmenschlicher Behandlung im Sinne des Art3 EMRK gleichzusetzende Lage geraten würde und ihm nunmehr eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat zur Verfügung stehe.

3.2. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die im Asylverfahren herangezogenen Länderberichte hinreichend aktuell sein müssen; dies betrifft insbesondere Staaten mit sich rasch ändernder Sicherheitslage (vgl etwa VfSlg 19.466/2011; VfGH 26.6.2013, U2557/2012; 11.3.2015, E1542/2014; 23.9.2016, E1796/2016; 27.2.2018, E2124/2017; vgl im vorliegenden Zusammenhang zuletzt insbesondere VfSlg 20.358/2019; VfGH 12.12.2019, E236/2019; 12.12.2019, E2692/2019; 12.12.2019, E3350/2019; 5.3.2020, E394/2020; 21.9.2020, E4673/2019).

3.3. Im vorliegenden Fall stützt das Bundesverwaltungsgericht seine Feststellungen, dass dem Beschwerdeführer eine Ansiedelung in Mazar-e Sharif möglich und zumutbar sei, auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018.

3.4. Dabei übersieht das Bundesverwaltungsgericht, dass eine aktuelle und spezifische Information betreffend Fälle wie jenen des Beschwerdeführers, der in Pakistan geboren und aufgewachsen ist, vorliegt. Die "Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO auf dem Stand Juni 2018 (ebenso nach dem Stand der im Zeitpunkt der Entscheidung aktuellen Fassung aus Juni 2019) enthält eine spezifische Beurteilung für jene Gruppe von Rückkehrern, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben.

Aus dem Bericht des EASO geht hervor, dass für die genannte Personengruppe eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könnte, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungs-netzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw Verbindungen zu Afghanis-tan sowie sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund, insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans (vgl VfSlg 20.358/2019; VfGH 6.10.2020, E2795/2019).

3.5. Indem das Bundesverwaltungsgericht diese – zum Entscheidungszeitpunkt bereits veröffentlichte – maßgebliche Information nicht berücksichtigt und auch die erforderliche Einzelfallprüfung nicht vornimmt, hat es seine Entscheidung auf veraltete Länderberichte gestützt und die Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen (vgl VfGH 12.12.2019, E236/2019; 12.12.2019, E3350/2019; 5.3.2020, E394/2020; 21.9.2020, E4673/2019).

3.6. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes erweist sich somit schon aus diesen Gründen im Hinblick auf die Beurteilung einer dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr drohenden Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 und 3 EMRK als verfassungswidrig. Sie ist im Hinblick auf die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten des Beschwerdeführers und den daran anknüpfenden übrigen Spruchinhalt mit Willkür behaftet und daher zu Gänze aufzuheben.

3.7. Mit Blick auf die dargestellte Berichtslage und die wiedergegebene Rechtsprechung bedarf es daher im fortgesetzten Verfahren einer Begründung, auf Grund welcher außergewöhnlichen Umstände es dem Beschwerdeführer, der seit seiner Geburt bis zur Einreise nach Österreich in Pakistan lebte, dennoch möglich sein könnte, nach Afghanistan zurückzukehren, ohne dass er in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 EMRK und Art3 EMRK verletzt wird (VfGH 5.3.2020, E394/2020; 21.9.2020, E4673/2019; vgl auch VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E4208.2020

Zuletzt aktualisiert am

01.06.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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