TE Vfgh Erkenntnis 2021/4/29 E15/2021 ua

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Veröffentlicht am 29.04.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §34, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
EU-Grundrechte-Charta Art24 Abs2
BVG-Kinderrechte ArtI Abs2
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigter betreffend eine Familie von Staatsangehörigen des Iraks; mangelhafte Auseinandersetzung mit den Länderberichten betreffend Minderjährige

Spruch

I. 1. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.270,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführer sind irakische Staatsangehörige und sunnitische Muslime. Sie stellten am 22. Mai 2015 Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Eltern der minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer. Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer sind gesund. Der Erstbeschwerdeführer leidet an Bluthochdruck und hohen Cholesterinwerten. Die Zweitbeschwerdeführerin leidet an Migräne und Asthma bronchiale.

2. Mit Bescheiden vom 7. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz jeweils gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wies es die Anträge auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak ab. Weiters erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gemäß §57 AsylG 2005 keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, sondern erließ Rückkehrentscheidungen und stellte gemäß §52 Abs9 FPG fest, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in den Irak gemäß §46 FPG zulässig sei. Gleichzeitig wurde gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG jeweils eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen gesetzt.

3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 11. Dezember 2020 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab.

Das Bundesverwaltungsgericht begründet die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten im Wesentlichen damit, dass das Vorbringen der Beschwerdeführer (im Speziellen des Erstbeschwerdeführers) widersprüchlich und in wesentlichen Teilen unplausibel sowie gesteigert und damit nicht glaubhaft gewesen sei. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten erachtet das Bundesverwaltungsgericht für nicht gegeben, weil eine Rückkehr für die Beschwerdeführer nach Bagdad möglich sei.

3.1. In den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes finden sich zur Lage von Kindern im Irak folgende Ausführungen:

"16.2 Kinder

Die Hälfte der irakischen Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt. Kinder waren und sind Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre. Sie sind einerseits in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage, andererseits durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen (AA 12.1.2019). Laut UNICEF machen Kinder fast die Hälfte der durch den Konflikt vertriebenen Iraker aus (USDOS 11.3.2020). Im Dezember 2019 waren noch mehr als 1,4 Millionen Menschen, darunter 658.000 Kinder, IDPs, vor allem im Norden und Westen des Landes (UNICEF 31.12.2019).

Artikel 29 und 30 der irakischen Verfassung enthalten Kinderschutzrechte. Der Irak ist dem Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten beigetreten (AA 12.1.2019). Nach Artikel 41, Absatz 1 des Strafgesetzbuches haben Eltern das Recht, ihre Kinder innerhalb der durch Gesetz oder Gewohnheit vorgeschriebenen Grenzen zu disziplinieren (HRW 14.1.2020).

Im Falle einer Nichtregistrierung der Geburt eines Kindes werden diesem staatliche Leistungen, wie Bildung, Lebensmittelbeihilfe und Gesundheitsversorgung vorenthalten. Alleinstehende Frauen und Witwen hatten oft Probleme bei der Registrierung ihrer Kinder. Kinder, die nicht die irakische Staatsbürgerschaft besitzen, haben ebenfalls keinen Anspruch auf staatliche Leistungen. Humanitäre Organisationen berichten von einem weit verbreiteten Problem bezüglich Kindern, die im Gebiet des Islamischen Staates (IS) geboren worden sind und keine von der Regierung ausgestellte Geburtsurkunden erhalten. Etwa 45.000 Kinder sind davon betroffen (USDOS 11.3.2020).

Nach dem Gesetz ist der Vater der Vormund der Kinder, auch wenn eine geschiedene Mutter das Sorgerecht für ihre Kinder bis zum Alter von zehn Jahren erhalten kann. Dies kann per Gerichtsentscheid auch bis zum Alter von 15 Jahren verlängert werden, zu welchem Zeitpunkt das Kind wählen kann, mit welchem Elternteil es leben möchte (USDOS 11.3.2020). Das irakische Familienrecht unterscheidet zwischen zwei Arten der Vormundschaft (wilaya und wasiya), sowie der Pflege bzw Sorge (hanada). Dem Vater kommt immer die Vormundschaft (wilaya) zu. Wenn dieser nicht mehr lebt, dem Großvater bzw nach Entscheidung eines Shari`a-Gerichts einem anderen männlichen Verwandten. Nur ein Mann kann demnach wali sein. Die Fürsorgeberechtigung (hanada), d.h. die Verantwortung für die Erziehung, Sicherheit und Betreuung eines Kindes, kommt im Falle einer Scheidung der Mutter zu. D.h. die Kinder leben bei der Mutter, im Falle von Knaben bis zum 13. Lebensjahr und im Falle von Mädchen bis zum 15. Lebensjahr (Migrationsverket 15.8.2018).

Einem Bericht aus 2018 zufolge sind fast alle irakischen Kinder (92%) in der Grundschule eingeschrieben, aber nur etwas mehr als die Hälfte der Kinder aus ärmeren Verhältnissen absolvieren die Grundschule (UNICEF 19.11.2018). Dabei ist die Grundschulbildung für Kinder mit irakischer Staatsbürgerschaft in den ersten sechs Schuljahren verpflichtend und wird für diese kostenfrei angeboten. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) besteht die Schulpflicht bis zum Alter von 15 Jahren; auch dort kostenfrei. Der gleichberechtigte Zugang von Mädchen zu Bildung bleibt eine Herausforderung, insbesondere in ländlichen und unsicheren Gebieten (USDOS 11.3.2020). Die Sicherheitslage und die große Zahl zerstörter Schulen verhindern allerdings mancherorts den Schulbesuch, sodass die Alphabetisierungsrate in den letzten 15 Jahren drastisch gefallen ist (aktuell bei 79,7%), besonders in ländlichen Gebieten. Im Unterschied dazu sind in der KRI fast alle Menschen des Lesens und Schreibens mächtig (AA 12.1.2019). Mindestens 70% der Kinder von IDPs haben mindestens ein Jahr Schulunterricht verpasst (USDOS 11.3.2020). Mehr als 3,3 Millionen Kinder im Irak benötigen Unterstützung im Bildungsbereich (UNICEF 31.12.2019).

Eine Million Kinder unter 18 Jahren hatte Ende 2019 humanitären Bedarf an Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygiene (UNICEF 31.12.2019). Über ein Viertel aller Kinder im Irak lebt in Armut. Dabei waren, über die letzten Jahrzehnte, Kinder im Süden des Landes und in ländlichen Gebieten am stärksten betroffen (UN News 19.1.2018; vgl UNICEF 31.1.2017). 22,6% der Kinder im Irak sind unterernährt (AA 12.1.2019). Ein Viertel aller Kinder unter fünf Jahren sind physisch unterentwickelt bzw im Wachstum zurückgeblieben (UNICEF 31.1.2017).

Gewalt gegen Kinder bleibt ein großes Problem (USDOS 11.3.2020). Berichten zufolge verkaufen Menschenhändlernetze irakische Kinder zur kommerziellen sexuellen Ausbeutung. Letztere erfolgt im In- und Ausland. Verbrecherbanden sollen Kinder zwingen, im Irak zu betteln und Drogen zu verkaufen (USDOS 20.6.2019). Auch Kinderprostitution ist ein Problem, insbesondere unter Flüchtlingen. Da die Strafmündigkeit im Irak in den Gebieten unter der Verwaltung der Zentralregierung neun Jahre beträgt und in der KRI elf, behandeln die Behörden sexuell ausgebeutete Kinder oft wie Kriminelle und nicht wie Opfer (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung und das Gesetz verbieten die schlimmsten Formen von Kinderarbeit. In den Gebieten, die unter die Zuständigkeit der Zentralregierung fallen, beträgt das Mindestbeschäftigungsalter 15 Jahre. Versuche der Regierung Kinderarbeit zB durch Inspektionen zu überwachen, blieben erfolglos. Kinderarbeit, auch in ihren schlimmsten Formen, kam im ganzen Land vor (USDOS 11.3.2020).

Kindersoldaten, Rekrutierung von Kindern

Die Regierung und schiitische religiöse Führer verbieten Kindern unter 18 Jahren ausdrücklich den Kriegsdienst. Es gibt keine Berichte, wonach Kinder von staatlicher Seite zum Dienst in den Sicherheitskräften einberufen oder rekrutiert werden. Der Regierung mangelt es jedoch an Kontrolle über einige PMF-Einheiten, sie kann die Rekrutierung von Kindern durch diese Gruppen nicht verhindern, darunter die Asa'ib Ahl al-Haqq (AAH), Harakat Hezbollah al-Nujaba (HHN) und die Kata'ib Hizbollah (KH) (USDOS 11.3.2020). Es gibt auch keine diesbezüglichen Untersuchungen (USDOS 20.6.2019). Die Vereinten Nationen untersuchen die Rekrutierung und Verwendung von 39 Kindern durch die Konfliktparteien, darunter fünf Buben im Alter von zwölf bis 15 Jahren, die von der irakischen Bundespolizei im Gouvernement Ninewa zur Verstärkung eines Kontrollpostens eingesetzt wurden (UN General Assembly 30.7.2019). Berichten zufolge rekrutieren sowohl die Volksverteidigungskräfte (HPG), der militärische Arm der Kurdische Arbeiterpartei (PKK), und die jesidische Miliz Shingal Protection Unit (YBS) nach wie vor Kinder und setzen diese als Soldaten ein. Genaue Zahlen sind zwar nicht verfügbar, aber sie werde auf einige Hundert geschätzt (USDOS 11.3.2020). Seit der territorialen Niederlage des IS im Jahr 2017 gibt es keine neuen Informationen über den Einsatz von Kindern durch den IS (USDOS 11.3.2020). Zuvor hatte der IS ab 2014 tausende Kinder rekrutiert. Diese wurden als Frontkämpfer, Selbstmordattentäter, zur Herstellung und Anbringung von Sprengsätzen, zur Durchführung von Patrouillen, als Wächter und Spione und für eine Vielzahl von Unterstützungsaufgaben eingesetzt (HRW 6.3.2019). Die Zentralregierung sowie die Regierung der Kurdischen Region im Irak verfolgen solche Kinder gemäß ihren Terrorismusbekämpfungsgesetzen. Etwa 1.500 irakische Kinder werden wegen des Vorwurfs einer IS-Angehörigkeit in Gefängnissen festgehalten und gefoltert, um Geständnisse zu erzwingen (The New Arab 8.3.2019; vgl HRW 14.1.2020). Es gibt Berichte über Verurteilungen von Kindern als Terroristen (HRW 6.3.2019).

[Anm: Informationen zu Kinderehen können dem Kapitel 16.1.3 Zwangsehen, Kinderehen, temporäre Ehen, Blutgeld-Ehe (Fasliya) entnommen werden, Informationen zu Kindern, die unter dem IS geboren sind finden sich in Kapitel 16.7 (Mutmaßliche) IS-Mitglieder, IS-Sympatisanten und IS-Familien (Dawa'esh).]"

4. Im Erkenntnis führt das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung betreffend die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten zunächst aus, dass es sich bei den Beschwerdeführern (Familie mit minderjährigen Kindern) um eine besonders vulnerable und schutzbedürftige Personengruppe handle. Es seien jedoch keine spezifischen, unter dem Blickwinkel der Art2 und 3 EMRK aufzugreifenden Gefahren erkennbar. Die minderjährigen Beschwerdeführer gehörten keiner besonders gefährdeten Gruppe an. Auch auf Grund der Sicherheitslage sei eine Verletzung des Kinderwohles nicht zu besorgen. Ebenso wenig stehe die gesundheitliche Situation der Zweitbeschwerdeführerin einer Rückkehr entgegen. In Bezug auf ihre Asthmaerkrankung könne eine allenfalls notwendige Behandlung im Irak fortgeführt werden. Gleiches gelte hinsichtlich ihrer posttraumatischen Belastungsstörung.

Bei einer Rückkehr nach Bagdad stehe den Beschwerdeführern ihr Eigentumshaus zur Verfügung. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin seien arbeits- und anpassungsfähige Menschen mit einer ausgezeichneten Schulbildung und verfügten jeweils über einen Universitätsabschluss. Es könne daher davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführer in der Lage wären, sich mit eigener Erwerbstätigkeit ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhaltes und somit ein Auskommen der Familie zu erwirtschaften. Ferner sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer Unterstützung durch die in Bagdad lebenden Verwandten erhielten. Die Sicherheitslage in Bagdad sei stabil, habe sich in den letzten Jahren entscheidend verbessert und es hätten sich dort nur vereinzelt terroristische Anschläge mit einer vergleichsweise geringen Anzahl ziviler Opfer ereignet. Auch unter Berücksichtigung der besonderen Vulnerabilität der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer stehe die Sicherheitslage einer Rückkehr nach Bagdad nicht entgegen.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und mit näherer Begründung die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

6. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der belangten Behörde vor und sah von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht betreffend die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, die Nichtzuerkennung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und die Festsetzung einer Frist für die freiwillige Ausreise richtet, auch begründet:

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

3.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2 und 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

3.2. Die Begründung des Bundesverwaltungsgerichtes hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten erschöpft sich im Wesentlichen darin, dass dieses zusammengefasst ausführt, die Familie werde – angesichts der Erwerbsfähigkeit der Erst- und Zweitbeschwerdeführer, der möglichen Unterstützung durch die im Irak aufhältigen Verwandten der Erst- und Zweitbeschwerdeführer und des Umstandes, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin bislang in der Lage gewesen seien, ihre Familie zu versorgen – nach ihrer Rückkehr in keine Notlage geraten. Darüber hinaus stehe es den Beschwerdeführern frei, am ERIN-Programm sowie am Public Distribution System (PDS) teilzunehmen. Die Kinder des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin teilten das sozioökonomische Schicksal der Eltern.

3.3. Bei der Behandlung der Anträge auf internationalen Schutz von Minderjährigen sind, unabhängig davon, ob sie unbegleitet sind oder gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen leben, bei entsprechend schlechter allgemeiner Sicherheitslage zu deren Beurteilung einschlägige Herkunftsländerinformationen, in die auch die Erfahrungen in Bezug auf Kinder Eingang finden, jedenfalls erforderlich (vgl UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern im Zusammenhang mit Art1 [A] 2 und 1 [F] des Abkommens von 1951 bzw des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 22.12.2009, Rz 74). Dementsprechend hat der Verfassungsgerichtshof wiederholt die Bedeutung der Länderfeststellungen im Hinblick auf Minderjährige als besonders vulnerable Antragsteller hervorgehoben (zB VfGH 8.6.2020, E3524/2019 ua mwN). Dieses Verständnis steht im Einklang mit Art24 Abs2 GRC bzw ArtI zweiter Satz des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern, BGBl I 4/2011, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (VfGH 2.10.2013, U2576/2012 mit Verweis auf EuGH 6.6.2013, Rs C-648/11, MA ua, Rz 56 und 57).

Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um eine Familie mit drei minderjährigen Kindern und somit schon deshalb um eine besonders vulnerable und schutzbedürftige Personengruppe. Nach den UNHCR-Erwägungen ("International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq", S 115) vom Mai 2019 ist bei der Prüfung, ob subsidiärer Schutz zuzuerkennen ist, auf solche besonderen Vulnerabilitäten besonders Bedacht zu nehmen.

3.4. Mit Blick auf die Lage von Kindern in Bagdad trifft das Bundesverwaltungsgericht zwar in Bezug auf den Zugang zu Bildung, Grundnahrungsmitteln und medizinischer Versorgung, in Bezug auf die soziale Lage, häusliche Gewalt, Menschenhandel, Bettelei, Drogenkriminalität und sexuelle Ausbeutung sowie schließlich hinsichtlich Zwangsrekrutierungen umfangreiche Feststellungen. Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt es jedoch, sich im Hinblick auf die prekäre Sicherheitslage in Bagdad damit auseinanderzusetzen, ob dem zum Zeitpunkt der Entscheidung sechzehnjährigen Drittbeschwerdeführer, dem vierzehnjährigen Viertbeschwerdeführer sowie der achtjährigen Fünftbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr eine Verletzung in ihren gemäß Art2 und Art3 EMRK gewährleisteten Rechten droht (VfGH 11.6.2018, E4469/2017 ua; 25.9.2018, E1764/2018 ua; 11.12.2018, E2025/2018 ua; 23.9.2019, E1138/2019; 7.10.2020, E1524/2020 ua).

4. Aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderberichten geht hervor, dass speziell Kinder weiterhin Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen und auf der einen Seite in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage sowie auf der anderen Seite durch Gewaltakte gegen sie bzw deren Familienmitglieder stark betroffen sind. Das Bundesverwaltungsgericht führt auch im Rahmen seiner Beweiswürdigung sowie der rechtlichen Beurteilung zunächst aus, dass es sich bei den Beschwerdeführern um eine Familie mit minderjährigen Kindern und daher um eine besonders vulnerable und schutzbedürftige Personengruppe handle.

Entgegen den herangezogenen Länderfeststellungen stellt das Bundesverwaltungsgericht jedoch anschließend fest, dass die minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer keiner besonders gefährdeten Gruppe angehörten. Anschließend führt das Bundesverwaltungsgericht aus, es sei im Hinblick auf die getroffenen Feststellungen zur Sicherheitslage in der Herkunftsregion der Beschwerdeführer nicht zu besorgen, dass die minderjährigen Beschwerdeführer als besonders vulnerable Personen im Rückkehrfall von terroristischen oder kriminellen Aktivitäten betroffen seien. Auf Grund der Sicherheitslage sei eine Verletzung des Kinderwohles ebenfalls nicht zu besorgen.

4.1. Indem es das Bundesverwaltungsgericht bei seiner rechtlichen Beurteilung somit unterlassen hat, eine nachvollziehbare Prüfung der Art2 und 3 EMRK im Hinblick auf die (minderjährigen) Beschwerdeführer als besonders vulnerable Personengruppe vorzunehmen und leichtfertig vom Inhalt der herangezogenen Länderberichte abgeht, hat es sein Erkenntnis im angegebenen Umfang mit Willkür belastet. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes ist daher hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer begründungslos ergangen.

4.2. Soweit das angefochtene Erkenntnis die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten an die minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer und – daran knüpfend – die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung bzw der Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise ausspricht, ist es somit mit Willkür behaftet. Dieser Mangel schlägt gemäß §34 Abs4 AsylG 2005 auf die Entscheidung betreffend die Erst- und Zweitbeschwerdeführer durch (VfSlg 19.855/2014; VfGH 24.11.2016, E1085/2016 ua) und belastet auch diese mit (objektiver) Willkür (etwa VfSlg 19.401/2011 mwN). Aus diesem Grund ist das Erkenntnis auch betreffend die Erst- und Zweitbeschwerdeführer – im selben Umfang wie hinsichtlich der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer – aufzuheben (vgl VfGH 21.09.2017, E2130-2132/2017).

5. Im Übrigen (also soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung der Anträge auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richten) wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

6. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit ihre Beschwerde gegen die Abweisung der Anträge auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer vierzehntägigen Frist zur freiwilligen Ausreise, abgewiesen wird, in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten sind ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 545,– und Umsatzsteuer in der Höhe von € 545,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.

Schlagworte

Asylrecht / Vulnerabilität, Kinder, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E15.2021

Zuletzt aktualisiert am

01.06.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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