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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §34Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Mag. Schindler, den Hofrat Dr. Himberger sowie die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des XY, vertreten durch Mag. Dr. Birgitta Braunsberger-Lechner, Rechtsanwältin in 4400 Steyr, Leopold-Werndl-Straße 9, 1. Stock, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Dezember 2020, W125 2236496-1/21E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber ist - nach dem von ihm vorgelegten Reisepass - Staatsangehöriger des Senegal und stellte am 13. September 2019 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Dabei gab er unter anderem an, bereits in Malta und Italien Asylanträge gestellt zu haben.
2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 7. Februar 2020 wurde dieser Antrag, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass gemäß Art. 12 Abs. 1 oder 3 iVm Art. 22 Abs. 7 der Dublin-III-VO Italien für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Weiters wurde gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) die Außerlandesbringung des Revisionswerbers angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.). Dieser Bescheid konnte dem Revisionswerber erst am 12. Oktober 2020 zugestellt werden.
3 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), in der er unter anderem vorbrachte, mit einer österreichischen Staatsbürgerin in Lebensgemeinschaft zu leben, mit der er bereits früher in Österreich und von März bis August 2020 in Malta gelebt habe. Seine Lebensgefährtin sei dort zunächst arbeitssuchend und dann als Arbeitnehmerin beschäftigt gewesen. Als Beweis dafür beantragte er seine eigene Vernehmung sowie die Vernehmung seiner Lebensgefährtin. Im Laufe des Beschwerdeverfahrens teilte der Revisionswerber dem BVwG mit, seine Lebensgefährtin mittlerweile geheiratet zu haben und wies erneut darauf hin, dass sich seine nunmehrige Ehefrau mit ihm gemeinsam in Malta aufgehalten habe und dort erwerbstätig gewesen sei. Sie habe damit ihr Recht auf Freizügigkeit in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommen, weshalb ihm ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zukomme. Diesbezüglich wiederholte er den Beweisantrag auf Vernehmung seiner (nunmehr) Ehegattin.
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG - ohne eine Verhandlung durchzuführen - die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG als nicht zulässig.
5 Darin stellte es - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - zunächst fest, dass der Revisionswerber seit 19. November 2020 mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet sei und derzeit mit ihr im gemeinsamen Haushalt in Österreich lebe. Der Revisionswerber habe sich im Jahre 2020 in einem nicht genau bestimmbaren Zeitraum in Malta aufgehalten, dafür aber die EU nicht verlassen.
6 Beweiswürdigend hielt das BVwG unter anderem fest, dass der Umstand, dass sich der Revisionswerber im März 2020 nach Malta begeben und sich dort eine Zeitlang aufgehalten hatte, in einer Gesamtschau der vorgelegten Dokumente als plausibel anzusehen sei. Die präzise Dauer und was er dort genau getan habe, müsse aber auf Basis dieser Dokumente und seiner (näher begründeten) mangelnden persönlichen Glaubwürdigkeit offen bleiben. Dem komme aber keine unmittelbare Entscheidungsrelevanz zu.
7 In rechtlicher Hinsicht erwog das BVwG näher begründet, dass sich aus Art. 12 Abs. 3 lit. a Dublin-III-VO die Zuständigkeit Italiens zur Prüfung des in Rede stehenden Antrages auf internationalen Schutz ergebe.
8 Zum Vorbringen des Revisionswerbers, er verfüge über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht wegen der Inanspruchnahme der unionsrechtlichen Freizügigkeit durch seine (nunmehrige) Ehegattin während des gemeinsamen Aufenthaltes in Malta, erwog das BVwG, dass der Revisionswerber für die Erwerbstätigkeit seiner nunmehrigen Gattin in Malta jegliche Belege schuldig geblieben sei. Was sie in einer Zeugeneinvernahme hätte „vorbringen“ können, sei ebenso nicht ausgeführt worden, sodass darin ein unzulässiger Erkundungsbeweis läge. Jedenfalls sei aber „kein längerer Aufenthalt der nunmehrigen Gattin des Revisionswerbers außerhalb Österreichs (in Ausübung der unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit)“ vorgelegen. Die nachhaltige Verwirklichung eines unionsrechtlichen Freizügigkeitssachverhalts sei somit weder fundiert behauptet worden noch sonst objektiviert.
9 Zur angeordneten Außerlandesbringung des Revisionswerbers hielt das BVwG fest, eine - ohnehin nicht angenommene - Rechtsposition des Revisionswerbers als begünstigter Drittstaatsangehöriger stünde seiner Außerlandesbringung nicht entgegen, weil begünstigte Drittstaatsangehörige hievon explizit nur in den in § 61 Abs. 1 Z 2 FPG vorgesehen Fällen ausgenommen seien, welche im Konkreten nicht vorlägen.
10 Eine mündliche Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 6a iVm Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) unterbleiben können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde, den Stellungnahmen und den Ermittlungsschritten des BVwG, zu denen jeweils Parteiengehör gewährt worden sei, geklärt erscheine. Es habe sich kein Hinweis auf die Notwendigkeit ergeben, den maßgeblichen Sachverhalt mit dem Revisionswerber oder der beantragten Zeugin zu erörtern.
11 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vorbringt, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob eine Außerlandesbringung in den Fällen des § 61 Abs. 1 Z 1 FPG angeordnet werden könne, auch wenn der Drittstaatsangehörige über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht als begünstigter Drittstaatsangehöriger verfüge, und das BVwG sei mit der Abweisung des Beweisantrages auf Einvernahme der Ehegattin des Revisionswerbers von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.
12 Nach Vorlage der Revision samt den Verfahrensakten durch das BVwG und nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Allgemeines
13 Die Revision ist im Hinblick auf die oben dargestellten Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig und im Ergebnis auch begründet.
14 Die einschlägigen Bestimmungen des AsylG 2005 lauten:
„Zuständigkeit eines anderen Staates
§ 5. (1) Ein nicht gemäß §§ 4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin - Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Eine Zurückweisung des Antrages hat zu unterbleiben, wenn im Rahmen einer Prüfung des § 9 Abs. 2 BFA-VG festgestellt wird, dass eine mit der Zurückweisung verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen würde.
(...)
Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme
§ 10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
1. (...)
2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,
3. bis 5. (...)
und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.“
15 Die einschlägigen Bestimmungen des FPG lauten:
„Begriffsbestimmungen
§ 2. (1) bis (3) (...)
(4) Im Sinn dieses Bundesgesetzes ist
1. bis 9. (...)
10. Drittstaatsangehöriger: ein Fremder, der nicht EWR-Bürger oder Schweizer Bürger ist;
11. begünstigter Drittstaatsangehöriger: der Ehegatte, eingetragene Partner, eigene Verwandte und Verwandte des Ehegatten oder eingetragenen Partners eines EWR-Bürgers oder Schweizer Bürgers oder Österreichers, die ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht in Anspruch genommen haben, in gerader absteigender Linie bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, darüber hinaus, sofern ihnen Unterhalt tatsächlich gewährt wird, sowie eigene Verwandte und Verwandte des Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie, sofern ihnen Unterhalt tatsächlich gewährt wird, insofern dieser Drittstaatsangehörige den unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürger oder Schweizer Bürger, von dem sich seine unionsrechtliche Begünstigung herleitet, begleitet oder ihm nachzieht;
12. bis 25. (...)
(5) (...)
(...)
Anordnung zur Außerlandesbringung
§ 61. (1) Das Bundesamt hat gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Außerlandesbringung anzuordnen, wenn
1. dessen Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4a oder 5 AsylG 2005 zurückgewiesen wird oder nach jeder weiteren, einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§ 4a oder 5 AsylG 2005 folgenden, zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 Abs. 1 AVG oder
2. er in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und dieser Mitgliedstaat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung dieses Antrages zuständig ist. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
(2) Eine Anordnung zur Außerlandesbringung hat zur Folge, dass eine Abschiebung des Drittstaatsangehörigen in den Zielstaat zulässig ist. Die Anordnung bleibt binnen 18 Monaten ab Ausreise des Drittstaatsangehörigen aufrecht.
(3) Wenn die Durchführung der Anordnung zur Außerlandesbringung aus Gründen, die in der Person des Drittstaatsangehörigen liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, ist die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben.
(4) Die Anordnung zur Außerlandesbringung tritt außer Kraft, wenn das Asylverfahren gemäß § 28 AsylG 2005 zugelassen wird.“
2. Anordnung zur Außerlandesbringung gegen einen begünstigten Drittstaatsangehörigen
16 Eine Anordnung zur Außerlandesbringung gleicht der Rückkehrentscheidung nach § 52 FPG, von der sie sich jedoch hinsichtlich des Zielstaates unterscheidet. Während eine Rückkehrentscheidung den Drittstaatsangehörigen zur Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat verpflichtet (§ 52 Abs. 8 FPG), beinhaltet die Anordnung zur Außerlandesbringung einen Ausreisebefehl in einen anderen Staat („Mitgliedstaat“), somit in einen Mitgliedstaat des EWR-Abkommens oder die Schweiz. Ein solcher kommt insbesondere im Rahmen des „Dublin-Systems“ in Betracht. Während die Z 1 des ersten Absatzes von § 61 FPG - va. - jene Fälle erfasst, in denen wegen „Zuständigkeit eines anderen Staates“, in den in der Folge eine Überstellung stattfinden soll, die Zurückweisung eines in Österreich gestellten Antrages auf internationalen Schutz nach § 5 AsylG 2005 zu ergehen hat, bezieht sich die Z 2 auf Konstellationen, in denen eine derartige Antragstellung in Österreich unterblieben ist, gleichwohl jedoch eine Überstellung des Drittstaatsangehörigen (insbesondere) „auf Grund der Dublin-Verordnung“ in Betracht kommt (VwGH 24.3.2015, Ra 2015/21/0004).
17 Die Revision tritt der Ansicht des BVwG entgegen, im Falle eines begünstigten Drittstaatsangehörigen könne eine - wie hier - auf § 61 Abs. 1 Z 1 FPG gestützte Anordnung zur Außerlandesbringung ergehen, weil sich die im Gesetz genannte Ausnahme für begünstigte Drittstaatsangehörige lediglich auf die Fälle der Z 2 beziehe.
18 Die Regelung des § 61 FPG geht auf das Fremdenbehördenneustrukturierungsgesetz (FNG), BGBl I Nr. 87/2012, und das damit geschaffene neue System der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zurück. Die diesbezüglichen Gesetzesmaterialien (ErläutRV 1803 BlgNR 24. GP 52, allgemein zu Artikel 4 - Änderung des FPG) führen dazu aus:
„Das vorgesehene System der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, welches in die Zuständigkeit des Bundesamtes fallen soll, ergibt sich inhaltlich aus den bisherigen asyl- und fremdenrechtlichen Bestimmungen sowie den zugrundeliegenden unionsrechtlichen Vorgaben (insbesondere der Rückführungsrichtlinie), soll jedoch in eine neue, klarere Struktur gegossen werden (Trennung zwischen unterschiedlichen Formen mit unterschiedliche Zielgruppen und Rechtsfolgen).
Demnach soll künftig je nach der Zielregion der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zwischen Rückkehrentscheidungen in einen Drittstaat (verbunden mit einem Einreiseverbot) und Anordnungen zur Außerlandesbringung in einen EWR-Staat unterschieden werden.
In Abänderung dazu soll betreffend EWR-Bürger, Schweizer und begünstigte Drittstaatsangehörige unabhängig vom Zielstaat aufgrund der unionsrechtlichen Regelung ihres Aufenthaltsrechts nur bei Vorliegen strenger Voraussetzungen eine Ausweisung vorgesehen werden.“
19 Schon daraus ergibt sich, dass für begünstigte Drittstaatsangehörige - die insoweit mit EWR-Bürgern und Schweizern gleichgestellt sind - als aufenthaltsbeendende Maßnahme nur die im 4. Abschnitt des 8. Hauptstückes geregelte Ausweisung nach § 66 FPG in Betracht kommen soll, während eine Rückkehrentscheidung (§ 52 FPG) oder Anordnung zur Außerlandesbringung (§ 61 FPG) nach dem 1. Abschnitt des 8. Hauptstückes lediglich gegenüber anderen (nicht begünstigten) Drittstaatsangehörigen ergehen kann.
20 Zwar ist der diesbezügliche, in § 61 Abs. 1 FPG enthaltene Satz „Dies gilt nicht für begünstige Drittstaatsangehörige“ lediglich an die Z 2 angefügt. Für eine unterschiedliche Behandlung der in Z 1 und Z 2 geregelten Fälle ist jedoch kein Grund erkennbar. Vielmehr wäre es nicht nachvollziehbar, eine Außerlandesbringung von begünstigten Drittstaatsangehörigen nur dann anordnen zu können, wenn diese in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, nicht aber, wenn ein solcher Antrag (nur) in einem anderen Mitgliedstaat gestellt wurde. Der gesetzlichen Systematik entspricht es vielmehr, dass - wie es auch in den Gesetzesmaterialen ausdrücklich ausgeführt wird - die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen begünstigten Drittstaatsangehörigen in jedem Fall an die engeren Voraussetzungen der Ausweisung (§ 66 FPG) oder des Aufenthaltsverbotes (§ 67 FPG) geknüpft sind, auch wenn der Betroffene in einem anderen Mitgliedstaat einen dort noch zu prüfenden Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, oder ein solcher im Inland gestellter Antrag nach den §§ 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist.
21 Betreffend Rückkehrentscheidungen nach § 52 Abs. 2 FPG wurde bereits ausgesprochen, dass solche gegen begünstigte Drittstaatsangehörige von vornherein nicht in Betracht kommen und für aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen begünstigte Drittstaatsangehörige - ebenso wie für EWR-Bürger im Sinn des § 2 Abs. 4 Z 8 FPG und Schweizer Bürger - in den §§ 66 und 67 FPG eigene Regelungen geschaffen wurden (vgl. VwGH 14.11.2017, Ra 2017/20/0274, Rn 43).
22 Auch die Anordnung einer Außerlandesbringung von begünstigten Drittstaatsangehörigen hat somit stets zu unterbleiben, unabhängig davon, ob es sich um einen Fall der Z 1 oder der Z 2 des § 61 Abs. 1 FPG handelt. Dementsprechend hat der Verwaltungsgerichtshof auch bereits in seinem Erkenntnis vom 24. März 2015, Ra 2015/21/0004, - wenn auch nicht tragend - ausgeführt, dass eine Anordnung zur Außerlandesbringung „nur gegen - nicht begünstigte - Drittstaatsangehörige“ in Betracht kommt, ohne weiter zu differenzieren.
23 Damit ist im vorliegenden Fall zu klären, ob es sich beim Revisionswerber tatsächlich - wie von ihm behauptet - um einen begünstigten Drittstaatsangehörigen handelt.
3. Zur Qualifikation des Revisionswerbers als begünstigter Drittstaatsangehöriger
24 Der Revisionswerber hat im Beschwerdeverfahren zusammengefasst vorgebracht, er habe mit seiner jetzigen Ehegattin zunächst in Österreich eine Lebensgemeinschaft begründet und mit ihr zusammengelebt, sich sodann von März bis August 2020 gemeinsam mit ihr in Malta aufgehalten, wobei sie - eine österreichische Staatsbürgerin - in dieser Zeit zunächst arbeitssuchend und dann als Arbeitnehmerin erwerbstätig gewesen sei, habe sie mittlerweile geheiratet und lebe nunmehr mit ihr in Österreich zusammen.
25 Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 4 Z 11 FPG ist der Ehegatte einer Österreicherin, die ihr unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in Anspruch genommen hat, insofern er sie begleitet oder ihr nachzieht, ein begünstigter Drittstaatsangehöriger. Ein solches Aufenthaltsrecht kommt nach Art. 7 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeitsrichtlinie), u.a. Unionsbürgerinnen zu, wenn diese im Aufnahmemitgliedstaat Arbeitnehmerinnen oder Selbstständige sind.
26 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entfaltet zwar nicht jede auch noch so geringfügige Ausübung des Freizügigkeitsrechts Relevanz, sondern es ist erforderlich, dass die österreichische „Ankerperson“ mit einer gewissen Nachhaltigkeit von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, wobei diesbezüglich auf die Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitnehmerbegriff zu verweisen ist. Für die Qualifikation als Arbeitnehmer wird dabei eine „tatsächliche und echte Tätigkeit“ verlangt, die keinen so geringen Umfang hat, dass es sich um eine „völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit“ handelt. Dieser Maßstab lässt sich allgemein dergestalt auf alle Freizügigkeitsrechte übertragen, dass eine „tatsächliche und effektive“ Ausübung derselben vorliegen muss (vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2019/21/0304, und 15.4.2020, Ra 2019/18/0270, je mwN). Bei dieser Beurteilung kann auch nicht allein auf die Dauer der Beschäftigung abgestellt werden (vgl. etwa VwGH 26.2.2013, 2010/22/0104, wonach die Rechtsansicht, dass eine Beschäftigung über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten tatsächlich ausgeübt werden müsse, verfehlt sei). Auch spielt es keine Rolle, wenn die Angehörigeneigenschaft (durch die Eheschließung mit der österreichischen Staatsbürgerin) erst nach der potentiellen Ausübung der Freizügigkeit durch die Ehefrau - im vorliegenden Fall rund drei Monate nach der Rückkehr nach Österreich - erworben wurde (VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0115, und 20.10.2011, 2009/21/0235).
27 Vor diesem Hintergrund ist dem Vorbringen, das sich insbesondere auf einen konkreten sechsmonatigen Aufenthalt in Malta zu Erwerbszwecken stützt, entgegen der Beurteilung des BVwG, es hätte „jedenfalls kein längerer Aufenthalt der nunmehrigen Gattin des [Revisionswerbers] außerhalb Österreichs (in Ausübung der unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit) vorgelegen“ und die nachhaltige Verwirklichung eines unionsrechtlichen Freizügigkeitssachverhalts sei nicht fundiert behauptet worden, noch ein ausreichendes Substrat für einen in dieser Hinsicht möglicherweise relevanten Sachverhalt zu entnehmen.
28 Das BVwG hat zwar festgestellt, dass sich der Revisionswerber im Jahr 2020 (in nicht bestimmbarer Dauer) in Malta aufgehalten habe. Aus dem Erkenntnis geht weiters hervor, dass das BVwG davon ausgeht, dass die nunmehrige Ehegattin des Revisionswerbers mehrere Monate mit diesem gemeinsam in Malta gelebt habe. Konkrete Feststellungen zur behaupteten Ausübung der unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit durch die Ehegattin wurden jedoch nicht getroffen. Das BVwG führt dazu lediglich aus, der Revisionswerber sei dafür jegliche Belege schuldig geblieben und die beantragte Zeugeneinvernahme der Ehegattin wäre mangels Anführung dessen, was sie aussagen hätte können, ein unzulässiger Erkundungsbeweis.
29 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist Beweisanträgen grundsätzlich zu entsprechen, wenn die Aufnahme des darin begehrten Beweises im Interesse der Wahrheitsfindung notwendig erscheint. Dementsprechend dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts beizutragen. Ob eine Beweisaufnahme in diesem Sinn notwendig ist, unterliegt der einzelfallbezogenen Beurteilung des Verwaltungsgerichtes. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt (nur) dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Ergebnis geführt hätte (vgl. VwGH 23.4.2020, Ra 2019/01/0368, mwN).
30 Das Vorbringen und der Beweisantrag des Revisionswerbers im Beschwerdeverfahren zu seiner Stellung als begünstigter Drittstaatsangehöriger erweist sich vor dem Hintergrund der dargestellten diesbezüglichen Rechtslage als relevant und ausreichend substantiiert, sodass das BVwG mit der Ablehnung des Beweisantrages betreffend die Vernehmung des Revisionswerbers und seiner Ehegattin seinen Beurteilungsspielraum überschritten hat. Erst nach Aufnahme auch dieser beantragten Beweise hätte das BVwG zulässigerweise zum Ergebnis kommen dürfen, dass allenfalls keine hinreichenden Beweise für eine - auch entsprechend nachhaltige - Erwerbstätigkeit der nunmehrigen Ehegattin des Revisionswerbers vorlägen.
Ergebnis
31 Da einerseits die rechtliche Ansicht des BVwG, im Falle des § 61 Abs. 1 Z 1 FPG könne eine Anordnung zur Außerlandesbringung auch begünstigter Drittstaatsangehöriger erfolgen, unzutreffend ist, und anderseits seine Annahme, der Revisionswerber sei überdies kein begünstigter Drittstaatsangehöriger, auf einem mangelhaften Verfahren beruht, ist jedenfalls die Anordnung der Außerlandesbringung (Beschwerdeabweisung betreffend Spruchpunkt II. des verwaltungsbehördlichen Bescheides) zu beheben.
32 Zu klären ist damit noch das Schicksal der Zurückweisung des Antrags des Revisionswerbers auf internationalen Schutz nach § 5 AsylG 2005 (Beschwerdeabweisung betreffend Spruchpunkt I. des verwaltungsbehördlichen Bescheides) auf Grund der angenommenen Zuständigkeit Italiens für die Behandlung des Antrags auf internationalen Schutz.
33 Gemäß Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung wird ein Antrag auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III (Art. 7 bis 15) der Dublin-III-Verordnung bestimmt wird. Ungeachtet dessen sieht Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung die Möglichkeit des Selbsteintritts eines Mitgliedstaates vor, auch wenn er nach den Kriterien der Dublin-III-Verordnung nicht für die Prüfung zuständig ist. Da Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung keine inhaltlichen Vorgaben beinhaltet, liegt es primär an den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und im Ermessen des einzelnen Mitgliedstaates, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Selbsteintritt erfolgt (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0192 bis 0194).
34 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass das Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung auszuüben ist - und damit eine Zurückweisungsentscheidung nach § 5 AsylG 2005 zu unterbleiben hat -, wenn einer Außerlandesbringung Art. 3 EMRK (VwGH 5.3.2018, Ra 2018/20/0062 bis 0064, mwN) oder Art. 8 EMRK (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0192 bis 0194, mwN) entgegenstehen, oder die Regelung über das Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 eine einheitliche Entscheidung in Bezug auf ein Familienmitglied, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich inhaltlich zu behandeln ist, erfordern (VwGH 27.6.2017, Ra 2016/18/0277, mwN).
35 Dementsprechend ist der Selbsteintritt auch in jenen Fällen auszuüben, in denen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme - insbesondere eine Außerlandesbringung in den nach der Dublin-III-Verordnung an sich zuständigen Mitgliedstaat - auf Grund der Rechtsposition des Antragstellers als begünstigter Drittstaatsangehöriger nicht angeordnet werden kann. Damit kommt in diesen Fällen eine zurückweisende Entscheidung gemäß § 5 AsylG 2005 nicht in Betracht (vgl. bereits VwGH 12.5.2010, 2006/20/0766, zur „Ausweisung“ nach § 10 Abs. 1 AsylG 2005 vor der Neuordnung durch das FNG).
36 Sohin war das angefochtene Erkenntnis zur Gänze wegen (vorrangiger) inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
37 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 26. April 2021
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Ermessen VwRallg8 Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021140015.L01Im RIS seit
01.06.2021Zuletzt aktualisiert am
01.06.2021