TE Vwgh Erkenntnis 2021/4/30 Ra 2021/19/0024

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Veröffentlicht am 30.04.2021
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Jänner 2021, W116-2229038-1/5E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: N M in W, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, Pulverturmgasse 4/2/R01, 1090 Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtwidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Die Mitbeteiligte, eine syrische Staatsangehörige und Angehörige der kurdischen Volksgruppe, stellte am 8. Juli 2019 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend gab sie an, gemeinsam mit ihrer Familie ihren Herkunftsstaat auf Grund der dort herrschenden Sicherheitslage verlassen zu haben. Ihr Ehemann und die gemeinsamen Kinder würden sich nach wie vor in der Türkei aufhalten.

2        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag mit Bescheid vom 8. Jänner 2020 in Hinblick auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte der Mitbeteiligten jedoch den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine bis zum 7. Jänner 2021 befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der gegen Spruchpunkt I. des Bescheides erhobenen Beschwerde der Mitbeteiligten statt, erkannte der Mitbeteiligten den Status der Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihr damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme (Spruchpunkt A.). Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das BVwG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).

4        Begründend hielt das BVwG fest, aus den Länderberichten ergebe sich, dass in den von der Türkei und ihren verbündeten Milizen kontrollierten Gebieten (wie der Region Afrin) versucht werde, Angehörige der kurdischen Volksgruppe unter Einsatz von Gewalt zu „marginalisieren“, um Wohn- und Lebensraum für arabische Sympathisanten zu gewinnen. Es sei daher glaubhaft, dass sich die Mitbeteiligte als Angehörige der kurdischen Volksgruppe davor fürchte, in ein solches Gebiet zurückzukehren, und dass sie in Afrin auf Grund ihrer ethnischen Herkunft verfolgt werden würde. Es sei daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Mitbeteiligten als Kurdin bei einer Rückkehr nach Afrin die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung durch die von der Türkei unterstützten Gruppierungen drohe.

5        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Einleitung des Vorverfahrens - die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der die Zurückweisung, in eventu Abweisung der Revision beantragt wird - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

6        Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es angenommen habe, dass Afrin und nicht Aleppo (wo die Mitbeteiligte den überwiegenden Teil ihres Lebens verbracht habe) ihre Heimatregion sei. Die Feststellung, dass die Mitbeteiligte in von der Türkei kontrollierten Gebieten einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sei, könne die Zuerkennung von Asyl im Hinblick auf das unter Kontrolle des syrischen Regimes stehende Aleppo jedoch nicht begründen.

7        Die Amtsrevision ist zulässig und auch begründet.

8        Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in Fällen, in denen Asylwerber nicht auf Grund eines eigenen Entschlusses, sondern unter Zwang auf Grund einer Vertreibung ihren dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates gewechselt hatten und an dem neuen Aufenthaltsort nicht Fuß fassen konnten (Zustand innerer Vertreibung), der ursprüngliche Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen (vgl. etwa VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192, sowie VwGH 27.6.2016, Ra 2016/18/0055, mit Verweis auf VwGH 28.6.2005, 2002/01/0414).

9        Im vorliegenden Fall stellte das BVwG fest, dass die Mitbeteiligte ursprünglich aus Aleppo stamme und die letzten vier Jahre vor ihrer Ausreise in Afrin gelebt habe. Die Mitbeteiligte selbst gab im Rahmen der Einvernahmen vor dem BFA sowie in ihrer Beschwerde an das BVwG an, Aleppo auf Grund der schlechten Sicherheitslage verlassen zu haben, zumal auch ihr Haus zerstört worden sei. Während ihres Aufenthaltes in Afrin habe sie sich nicht ohne Kleidungsverhüllung in die Öffentlichkeit gewagt und sich vor Vergewaltigung gefürchtet. Sie habe sich in Afrin als Frau nicht frei bewegen können und habe in Angst vor geschlechterspezifischen Verfolgungshandlungen gelebt.

Der Aufenthalt der Mitbeteiligten ist daher nicht als freiwillige Neuansiedlung in einem anderen Landesteil, sondern als Zustand innerer Vertreibung (im Sinn der oben dargelegten Rechtsprechung) zu werten.

10       Ausgehend davon zeigt die Revision zu Recht auf, dass nicht von Afrin, sondern von Aleppo als Heimatregion der Mitbeteiligten auszugehen gewesen wäre. Folglich hätte das BVwG prüfen müssen, ob der Mitbeteiligten in Aleppo mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung drohe.

11       Das BVwG ist somit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weshalb die Entscheidung wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Wien, am 30. April 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190024.L00

Im RIS seit

31.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.06.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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