TE Vwgh Erkenntnis 2021/4/30 Ra 2020/19/0269

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Veröffentlicht am 30.04.2021
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Index

E3L E19103010
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art2
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z1
32011L0095 Status-RL Art15

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2020/19/0270

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision 1. der M S, und 2. der K S, beide vertreten durch Mag.Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das am 25. Februar 2019 mündlich verkündete und mit 27. März 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts 1. L518 2208954-1/16E und 2. L518 2208952-1/19E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Revisionswerberinnen Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die Revisionswerberinnen sind Staatsangehörige Georgiens. Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der (im Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährigen) Zweitrevisionswerberin.

2        Die Revisionswerberinnen stellten am 4. Mai 2018 Anträge auf internationalen Schutz. Begründend brachten sie vor, die Zweitrevisionswerberin leide an zystischer Fibrose, die in Georgien nicht adäquat behandelt werden könne. Zwei Töchter der Erstrevisionswerberin seien in Georgien bereits an derselben Krankheit gestorben.

3        Mit Bescheiden jeweils vom 2. Oktober 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Revisionswerberinnen sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebung nach Georgien zulässig sei, und erkannte Beschwerden gegen die Entscheidungen über die Anträge auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung ab.

4        Gegen diese Bescheide, mit Ausnahme der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten, erhoben die Revisionswerberinnen Beschwerden.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diese Beschwerden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        Das BVwG stellte - soweit hier maßgeblich - fest, die Zweitrevisionswerberin leide an zystischer Fibrose (Mukoviszidose) und sei deshalb bereits seit dem Jahr 2011 in Georgien behandelt worden. Die Behandlung im Krankenhaus sei kostenlos gewesen. Medikamente seien aus der Apotheke besorgt und von der Sozialhilfe, von welcher die Erstrevisionswerberin und deren in Georgien lebender Ehemann (und Vater der Zweitrevisionswerberin) gelebt hätten, bezahlt worden. Zwei Töchter der Erstrevisionswerberin seien in Georgien an zystischer Fibrose verstorben. Es könne nicht festgestellt werden, dass für die Zweitrevisionswerberin im Fall einer Rückkehr keine Behandlungsmöglichkeiten bestünden.

7        Rechtlich führte das BVwG zur Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten aus, § 8 Abs. 1 AsylG 2005 sei unionsrechtskonform so auszulegen, dass subsidiärer Schutz nur bei einem auf ein Verhalten von Dritten (Akteuren) verursachten Schaden oder bei einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt zuzuerkennen sei. Nicht von § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erfasst sei jedoch die Gefahr einer auf allgemeine Unzulänglichkeiten im Herkunftsstaat zurückzuführende Verletzung von Art. 3 EMRK, insbesondere im Zusammenhang mit Erkrankungen (Verweis auf EuGH 18.12.2014, M`Bodj, C-542/13, und VwGH 6.11.2018, Ra 2018/01/0106). Da für Georgien keine Hinweise auf eine allgemeine existenzbedrohende Notlage vorlägen und sich der Herkunftsstaat der Revisionswerberinnen auch nicht im Zustand willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts befinde, sei nicht damit zu rechnen, dass diese bei einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer aktuellen Gefahr im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ausgesetzt wären.

8        Zur Entscheidung nach § 52 Abs. 9 FPG führte das BVwG aus, dass eine Überstellung der Zweitrevisionswerberin nach Georgien zwar zu einer Beeinträchtigung ihres gesundheitlichen Zustandes führen bzw. eine Wiederherstellung ihrer Gesundheit erschweren bzw. verzögern könne, womit jedoch nicht gesagt sei, dass dies zu einer Verletzung nach Art. 3 EMRK führe. Es liege keine lebensbedrohende Krankheit vor, welche das Risiko mit sich bringe, dass die Zweitrevisionswerberin bei einer Rückkehr nach Georgien unter qualvollen Umständen sterben werde. Es gebe Behandlungsmöglichkeiten und auch Medikamente zur Behandlung von zystischer Fibrose. Es müsse zwar mit einer Verschlechterung ihres persönlichen Zustandes gerechnet werden, die jedoch nicht unwiederbringlich und derart gravierend sei, dass eine Abschiebung unzulässig wäre.

9        Da in Bezug auf alle Revisionswerberinnen eine spruchgemäß identische Entscheidung ergehe, könne auch aus dem Titel des Familienverfahrens im Inland kein anderslautendes Erkenntnis erlassen werden.

10       Mit Beschluss vom 8. Juni 2020, E 1872-1873/2019-14, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde der Revisionswerberinnen ab und trat die Behandlung dieser Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

11       Gegen das Erkenntnis des BVwG richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, welche das BVwG unter Anschluss der Akten vorlegte.

12       Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13       Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit ua. vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, nach welcher auch die reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine schwerwiegende Erkrankung die Zuerkennung von subsidiärem Schutz begründen könne, auch wenn diese Gefahr nicht auf das Verhalten eines Akteurs zurückzuführen oder die Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt verursacht worden sei (Verweis ua. auf VwGH 21.5.2019, Ro 2019/19/0006).

14       Die Revision ist aus den vorgebrachten Gründen zulässig und auch begründet.

15       Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem vom BVwG zitierten Erkenntnis vom 6. November 2018, Ra 2018/01/0106, die Frage, ob § 8 Abs. 1 AsylG 2005 einer dem Unionsrecht (im Sinn der zu Art. 15 Statusrichtlinie ergangenen Rechtsprechung des EuGH) Genüge tuenden Auslegung zugänglich ist, ausdrücklich dahingestellt gelassen (Rn. 60 der Entscheidungsgründe). In seinem Erkenntnis vom 21. Mai 2019, Ro 2019/19/0006, hat der Verwaltungsgerichtshof dargelegt, dass eine Interpretation, mit der die Voraussetzungen der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 mit dem in der Judikatur des EuGH dargelegten Verständnis des subsidiären Schutzes nach der Statusrichtlinie in Übereinstimmung gebracht würde, unter Beachtung des klaren Wortlautes des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 sowie der Entstehungsgeschichte und der systematischen Stellung der Norm die Grenzen der Auslegung nach den innerstaatlichen Auslegungsregeln überschreiten und zu einer - unionsrechtlich nicht geforderten - Auslegung contra legem führen würde. Infolge dessen ist an der bisherigen Rechtsprechung, wonach eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat - auch wenn diese Gefahr nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird - die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 begründen kann, festzuhalten. Es wird insoweit gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG des Näheren auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

16       Das BVwG hat daher, indem es der Sache nach davon ausgegangen ist, dass die gesundheitlichen Probleme der Zweitrevisionswerberin bzw. der Zugang zu ihrer Behandlung im Herkunftsstaat die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten von vornherein nicht begründen könnten, seine Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet (vgl. VwGH 27.5.2020, Ra 2020/19/0058; 9.12.2020, Ra 2020/19/0017; vgl. auch VwGH 30.10.2019, Ra 2019/14/0436).

17       Im fortzusetzenden Verfahren wird das BVwG zu beachten haben, dass nach den beiden im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation zur Behandlung von zystischer Fibrose in Georgien die (ambulanten) Behandlungskosten für Kinder unter 18 Jahren vom Staat übernommen werden, die Zweitrevisionswerberin dieses Alter nunmehr aber überschritten hat (vgl. zum Kriterium des Zugangs zu einer angemessenen Behandlung einer schwerkranken Person unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK neuerlich VwGH Ro 2019/19/0006, unter Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Paposhvili/Belgien, 41.738/10).

18       Das angefochtene Erkenntnis war daher, soweit es die Zweitrevisionswerberin betrifft, zur Gänze - die rechtlich auf der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten aufbauenden Aussprüche verlieren ihre Grundlage - wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

19       Bei der Erstrevisionswerberin handelt es sich um einen Elternteil der - im maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung (vgl. VwGH 24.10.2018, Ra 2018/14/0040) - minderjährigen Zweitrevisionswerberin und somit um eine Familienangehörige im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005. Die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses in Bezug auf die Zweitrevisionswerberin schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auf die Erstrevisionswerberin durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidung. Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben (vgl. VwGH 30.10.2019, Ra 2019/14/0436; 10.4.2020, Ra 2019/19/0415, mwN).

20       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 30. April 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190269.L00

Im RIS seit

31.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.06.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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