TE Vwgh Erkenntnis 2021/5/7 Ra 2020/22/0002

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Veröffentlicht am 07.05.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §37
MRK Art8
NAG 2005 §21a Abs4 Z2
NAG 2005 §21a Abs5 Z2
NAG 2005 §47 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGG §63
VwGG §63 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Schwarz und Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 8. November 2019, Zlen. 1. VGW-151/011/10601/2019/E-3 und 2. VGW-151/011/10602/2019/E, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Parteien: 1. G G, und 2. G G, beide vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Ein Kostenersatz findet nicht statt.

Begründung

1        Zur Vorgeschichte wird auf das hg. Erkenntnis vom 25. Juli 2019, Ra 2018/22/0190, verwiesen.

2        Mit diesem Erkenntnis hob der Verwaltungsgerichtshof das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien, mit welchem den Mitbeteiligten Aufenthaltstitel gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) erteilt und gleichzeitig hinsichtlich der Zweitmitbeteiligten ein „Aufschub gemäß § 14a Abs. 2 NAG“ verfügt worden war, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf. Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen aus, das Verwaltungsgericht habe keine Feststellungen und keine Beurteilung zur Frage getroffen, ob im Hinblick auf den von der Zweitmitbeteiligten vorgebrachten Analphabetismus die Erbringung des Nachweises von Deutschkenntnissen als zumutbar gewertet werde und daher der Ausnahmefall des § 21a Abs. 4 Z 2 NAG nicht gegeben sei. Weiters sei zu bemängeln, dass das Erkenntnis keine Feststellungen im Hinblick auf das Privat- und Familienleben der Mitbeteiligten enthalte, die eine Beurteilung, ob gemäß § 21a Abs. 5 Z 2 NAG (§ 11 Abs. 3) vom Erfordernis des Nachweises von Deutschkenntnissen abzusehen wäre, ermöglichen. Darüber hinaus lasse sich weder dem kursorisch dargestellten Verfahrensgang noch den rechtlichen Erwägungen entnehmen, dass sich das Verwaltungsgericht mit den übrigen entscheidungsrelevanten Umständen - insbesondere dem Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen - auseinandergesetzt hätte, sodass sich auch die (fälschlicherweise als Sachverhaltsfeststellung bezeichnete) rechtliche Schlussfolgerung, wonach die allgemeinen Voraussetzungen des 1. Teiles des NAG erfüllt seien, einer nachprüfenden Kontrolle entziehe.

3        Im fortgesetzten Verfahren erteilte das Verwaltungsgericht den Mitbeteiligten erneut die beantragten Aufenthaltstitel nach § 47 Abs. 2 NAG für die Dauer eines Jahres ab Rechtskraft des Erkenntnisses und verfügte gleichzeitig gemäß „§ 14a Abs. 2 NAG“, dass die Zweitmitbeteiligte „einen Aufschub von zwei Jahren für den Nachweis der Deutschkenntnisse auf A1-Niveau bewilligt“ erhalte. Weiters sprach das Verwaltungsgericht aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.

4        Begründend führte das Verwaltungsgericht nach einer Aufzählung von im Verfahren vorgelegten Urkunden - soweit für den vorliegenden Fall relevant - im Wesentlichen aus (Fehler im Original):

„Wie bereits im ersten Verfahrensgang ist dazu die Feststellung zu treffen, dass die vorgelegten Unterlagen den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 11 Abs. 1 und 2 NAG sowie den besonderen Erteilungsvoraussetzungen nach § 47 NAG genügen. Das Haushaltseinkommen liegt in unveränderter und ausreichender Höhe vor, wie bereits im 1. Verfahrensgang festgestellt, entspricht das Haushaltseinkommen den aus § 293 ASVG erfließenden Richtlinien für eine Familie mit einem Kind. [...]

In Bezug auf die Deutschkenntnisse [der Erstmitbeteiligten] wird auch im zweiten Verfahrensgang die gutächterliche Beurteilung des Vertrauensarztes der österreichischen Botschaft als auch des Psychologen Dr. Bugram aus Anlass der öffentlichen mündlichen Verhandlung vom 24.01.2018 zugrunde gelegt. Aufgrund dessen Einschätzung unter Würdigung der vorliegenden vertrauensärztlichen Bescheinigung vom 01.08.2017, dass bei der 54-jährigen [Zweitmitbeteiligten] Analphabetismus vorliege und es sich beim Analphabetismus um kulturell, bildungs- oder psychisch bedingte individuelle Defizite im Lesen oder Schreiben bis hin zu völligem Unvermögen dieser Disziplinen handle, wurde zur allfälligen späteren Überprüfung familiären und sozialen Zusammenhalt, aber auch vor allem das Alter des Kindes, auf aktuelle Unzumutbarkeit und somit Aufschub des Nachweis der Deutschkenntnisse erkannt. [...]“

5        Weiters führte das Verwaltungsgericht aus, dass „gegenwärtig - selbst unter der Einbeziehung der am 23.10.2019 erfolgten Urkundenvorlage, beinhaltend einen aktuellen Kursbesuch der [Zweitmitbeteiligten] - aufgrund des bestehenden Analphabetismus das für die Erreichung des Aufenthaltstitels grundlegend erforderlichen Niveau dt. Sprache nicht erreicht werden“ könne. Jedoch könne „zufolge des Gutachters im Laufe von zwei Jahren dessen Erreichung zugemutet werden“.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des Landeshauptmannes von Wien. In der Begründung zur Zulässigkeit führte der Revisionswerber ua. aus, das Verwaltungsgericht habe im angefochtenen Erkenntnis wiederum keine Feststellungen und keine Beurteilung zur Frage getroffen, ob im Hinblick auf den von der Zweitmitbeteiligten vorgebrachten Analphabetismus die Erbringung des Nachweises von Deutschkenntnissen als zumutbar erachtet werden könne und daher der Ausnahmefall des § 21a Abs. 4 Z 2 NAG nicht gegeben sei. Auch enthalte das Erkenntnis keine Feststellungen im Hinblick auf das Privat- und Familienleben der Mitbeteiligten, sodass keine Beurteilung dahingehend erfolgt sei, ob gemäß § 21a Abs. 5 Z 2 NAG iSd Art. 8 EMRK vom Erfordernis des Nachweises der Deutschkenntnisse abzusehen wäre.

7        Hierüber hat der Verwaltungsgerichtshof - nach Durchführung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch die Mitbeteiligten - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist im Hinblick auf das Vorbringen in der Zulässigkeitsbegründung der Revision zulässig und auch begründet, weil das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.

9        Gemäß § 63 Abs. 1 VwGG sind, wenn der Verwaltungsgerichtshof einer Revision stattgegeben hat, die Verwaltungsgerichte und die Verwaltungsbehörden verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen.

10       Erfolgt die Aufhebung eines Erkenntnisses wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, weil es das Verwaltungsgericht unterlassen hat, die für die Beurteilung des Rechtsfalls wesentlichen Sachverhaltsermittlungen zu treffen, so besteht die Herstellung des der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustands im Sinn des § 63 VwGG darin, dass das Verwaltungsgericht nunmehr jene Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durchführt, die eine erschöpfende Beurteilung des maßgebenden Sachverhalts ermöglichen (vgl. VwGH 7.5.2020, Ra 2019/03/0091, mwN).

11       Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht auch in dem im zweiten Rechtsgang ergangenen Erkenntnis keine Feststellungen und keine Beurteilung zur Frage getroffen, ob im vorliegenden Fall der Ausnahmefall des § 21a Abs. 4 Z 2 NAG gegeben sei oder nicht. Lediglich den Ausführungen des Verwaltungsgerichtes, wonach von einer „aktuellen Unzumutbarkeit“ für die Zweitmitbeteiligte zum Erwerb von Deutschkenntnissen ausgegangen werde und der Spruchformulierung, wonach ihr „gemäß § 14a Abs. 2 NAG“ ein Aufschub von zwei Jahren für den Nachweis der Deutschkenntnisse auf A1-Niveau bewilligt werde, lässt sich ableiten, dass es nicht von einer Unzumutbarkeit gemäß § 21a Abs. 4 NAG ausgegangen ist. Zu dem vom Verwaltungsgericht gewährten Aufschub genügt der Hinweis, dass der im Spruch angeführte § 14a NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 38/2011, nach der Änderung mit BGBl. I Nr. 68/2017 iVm BGBl. I Nr. 145/2017 seit dem 1. Oktober 2017 nicht mehr dem Rechtsbestand angehört und es sich bei den verfahrensgegenständlichen Anträgen um Erstanträge handelt.

12       Das Verwaltungsgericht hat weiterhin keine Feststellungen im Hinblick auf das Privat- und Familienleben der Mitbeteiligten getroffen, die eine Beurteilung, ob gemäß § 21a Abs. 5 Z 2 NAG (§ 11 Abs. 3) vom Erfordernis des Nachweises von Deutschkenntnissen abzusehen wäre, ermöglichen. Das Verwaltungsgericht wiederholte im Wesentlichen lediglich seine Ausführungen aus dem im ersten Rechtsgang ergangenen Erkenntnis.

13       Entgegen dem klaren Gesetzeswortlaut und der dazu ergangenen unmissverständlichen Rechtsprechung hat das Verwaltungsgericht nicht jene Feststellungen und Beurteilungen gemäß dem hg. Erkenntnis vom 25. Juli 2019, Ra 2018/22/0190, getroffen, deren Unterlassen im ersten Rechtsgang zur Aufhebung des Erkenntnisses geführt hat.

14       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

15       Bei diesem Ergebnis kommt ein Kostenzuspruch an die Mitbeteiligten nicht in Betracht.

Wien, am 7. Mai 2021

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Verfahrensmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220002.L00

Im RIS seit

03.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

22.07.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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