TE Vwgh Erkenntnis 2021/5/7 Ra 2020/18/0515

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Veröffentlicht am 07.05.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A Z, vertreten durch Mag. Robert Schwarz, Rechtsanwalt in 3950 Gmünd, Stadtplatz 28, dieser vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. November 2020, W265 2191187-1/15E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung (Abweisung der Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der darauf aufbauenden Spruchpunkte) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 27. Februar 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid vom 2. März 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4        Begründend führte das BVwG - soweit für das Revisionsverfahren relevant - zur Nichtgewährung subsidiären Schutzes zusammengefasst aus, dass eine Rückkehr in die Heimatprovinz des Revisionswerbers aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfindenden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten nicht möglich sei. Dem Revisionswerber stehe jedoch eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung. Der Revisionswerber sei trotz seiner gesundheitlichen Beschwerden - das BVwG stellte fest, der Revisionswerber leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Somatisierungen in Form einer therapieresistenten Gastritis und atypischer Thoraxschmerzen sowie an einer psychogenen Reaktion auf seine Lebensumstände - arbeitsfähig und könne sich seine Existenz mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern sowie eine einfache Unterkunft finden.

5        Dagegen wendet sich die vorliegende Revision, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache im Wesentlichen geltend macht, das BVwG sei im Zusammenhang mit der Entscheidung über den subsidiären Schutz von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Amtswegigkeit des Ermittlungsverfahrens und zur Begründungspflicht verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen abgewichen, und habe es verabsäumt, sich mit den persönlichen Umständen des Revisionswerbers, vor dem Hintergrund näher genannter aktueller Länderberichte auseinanderzusetzen und entsprechende Feststellungen zu treffen.

6        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig und begründet.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach erkannt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 15.9.2020, Ra 2020/18/0152, mwN).

10       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat (auch) das BVwG seiner Entscheidung die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (vgl. etwa VwGH 21.7.2020, Ra 2020/18/0088, mwN). Eine Verletzung dieser Vorgabe stellt einen Verfahrensmangel dar (vgl. VwGH 26.2.2020, Ra 2020/20/0049, mwN).

11       Die Revision zeigt zutreffend auf, dass sich das BVwG bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative maßgeblich auf Länderinformationen vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie stützte und weder Feststellungen zu deren Auswirkungen in Mazar-e Sharif noch Feststellungen zur Verfügbarkeit der für die Behandlung der Erkrankung des Revisionswerbers notwendigen Medikamente traf.

12       Insofern ist nicht nachvollziehbar, worauf das BVwG seine Einschätzung, wonach dem Revisionswerber als innerstaatliche Fluchtalternative die Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung stehe, „wo es ihm auch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Folgen der aktuellen COVID-19-Pandemie möglich [sei], ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können“, stützt. Von welchen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie das BVwG vorliegend ausging, legt es nicht dar. Eine fallbezogene Auseinandersetzung mit der Rückkehrsituation des Revisionswerbers ist dem Erkenntnis nicht zu entnehmen (vgl. dazu auch VwGH 4.1.2021, Ra 2020/18/0251, mwN).

13       Das BVwG hätte sich - worauf die Revision unter Zitierung näher genannter Berichte hinweist - mit der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative unter Berücksichtigung von aktuellen Berichten - die es zwar in das Verfahren eingeführt, jedoch nicht den Feststellungen im Erkenntnis zugrunde gelegt hat - zur im Entscheidungszeitpunkt aktuellen Lage in Mazar-e Sharif sowie der persönlichen Umstände des Revisionswerbers auseinandersetzen müssen (vgl. VwGH 18.3.2021, Ra 2020/18/0496, mwN).

14       Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensmängel zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis daher in Bezug auf die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15       Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

16       Der Kostenausspruch gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 7. Mai 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180515.L00

Im RIS seit

31.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.06.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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