TE Vwgh Beschluss 2021/5/11 Ra 2021/19/0135

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Veröffentlicht am 11.05.2021
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z9
B-VG Art133 Abs4
MRK Art3
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des A H, in O, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2021, W276 2182747-1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 27. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, in Afghanistan gezwungen worden zu sein, als Tanzjunge aufzutreten. Nach seiner Befreiung habe ihm sein Onkel gedroht, ihn umzubringen, weil er Schande über die Familie gebracht habe.

2        Mit Bescheid vom 30. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß
§ 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Begründend führte es - soweit hier maßgeblich - zur Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten aus, dass die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz des Revisionswerbers in Afghanistan (Ghazni) nach wie vor volatil sei. Es stehe ihm jedoch eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif offen. Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung überwiege das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts des Revisionswerbers sein persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8        Die Revision, die sich ausdrücklich nicht gegen die Abweisung der Beschwerde betreffend die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet, bringt zu ihrer Zulässigkeit in Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vor, dass die Entscheidung des BVwG an wesentlichen Begründungs- und Feststellungsmängeln leide. Eine Prüfung der Zumutbarkeit der als innerstaatliche Fluchtalternative angenommenen Städte Herat und Mazar-e Sharif sei daher nicht möglich. Aus den getroffenen Länderfeststellungen lasse sich nicht ableiten, dass die sozio-ökonomischen Grundbedürfnisse des Revisionswerbers bei einer Rückkehr dauerhaft insoweit gedeckt wären, dass er nicht gezwungen sei, ein Leben in unbilligen Härten führen zu müssen. Vielmehr würden Inhalte des vom BVwG verwerteten Berichtsmaterials eine Gefährdung der sozialen und wirtschaftlichen Existenz des Revisionswerbers in den beiden Städten indizieren. Das BVwG habe es zudem unterlassen, die Ansiedelung des Revisionswerbers in Herat und Mazar-e Sharif im Hinblick auf die dort herrschende Sicherheitslage zu prüfen, welche angesichts der Berichtslage problematisch sei. In welchem Ausmaß der Revisionswerber finanzielle Hilfsleistungen von in Afghanistan lebenden Verwandten erwarten oder mit welchen konkreten Unterstützungsleistungen der Rückkehrhilfe der Revisionswerber rechnen werde können, lasse das BVwG im Dunkeln. Die beim Revisionswerber vorliegenden individuellen Umstände wären für sich allein genommen nicht ausreichend, um seine Selbsterhaltungsfähigkeit zu begründen. Zudem habe das BVwG das Recht auf Parteiengehör verletzt, weil es dem Revisionswerber zu einer ACCORD-Anfragebeantwortung zu Mazar-e Sharif schriftliches Parteiengehör hätte einräumen müssen.

9        Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. etwa VwGH 20.8.2020, Ra 2020/19/0239, mwN).

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung weiters dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. erneut VwGH Ra 2020/19/0239, mwN).

11       Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes reicht eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen (vgl. etwa VwGH 22.9.2020, Ra 2019/19/0414, mwN).

12       Entgegen dem Revisionsvorbringen traf das BVwG im vorliegenden Fall - auf der Grundlage einschlägiger Länderberichte - Feststellungen zur Sicherheits- und zur Versorgungslage in den Städten Herat und Mazar-e Sharif. Es berücksichtigte sowohl die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 als auch die EASO-Leitlinien zu Afghanistan vom Dezember 2020 als Quellen und setzte sich mit Anfragebeantwortungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Herat-Stadt und Mazar-e Sharif auseinander. Vor diesem Hintergrund ging das BVwG davon aus, dass dem jungen, gesunden und arbeitsfähigen Revisionswerber, der acht Jahre lang die Schule besucht habe und über mehrjährige Berufserfahrung in Afghanistan verfüge, Dari spreche, den überwiegenden Teil seines Lebens im Herkunftsstaat verbracht habe und im Falle seiner Rückkehr auf finanzielle Unterstützung von Familienangehörigen zurückgreifen sowie Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen könne, eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif offenstehe.

Davon ausgehend zeigt die Revision nicht auf, dass diese Beurteilung fallbezogen mit einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Rechtswidrigkeit belastet wäre (zu ähnlichen Sachverhaltskonstellationen vgl. etwa VwGH 27.4.2020, Ra 2019/19/0262, mwN; zu schiitischen Hazara VwGH 27.4.2020, Ra 2019/19/0429, mwN).

13       Da das BVwG dem Revisionswerber im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die Möglichkeit einräumte, Einsicht in die in das Verfahren eingebrachten Länderberichte zu nehmen und eine Stellungnahme dazu abzugeben, geht auch das Vorbringen der Revision, das BVwG habe den Revisionswerber in seinem Recht auf Parteiengehör verletzt, ins Leere.

14       Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit schließlich vor, das BVwG hätte bei seiner im Rahmen der Rückkehrentscheidung vorgenommenen Interessenabwägung berücksichtigen müssen, dass den Revisionswerber im Fall einer Rückkehr nach Herat oder Mazar-e Sharif Lebensverhältnisse erwarten würden, die zu einer „besonderen Schutzwürdigkeit des Privatlebens“ führen würden. So hätte der Revisionswerber mit außerordentlichen Schwierigkeiten beim Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz in diesen Städten zu rechnen. Das BVwG habe es zudem unterlassen, die Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers von fünf Jahren sowie die Dauer des Asylverfahrens von über fünf Jahren in die Interessenabwägung einzubeziehen.

15       Dem ist entgegenzuhalten, dass das BVwG - anders als die Revision nahelegt - zu dem Schluss gelangte, dass der Revisionswerber im Fall der Rückkehr nach Herat-Stadt oder Mazar-e Sharif in der Lage sein werde, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unangemessene Härten zu führen, sodass eine besondere Berücksichtigung der von der Revision geltend gemachten außergewöhnlichen Schwierigkeiten unter dem Aspekt des Privatlebens nicht geboten war (vgl. VwGH 3.12.2020, Ra 2020/19/0108). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - keine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. etwa VwGH 2.7.2020, Ra 2020/19/0192, mwN).

16       Das BVwG berücksichtigte im vorliegenden Fall auch die Dauer des Aufenthalts des Revisionswerbers im Inland von etwas über fünf Jahren, bezog allerdings zu Recht in seine Erwägungen mit ein, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn - wie hier - integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 3.3.2021, Ra 2021/19/0023, mwN).

17       Soweit die Revision die lange Verfahrensdauer im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG ins Treffen führt, ist darauf zu verweisen, dass es sich dabei nur um einen von mehreren Aspekten handelt, der bei der Interessenabwägung des Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen ist (vgl. VwGH 23.2.2021, Ra 2020/19/0406, mwN). Dass dieser Umstand fallbezogen entscheidend ins Gewicht fiele, vermag die Revision nicht darzulegen.

18       In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 11. Mai 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190135.L00

Im RIS seit

04.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.06.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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