Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Pof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Kodek, die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Pertmayr sowie MMag. Sloboda als weitere Richter in der Familienrechtssache des Antragstellers M*****, geboren ***** 1998, *****, vertreten durch Mag. Thomas Kaumberger, Rechtsanwalt in Pressbaum, gegen den Antragsgegner H*****, vertreten durch Dr. Helene Klaar, Dr. Norbert Marschall, Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Kindesunterhalts, über den Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom 28. August 2020, GZ 20 R 131/20k, 20 R 143/20z-23, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Korneuburg vom 7. April 2020, GZ 21 Fam 62/19w-17, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Familienrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Verfahrens dritter Instanz sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
[1] Der Antragsgegner ist der Vater des (volljährigen) Antragstellers. Dieser absolvierte im Jahr 2017 die Matura an der Höheren Bundeslehr- und Forschungsanstalt für Gartenbau in Schönbrunn. Danach studierte er ab Herbst 2017 bis Ende September 2018 an einer Fachhochschule Biotechnische Verfahren. Seit Ende September 2018 betreibt er sein Studium nicht weiter, sondern befindet sich „in der Gründungsphase“ eines Unternehmens, das sich mit der künstlichen Massenvermehrung von gartenbaulichen Spezialkulturen im Labor für den Liebhaber- und Spezialistenmarkt beschäftigen soll. Der Vater leistet seit der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts mit dem Antragsteller im September 2019 keinen Geldunterhalt für den Antragsteller.
[2] Der Antragsteller macht einen Geldunterhaltsanspruch von 750 EUR monatlich ab 1. 10. 2019 geltend. Mit Schriftsatz vom 18. 3. 2020 beantragte er die Leistung eines vorläufigen Unterhalts gemäß § 382 Abs 1 Z 8 lit a EO von 165,10 EUR. Dazu brachte er zusammengefasst vor, an der Umsetzung seiner Unternehmensidee zu arbeiten und diverse Umsetzungsschritte (Errichtung eines Labors, eines Gewächshauses und einer Website) gesetzt zu haben, aber noch diverse Informationen einholen, Konzepte und den Businessplan fertig stellen und Investitionen tätigen zu müssen. Er benötige weitere Zeit für den Unternehmensaufbau.
[3] Der Antragsgegner hielt dem entgegen, die für den Unternehmensaufbau zuzubilligende Dauer sei zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits überschritten gewesen; es mangle dem Antragsteller auch an der notwendigen Zielstrebigkeit. Dieser verfüge aufgrund des Abschlusses einer berufsbildenden höheren Schule auch bereits über eine abgeschlossene Berufsausbildung.
[4] Das Erstgericht setzte die Unterhaltspflicht des Antragsgegners unter Abweisung des Mehrbegehrens nach der „Prozentsatzmethode“ mit 625 EUR monatlich für den Zeitraum 1. 10. 2019 bis 29. 2. 2020 und mit 465 EUR ab 1. 3. 2020 fest und verpflichtete den Antragsgegner zur Nachzahlung der bereits aufgelaufenen Rückstände abzüglich 458,87 EUR für erbrachte Naturalunterhaltsleistungen. Darüber hinaus verpflichtete es den Antragsgegner mit einstweiliger Verfügung nach § 382 Abs 1 Z 8 lit a EO zur Leistung eines einstweiligen Unterhalts von 165,10 EUR monatlich ab 18. 3. 2020 bis zur rechtskräftigen Beendigung des Unterhaltsfestsetzungsverfahrens, längstens bis zur Selbsterhaltungsfähigkeit des Antragstellers.
[5] Das Rekursgericht änderte die angefochtene Entscheidung über Rekurs des Antragsgegners im Sinn der gänzlichen Abweisung des Unterhaltsantrags und des Antrags auf einstweiligen Unterhalt nach § 382 Abs 1 Z 8 lit a EO ab und ließ den Revisionsrekurs zu, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur einzuräumenden Anlaufphase bei Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit durch den Unterhaltsberechtigten nach Abschluss einer Schulausbildung (HTL) und Abbruch eines Studiums vorliege.
[6] Rechtlich begründete es die Antragsabweisung damit, dass der Antragsteller nach einer für den Unternehmensaufbau zuzugestehenden Anlaufphase spätestens ab Oktober 2019 verpflichtet gewesen wäre, einer zumutbaren unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen oder sein Studium fortzusetzen, weil er bis dahin und bis zum Entscheidungszeitraum nicht über die „Gründungsphase“ hinaus gekommen sei. Dabei sei ergänzend zu berücksichtigen, dass er über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfüge. Er sei daher ab Oktober 2019 fiktiv selbsterhaltungsfähig.
[7] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Antragstellers, mit dem er die Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichts beantragt; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag. Er macht zusammengefasst geltend, das Rekursgericht habe die Rechtsprechung zur Gewährung einer angemessenen Frist zur Unternehmensgründung unrichtig angewendet.
[8] Der Antragsgegner beantragt, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise, ihm nicht Folge zu geben. Er steht auf dem Standpunkt, der Antragsteller sei fiktiv oder tatsächlich selbsterhaltungsfähig.
Rechtliche Beurteilung
[9] Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht angeführten Grund zulässig. Er ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[10] 1.1. Der Unterhaltsanspruch eines Kindes außerhalb des Pflichtschulalters erlischt grundsätzlich erst dann, wenn das Kind nach Beendigung (Abschluss oder Abbruch) der Schulausbildung eine zielstrebige Berufsausbildung oder zumutbare Erwerbstätigkeit nach Abschluss der Berufsausbildung unterlässt (RS0128691) und diese Unterlassung als Verschulden des Unterhaltsberechtigten zu werten ist (vgl RS0047621 [T2]; RS0047605 [T11]; vgl RS0114658). Die Ablegung der Reifeprüfung allein bedeutet noch keine bestimmte Berufsausbildung (RS0047527), wobei auch bei Absolventen einer berufsbildenden höheren Schule (BHS) ein an die Reifeprüfung anschließendes Studium nicht als Zweitausbildung gilt (RS0047625 [T2, T3]; 8 Ob 160/18i).
[11] Gelangt das Kind innerhalb angemessener Frist zur Einsicht, dass es bei der Wahl des Studiums oder der sonstigen Berufsausbildung einem Irrtum unterlegen ist, führt dies noch nicht zum Erlöschen seines Unterhaltsanspruchs (RS0047679), weil dem Kind auch für die endgültige Wahl des Studiums oder der Berufsausbildung eine Überlegungs- und Korrekturfrist zuzubilligen ist (RS0047679 [T2, T4]).
[12] 1.2. Auch nach Beendigung der Berufsausbildung oder dem Abbruch eines bis dahin betriebenen Studiums (2 Ob 7/15s) ist dem Unterhaltsberechtigten noch ein angemessener Zeitraum für die zielstrebige Arbeitsplatzsuche einzuräumen (RS0047621 [T3]; RS0128691 [T1]). Für die Stellensuche wurde ein Zeitraum von etwa sechs Monaten als angemessen erachtet (9 Ob 24/14s; 3 Ob 270/97w).
[13] 1.3. Einer zielstrebigen Arbeitssuche ist die Aufnahme einer nicht von vornherein zum Scheitern verurteilten selbstständigen Tätigkeit gleich zu halten. Erzielt der Unterhaltsberechtigte in der Anfangsphase dieser Tätigkeit kein ausreichendes Einkommen, ist er daher ebenso wenig wie bei einer Arbeitsplatzsuche als selbsterhaltungsfähig anzusehen (2 Ob 7/15s). Die Unterhaltspflicht kann in einem solchen Fall erst nach Ablauf einer angemessenen Frist für das Erzielen eigener Einkünfte erlöschen (2 Ob 7/15s).
[14] 1.4. Die Rechtsprechung gesteht auch unterhaltspflichtigen Personen bei Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit eine gewisse Anlauffrist zu, innerhalb derer sich das Unternehmen konsolidieren soll (RS0047528; 8 Ob 59/13d). Während einer solchen Anlaufphase, deren Länge jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalls, vor allem von der Art des Betriebs, abhängig ist (8 Ob 59/13d unter Hinweis auf RS0047528; RS0087653), muss sogar ein minderjähriges Kind eine vorübergehende Reduktion seiner Bedürfnisse in Kauf nehmen (RS0047528). Die Rechtsprechung beurteilte eine Anlaufdauer von rund zwei Jahren (4 Ob 91/10a; 4 Ob 100/08x; 6 Ob 228/00y; RS0047528 [T2]) im Einzelfall als angemessen.
[15] Anhaltspunkte dafür, dass der Aufbau einer selbstständigen Tätigkeit durch ein unterhaltsberechtigtes Kind innerhalb kürzerer Zeit zu bewerkstelligen ist, als dies bei unterhaltspflichtigen Personen der Fall ist, sind nicht ersichtlich.
[16] 1.5. Gleich dem in einer Berufsausbildung befindlichen oder mit der Arbeitsplatzsuche beschäftigten Kind (RS0047621 [T3]; RS0128691 [T1]) muss auch ein Kind, das eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufnimmt, den Aufbau einer solchen Tätigkeit zielstrebig betreiben.
[17] 2.1. Aus der Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt sich, dass weder der Abschluss der berufsbildenden höheren Schule noch die Beendigung des Fachhochschulstudiums des Antragstellers nach einem Studienjahr dessen Unterhaltsanspruch grundsätzlich entgegen stehen, wobei vielmehr hervorzuheben ist, dass die in der berufsbildenden höheren Schule erworbenen gartenbaulichen Fachkenntnisse offenkundig für die gewählte selbstständige Tätigkeit verwertbar sind.
[18] 2.2. Die getroffenen Feststellungen reichen aber nicht aus, um das Bestehen eines Unterhaltsanspruchs verlässlich beurteilen zu können. Es fehlt an Tatsachensubstrat, um beurteilen zu können, ob der Antragsteller den Aufbau einer selbstständigen Tätigkeit zielstrebig verfolgt. So steht nicht fest, ob er bereits eine operative Tätigkeit in der Produktion oder dem Vertrieb von Pflanzenkulturen aufgenommen hat, wofür sich im Akt Anhaltspunkte finden. Es fehlt auch an konkreten Feststellungen zum Umfang der bereits vorgenommenen Vorbereitungstätigkeiten innerhalb der Zeitspanne nach Studienabbruch, zu den noch erforderlichen Aufbautätigkeiten und zu den Erfolgsaussichten der vom Antragsteller betriebenen Unternehmensgründung.
[19] Ohne präzise Feststellungen zu diesen Fragen kann nicht beantwortet werden, ob der Antragsteller den Aufbau eines Unternehmens zielstrebig verfolgt(e) und ob dieses „nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt“ ist (war). Damit kann das Bestehen eines Unterhaltsanspruchs des Antragstellers ab 1. 10. 2019 derzeit nicht beurteilt werden.
[20] Dies macht die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und die Zurückverweisung der Familienrechtssache an das Erstgericht zur Verfahrensergänzung erforderlich.
[21] 3. Der Antragsgegner ficht den Beschluss des Rekursgerichts zur Gänze, sohin auch im Umfang der Entscheidung über den Antrag auf einstweiligen Unterhalt nach § 382 Abs 1 Z 8 lit a EO an.
[22] Im Verfahren über einstweiligen Unterhalt nach § 382 Abs 1 Z 8 lit a EO muss der Antragsteller das Bestehen des Anspruchs und die Verletzung der Unterhaltspflicht bescheinigen (RS0114824 [T7]). Da die Vorinstanzen keine (über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinausgehenden) Tatsachen als bescheinigt annahmen, fehlt auch für die Entscheidung über den Antrag auf einstweiligen Unterhalt nach § 382 Abs 1 Z 8 lit a EO eine ausreichende Tatsachengrundlage.
[23] 4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 78 Abs 1 AußStrG (vgl RS0123011).
Textnummer
E131682European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0060OB00229.20Z.0415.000Im RIS seit
31.05.2021Zuletzt aktualisiert am
31.05.2021