Entscheidungsdatum
16.02.2021Index
41/02 Passrecht FremdenrechtNorm
NAG §11 Abs2 Z4Text
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seinen Richter Dr. Köhler über die Beschwerde der A. B. (geb.: 1983, StA: Tunesien) gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien, Magistratsabteilung 35, vom 23.07.2020, Zl. ..., mit welchem der Antrag vom 19.04.2019 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG und § 21 Abs. 1 und 6 NAG abgewiesen wurde, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.01.2021 und 25.01.2021 und Verkündung zu Recht erkannt:
I. Der Beschwerde wird gemäß §§ 46, 11, 20 und 21 NAG stattgegeben, der angefochtene Bescheid wird aufgehoben und der Beschwerdeführerin wird ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gültig bis 02.10.2021 erteilt.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe
Verfahrensgang
Die Beschwerdeführerin A. B. – geboren am ... 1983, Staatsangehörige von Tunesien – stellte einen Antrag auf Erteilung einer „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG am 19.04.2019, eingebracht bei der österreichischen Botschaft in Tunesien, eingelangt bei der belangten Behörde am 18.06.2019. Sie stellte einen Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG am 22.11.2019.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 23.07.2020 wies die belangte Behörde diesen Antrag gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG sowie § 21 Abs. 1 iVm Abs. 6 NAG ab.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die frist- und formgerechte Beschwerde.
Die belangte Behörde verzichtete auf eine Beschwerdevorentscheidung und legte die Beschwerde mit aktuellen und früheren Akten dem Verwaltungsgericht vor.
Mit Schreiben vom 19.11.2020 ergingen die Ladungen zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht. Mit diesem Schreiben wurde die Beschwerdeführerin auf die gesetzliche Mitwirkungspflicht hingewiesen und es wurden bestimmte Nachweise/Unterlagen angefordert.
Das Verwaltungsgericht führte am 13.01.2021 eine mündliche Verhandlung durch, in der wegen des Nichterscheinens des Dolmetschers nur eine Erörterung der Beschwerdesache (umfangreich vorgelegte Unterlagen) mit dem Beschwerdevertreter vorgenommen werden konnte. Es wurde die Notwendigkeit eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch oder Französisch bekräftigt.
Das Verwaltungsgericht führte am 25.01.2021 eine mündliche Verhandlung durch, in der die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann einvernommen wurden. Es wurde sogleich das Erkenntnis verkündet.
Mit Schreiben vom 08.02.2021 beantragte die belangte Behörde fristgerecht eine Langausfertigung gemäß § 29 VwGVG.
Feststellungen
Die Beschwerdeführerin stellte den Antrag auf Erteilung einer „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG am 19.04.2019 bei der österreichischen Botschaft in Tunesien. Sie stellte einen Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG am 22.11.2019. Zuvor hatte sie schon einmal eine solche Aufenthaltsberechtigung beantragt (Antrag vom 15.11.2016, abgewiesen am 04.10.2017 wegen unzureichendem Lebensunterhalt).
Der Ehemann der Beschwerdeführerin ist C. B., geboren am ...1974, Staatsangehöriger von Tunesien; er verfügt über einen „Daueraufenthalt – EU“ (seit 16.04.2015; zuvor verfügte er unter anderem über Niederlassungsnachweise; er ist seit 2003 in Österreich aufhältig). Die Eheschließung erfolgte am 12.07.2016 in D., Tunesien.
Der Sohn der Beschwerdeführerin – E. B., geboren am ...2019 in Wien, Staatsangehöriger von Tunesien – stellte am 23.01.2020 im Inland einen Antrag auf Erteilung einer „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG.
Die Beschwerdeführerin verfügte über ein Visum C, gültig für (jeweils) 90 Tage von 20.03.2018 bis 20.05.2018, von 20.05.2018 bis 20.07.2018 sowie von 13.07.2018 bis 08.01.2019, 01.04.2019 bis 07.09.2019, von 16.09.2019 bis 15.09.2021.
Die Beschwerdeführerin hielt sich von 08.05.2018 bis 17.08.2018, von 22.08.2018 bis 15.11.2018, von 11.12.2018 bis 18.12.2018, von 02.05.2019 bis 21.07.2019, von 10.11.2019 bis heute (Tag der mündlichen Verhandlung am 25.01.2021) tatsächlich in Österreich auf.
Der Reisepass der Beschwerdeführerin ist gültig bis 02.10.2021.
Der Sohn der Beschwerdeführerin ist am ...2019 geboren worden. Tag des errechneten Geburtstermins war der 26.01.2020; dem entspricht ein Beginn der Schwangerschaft Ende April bzw. Anfang Mai 2019. Es handelt sich somit um
eine Frühgeburt (35 Schwangerschaftswochen plus 2 Tage). Die Beschwerdeführerin litt an einer „Plazenta Praevia“. Als Plazenta praevia (placenta praevia) bezeichnet man die Fehllage des Mutterkuchens bei schwangeren Frauen. Typisches Symptom ist eine Blutung aus der Scheide im späten Verlauf der Schwangerschaft; je nach Ausmaß kann die Plazenta praevia für Mutter und Kind
lebensbedrohlich werden (insofern erfolgt mit der Diagnose die Einstufung als „Risikoschwangerschaft“). Am 23.12.2019 kam es – nach einem zuvor bereits schlechten Allgemeinzustand bzw. Bettlägerigkeit der Beschwerdeführerin – auch tatsächlich zu einer solchen Gefahrenlage. Die Diagnose einer Plazenta praevia wurde erstmals mit Befund vom 14.11.2019 durch einen Facharzt dokumentiert. In der Folge kam es zur ambulanten Überwachung der Schwangerschaft im J. (Ambulanztermine am 25.11.2019 und 02.12.2019). Die Beschwerdeführerin stellte für ihr Verfahren einen Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG am 22.11.2019. Die Geburt am ...2019 erfolgte per (Not-)Kaiserschnitt. Es wurde beim Sohn der Beschwerdeführerin nach der Geburt eine fetale Wachstumsretardierung diagnostiziert. Eine Entwicklungsverzögerung deutet (ebenfalls) auf eine längerfristige und nicht nur kurzfristige gesundheitliche Beeinträchtigung der Beschwerdeführerin bzw. einen beeinträchtigten Schwangerschaftsverlauf hin.
Der Ehemann der Beschwerdeführerin ist seit 01.01.2018 bis heute durchgehend beschäftigt bei der F. GmbH (konkret beschäftigt im G. [H.]; er verdiente im Juli 2020 2.549,51 Euro brutto, im August 2020 2.080,53 Euro brutto, im September 2020 2.912,43 Euro brutto, im Oktober 2020 2.420,32 Euro brutto, November 2020 ohne Sonderzahlungen 2.520,32 Euro brutto und im Dezember 2020 2.420,32 Euro brutto; das sind im Schnitt pro Monat 2.483,91 Euro brutto, das sind netto inklusive anteiliger Sonderzahlungen 2.093,13 Euro. Der Betrieb hat auch während verschiedener Ausprägungen des (Corona-)Lockdowns geöffnet. Zuvor war er im Bereich Gastronomie/Hotellerie bereits in anderen voll sozialversicherungspflichtigen Dienstverhältnissen (seit 2003). Er wurde unlängst zum Betriebsrat gewählt und erhält ab Februar 2021 dafür eine Zulage.
Die Beschwerdeführerin verfügt über ein Sprachzertifikat Deutsch-A1 des Goethe Instituts, das zum Zeitpunkt der Vorlage nicht älter als ein Jahr war. Sie spricht Arabisch und Französisch (jeweils fließend) und verfügt über Grundkenntnisse in Englisch. Sie hat im Heimatstaat als (Diplom-)Krankenschwester gearbeitet.
Beweiswürdigung
Das Verwaltungsgericht hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den vorgelegten Verwaltungsakt, Aufforderung zur Vorlage von Unterlagen, Würdigung des Parteienvorbringens und Durchführung einer mündlichen Verhandlung in der die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann einvernommen wurden.
Die Feststellungen ergeben sich aus dem Parteienvorbringen sowie den vorliegenden Unterlagen (insbesondere Reisepass mit Ein- und Ausreisestempeln und Visa-Vermerken, Mutter-Kind-Pass und Arztbriefe/Befunde, Gehaltszettel und Kontoauszüge) sowie aus dem persönlichen Eindruck der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes im Rahmen der mündlichen Verhandlung.
Es wurden glaubwürdige, schlüssige und übereinstimmende Angaben zum Gesundheitszustand der Mutter und zum Verlauf der Schwangerschaft gemacht, die auch mit den vorgelegten Unterlagen (Mutter-Kind-Pass und Befunde/Entlassungsbrief) ein kohärentes Gesamtbild abgeben. (Auch) Die finanzielle Situation wurde mit echten und richtigen Unterlagen nachgewiesen und es wurden auch hierzu glaubwürdige Aussagen gemacht. Es besteht kein Anlass für Zweifel an der Echtheit und Richtigkeit solcher oder anderer Unterlagen.
Der maßgebliche Sachverhalt wird nicht bestritten. Im Beschwerdefall stellten sich überwiegend Rechtsfragen (Beurteilung des Inlandsaufenthaltes und Interessenabwägung).
Rechtliche Beurteilung
Gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG darf der Aufenthalt eines Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen. Dabei sind iSd § 11 Abs. 5 NAG die regelmäßigen Einkünfte und Ausgaben dem erforderlichen Richtsatz gegenüberzustellen.
Bei der Beurteilung der zur Verfügung stehenden Mittel ist eine Prognoseentscheidung zu treffen. Es ist nicht allein auf den Entscheidungszeitpunkt abzustellen (VwGH 23.11.2017, Ra 2017/22/0144; 22.03.2018, Ra 2017/22/0177). Es genügt für den Nachweis ausreichender Unterhaltsmittel, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, dass im Fall der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels eine konkretisierte Erwerbstätigkeit aufgenommen und damit das notwendige Ausmaß an Einkommen erwirtschaftet werden könnte (VwGH 19.04.2016, Ra 2015/22/0153).
Bei der Prüfung, ob ausreichende Unterhaltsmittel zur Verfügung stehen, ist eine Prognose über die Erzielbarkeit ausreichender Mittel zu treffen. Für die Berechnung maßgeblich ist dabei jenes Einkommen, das dann erzielt wird, wenn dem Fremden der begehrte Aufenthaltstitel erteilt wird (VwGH 20.10.2011, 2009/18/0122), wobei die anteiligen Sonderzahlungen bei der Einkommensberechnung zu berücksichtigen sind (VwGH 21.06.2011, 2008/22/0356).
Der Ehemann der Beschwerdeführerin ist seit 01.01.2018 bis heute durchgehend beschäftigt bei der F. GmbH (konkret beschäftigt im G. [H.]; er verdiente im Juli 2020 2.549,51 Euro brutto, im August 2020 2.080,53 Euro brutto, im September 2020 2.912,43 Euro brutto, im Oktober 2020 2.420,32 Euro brutto, November 2020 ohne Sonderzahlungen 2.520,32 Euro brutto und im Dezember 2020 2.420,32 Euro brutto; das sind im Schnitt pro Monat 2.483,91 Euro brutto, das sind netto inklusive anteiliger Sonderzahlungen 2.093,13 Euro.
An regelmäßigen Ausgaben stehen dem pro Monat gegenüber: 513,– Euro Miete, Alimente 600,– Euro, Wiener Linien 33,–, Handy 14,90 Euro, aus einem Zahlungsplan 254,18 Euro sowie für Strom, Gas, Wasser, Fernwärme 77,53 Euro pro Monat. Das sind in Summe 1.492,61 Euro. Davon ist der „Wert der freien Station“ in Höhe von 304,45 abzuziehen, sodass 1.188,16 Euro verbleiben.
Das macht ein rechnerisches, frei verfügbares Haushaltseinkommen von 904,97 Euro.
Der erforderliche Richtsatz iSd ASVG iVm § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG beträgt für ein Ehepaar mit einem Kind im gemeinsamen Haushalt 1.732,73 Euro.
Die Differenz beträgt 827,76 Euro.
Es ist anzumerken, dass eine (leichte) Verbesserung des Haushaltseinkommens dadurch eintreten wird, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin ab sofort (Februar 2021) eine Zulage von 180,– Euro brutto pro Monat erhält. Die Beschwerdeführerin verfügt (vorläufig) weiterhin über kein Einkommen, wobei es eine Anmeldung für einen Kindergartenplatz für den Sohn der Beschwerdeführerin gibt. Im Heimatstaat hat die Beschwerdeführerin als Krankenschwester gearbeitet.
Der Sohn der Beschwerdeführerin war zur Inlandsantragstellung berechtigt (§ 21 Abs. 2 Z 4 NAG); er hat seinen Antrag vom 23.01.2020 auch tatsächlich und rechtzeitig (6-Monats-Frist in par. cit.) im Inland gestellt. Diese Inlandsantragstellung verschaffte gemäß § 21 Abs. 6 NAG kein über den erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalt hinausgehendes Bleiberecht. Eine Konstellation, in welcher der Antrag zulässigerweise im Inland gestellt wurde, fällt (allerdings) nicht in den Anwendungsbereich des § 21 Abs. 1 und Abs. 3 NAG (VwGH 22.03.2018, Ra 2017/22/0184; 13.12.2018, Ra 2018/22/0186). Wird ein NAG-Antrag zulässigerweise im Inland gestellt, dann aber die Dauer des erlaubten
visumfreien Aufenthaltes überschritten haben, ist vielmehr der Versagungsgrund nach § 11 Abs. 1 Z 5 NAG verwirklicht.
Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 NAG sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 bis 7 NAG dennoch erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist.
Die Beschwerdeführerin ist mitversichert gemäß § 123 ASVG. Eine ortsübliche Unterkunft ist gegeben. Die übrigen Erteilungsvoraussetzungen sind erfüllt (bzw. kommt deren Tatbestandsmäßigkeit bei einem 13 Monate alten Beschwerdeführer von Haus aus nicht in Betracht) und es sind keine (weiteren) Erteilungshindernisse erkennbar.
Im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK – im Beschwerdefall wegen Unterschreitung der maßgeblichen Lebensunterhaltsrichtsätze nach § § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG – kommt dem Bestehen einer engen Verwandtschaft (Kernfamilie; d.h. Ehe oder Eltern-Kind-Verhältnis) mit einer dauerhaft niedergelassenen Person große Bedeutung zu (VwGH 11.11.2013, 2013/22/0224; 27.04.2017, Ra 2016/22/0102; 26.06.2019, Ra 2019/21/0034).
Der EuGH hat in seinem zur Richtlinie 2003/86/EG („Familienzusammenführungsrichtlinie“) ergangenen Urteil vom 04.03.2010, C–578/08, Chakroun, zum Ausdruck gebracht, dass die Unterschreitung eines vorgegebenen Mindesteinkommens nicht ohne konkrete fallbezogene Prüfung der Situation des einzelnen Antragstellers die Ablehnung der Familienzusammenführung zur Folge haben darf. Es ist daher eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall dahingehend geboten, ob der Lebensunterhalt trotz Unterschreiten der gesetzlich normierten Richtsätze gesichert ist. Dabei ist insbesondere auch beachtlich, wenn der maßgebliche Richtsatz nur geringfügig unterschritten wird (VwGH 19.11.2014, 2013/22/0009; 22.03.2018, Ra 2017/22/0186; 29.03.2019, Ra 2018/22/0080; 25.05.2020, Ra 2019/22/0151). Neben dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens hat nach der Grundrechte-Charta auch eine Berücksichtigung des Kindeswohls und unter Beachtung des in deren Art. 24 Abs. 3 GrCh niedergelegten Erfordernisses zu erfolgen, wonach das Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu beiden Eltern unterhält (ebenfalls zur Richtlinie 2003/86/EG EuGH 13.03.2019, C-635/17, E gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie).
Ein Kind hat grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen. Die Aufrechterhaltung des Kontaktes mittels moderner Kommunikationsmittel mit einem Kleinkind ist kaum möglich. Dem Vater eines Kindes (und umgekehrt) kommt grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zu (VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282; 30.04.2020, Ra 2019/21/0134; 06.10.2020, Ra 2019/19/0332).
Dass die Eheschließung der Beschwerdeführerin mit ihrem Ehemann und die Geburt des gemeinsamen Sohnes während des unsicheren Aufenthaltsstatus erfolgte, ist nicht ein absolutes Hindernis. Dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bzw. an der Nichterteilung des Aufenthaltstitels müsste ein sehr großes Gewicht beizumessen sein, wie insbesondere bei – relevanter – Straffälligkeit des Fremden. In solchen Fällen kann es auch gerechtfertigt sein, Personen mit unterschiedlicher Staatsangehörigkeit zu trennen (VwGH 30.04.2020, Ra 2019/21/0134; 19.06.2020, Ra 2019/19/0475; 16.07.2020, Ra 2020/18/0226). Es müssten „exzeptionelle Umstände“ vorliegen (VwGH 26.02.2020, Ra 2019/18/0299).
Ein von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind entsteht nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR mit dem Zeitpunkt der Geburt. Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter
außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (VwGH 26.02.2020, Ra 2019/18/0299). Die ersten Lebensphasen haben eine besondere Bedeutung (VwGH 26.02.2020, Ra 2019/18/0456; VfGH 11.06.2018, E 343/2018; 26.06.2018, E 1791/2018).
Im angefochtenen Bescheid führt die belangte Behörde in der Begründung (zu § 21 Abs. 1 iVm Abs. 6 NAG) aus, dass die Beschwerdeführerin seit 10.11.2019 im Bundesgebiet aufhältig gewesen wäre und die Ausreise 07.02.2020 fällig gewesen. Im Ergebnis verneint die belangte Behörde nach Durchführung einer Interessenabwägung ein Überwiegen der privaten Interessen.
Eine Abwägung der Verbindung des Sohnes der Beschwerdeführerin mit seinem Vater, der über einen „Daueraufenthalt – EU“ verfügt, ist dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen. Im Parallelverfahren betreffend den Sohn der Beschwerdeführerin wurden zudem zur Ausreisepflicht und zum Inlandsaufenthalt mehrere unzutreffende Aussagen getätigt. Im dort angefochtenen Bescheid wurde der Zeitraum des rechtmäßigen Aufenthaltes des Sohnes der Beschwerdeführerin unrichtig bemessen. Es wurde unzutreffend als Abweisungsgrund (auch) für den Sohn der Beschwerdeführerin § 21 Abs. 1 iVm Abs. 6 NAG herangezogen, obwohl in seinem Fall aufgrund einer zulässigen Inlandsantragstellung gemäß § 21 Abs. 2 Z 4 NAG zutreffend § 11 Abs. 1 Z 5 NAG mit Sanierungsmöglichkeit über § 11 Abs. 3 NAG zu prüfen gewesen wäre. Einen Zusatzantrag hat der Sohn der Beschwerdeführerin zutreffend nicht gestellt.
Das Verwaltungsgericht beurteilt in der Beschwerdekonstellation die abzuwägenden Interessen anders als die belangte Behörde.
Dem nunmehr 13 Monate alten Sohn der Beschwerdeführerin ist das Überschreiten des visumsfreien Zeitraumes bzw. das Verletzen einer Ausreisepflicht jedoch nur bedingt vorwerfbar. Freilich muss er sich das Verhalten seiner Obsorgeberechtigten zurechnen lassen; es ist im Rahmen einer Interessenabwägung aber auch das Privat- und Familienleben zu diesen Obsorgeberechtigten zu beachten (VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0065; 13.11.2018, Ra 2018/21/0205; 28.02.2020, Ra 2019/14/0545).
Hinsichtlich der Überschreitung zulässiger Aufenthaltszeiträume durch die Beschwerdeführerin ist anzumerken, dass diese sich durch wiederholte Beschaffung von Visa C und Einhaltung der zeitlichen Vorgaben aus diesen Visa in der Vergangenheit bis zum Eintritt der Schwangerschaft wohlverhalten hat. Aufgrund der Risikoschwangerschaft, die fachärztlich diagnostiziert und zusammen mit dem Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG angezeigt wurde, und aufgrund der Umstände des Privat- und Familienlebens (Bestehen einer Kernfamilie mit einem dauerhaft niedergelassenen Angehörigen samt nunmehr geborenem gemeinsamen Kind) lag und liegt im Beschwerdefall ein nachvollziehbarer Umstand für die Unzumutbarkeit der Ausreise vor. Schließlich wäre (auch) für die Zeit nach der Geburt des Sohnes der Beschwerdeführerin und einem späteren Ende des Mutterschutzes, wenn man dieses als Richtlinie für eine Frist zur grundsätzlichen Ausreisepflicht sieht (daran orientiert sich auch die Rechtsprechung und Vollziehung bei zwangsweisen Außerlandesbringungen; BVwG 24.07.2020, W235 2222152-1; 10.09.2020, I414 2233046-1; 15.09.2020, W240 2146235-3, 15.09.2020, W240 2228808-2), ein bestehendes Familienleben zu beachten gewesen.
Für den Zeitraum vor der Geburt begann für die Beschwerdeführerin der Mutterschutzzeitraum von acht Wochen (§ 3 Abs. 1 MSchG) vor dem errechneten Geburtstermin (26.01.2020) am 24.11.2019. Ihr Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG wurde am 22.11.2019 gestellt. In der vorliegenden Konstellation war aufgrund der am 14.11.2019 diagnostizierten Risikoschwangerschaft wohl die
Voraussetzung für einen vorzeitigen Mutterschutz gegeben (§ 3 Abs. 3 MSchG). Freilich bestand nach der Einreise am 10.11.2019 durch das für 90 Tage gültige Visum C hier ohnehin eine Grundlage für den Aufenthalt in Österreich. Die 90 Tage nach dem 10.11.2019 endeten am 07.02.2020. Nach der Geburt bestand Mutterschutz wegen Frühgeburt und Kaiserschnitt für zwölf Wochen, also nach der Geburt am ...2019 bis 17.03.2020 (§ 5 Abs. 1 MSchG). Dass Argument, dass nach der Geburt keine Risikoschwangerschaft mehr vorlag, ist somit verfehlt.
Es liegen im Beschwerdefall keine wesentlichen Bindungen der zu prüfenden Kernfamilie und ihrer einzelnen Mitglieder zum Heimatstaat vor. Die Bindungen zum Heimatstaat sind den Anknüpfungspunkten der Kernfamilie in/nach Österreich untergeordnet. Der Ehemann der Beschwerdeführerin ist seit 2003 in
Österreich rechtmäßig aufhältig, verfügt über ein Daueraufenthaltsrecht und ist auch durch eine ständige berufliche Tätigkeit integriert. Sämtliche Mitglieder der Kernfamilie sind unbescholten. Mit Ausnahme der Überschreitung der visumspflichtigen Zeit wurden keine Rechtsvorschriften verletzt. Es wurden alle sonstigen fremden- und aufenthaltsrechtlichen Normen eingehalten.
Im Ergebnis liegt im Beschwerdefall nach Gesamtabwägung der berührten Interessen ein schützenswertes Privat- und Familienleben vor; das Interesse an dessen Schutz überwiegt. § 11 Abs. 3 NAG gebietet bei der vorliegenden Konstellation die Erteilung des Aufenthaltstitels trotz grundsätzlicher Tatbestandsmäßigkeit iSd § 11 Abs. 1 Z 5 NAG im Verfahren des Sohnes der Beschwerdeführerin sowie trotz Unterschreitung des Unterhaltsrichtsatzes nach § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG. Auch wenn kein bloß geringfügiges Unterschreiten des Lebensunterhaltes iSd Dereci-Rechtsprechung vorliegt, ist der Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK iVm § 11 Abs. 3 NAG zu erteilen.
Aus § 21 Abs. 3 Z 2 NAG ergibt sich, dass die Inlandsantragstellung auf begründeten Antrag dann zugelassen werden kann, wenn – ausnahmsweise, nämlich für den Fall der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Ausreise des Fremden – ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht; gleiches gilt für das Abwarten des Verfahrens im Inland (VwGH 29.02.2012, 2010/21/0219; 25.01.2016, Ra 2015/22/0119; 28.02.2019, Ra 2018/22/0285). Neben den Kriterien des § 11 Abs. 3 NAG sind die in der Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätze zu beachten; insofern sind auch medizinische/gesundheitliche Faktoren relevant (VwGH 12.10.2015, Ro 2015/22/0022; 14.04.2016, Ra 2016/21/0033; 30.08.2018, Ra 2018/21/0049). Im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen (§ 2 Abs. 1 Z 17 NAG) kann eine Inlandsantragstellung unter Würdigung der Umstände des Einzelfalles zusätzlich zur Wahrung des Kindeswohls ausnahmsweise zulässig sein.
In Verfahren betreffend die Erteilung von Aufenthaltstiteln ist für die Interessenabwägung iSd Art. 8 EMRK jener Sachverhalt zu beurteilen, wie er zum Zeitpunkt der Entscheidung (und nicht etwa im Zeitpunkt der Antragstellung) vorliegt. Bei der Beurteilung eines Eingriffes in das Familienleben ist auch auf nach Antragstellung geborene Kinder Rücksicht zu nehmen (VwGH 13.09.2016, Ra 2016/22/0041). Insofern ist für die Beschwerdeführerin die Geburt des gemeinsamen Kindes und die entstandene Verbindung/Kernfamilie samt ihrer Rechtswirkungen zu veranschlagen.
Aufgrund der Chronologie aus Aufenthaltszeiträumen, gültigen Visa C, gesundheitlichen Aspekten und dem Verlauf der Schwangerschaft sowie der Familienkonstellation ergeben sich im Beschwerdefall überwiegende private Interessen im Sinne des § 21 Abs. 3 NAG.
Die Beschwerdeführerin war berechtigt, das Verfahren im Inland abzuwarten.
Die Beschwerdeführerin ist unbescholten (§ 11 Abs. 3 Z 6 NAG). Sie verfügt über einen Sprachnachweis Deutsch/A1. Das Vorliegen von sonstigen Erteilungshindernissen iSv § 11 Abs. 1 NAG ist nicht hervorgekommen und kann auch nicht nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens vor dem Verwaltungsgericht festgestellt werden. Weder wurden gegen die Beschwerdeführerin aufenthaltsbeendende Maßnahmen oder ein Einreiseverbot verhängt, noch ist das Vorliegen einer Aufenthaltsehe oder eine Bestrafung wegen Umgehung der Grenzkontrolle oder nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet zu erkennen. Ebenso haben sich keine Hinweise auf dem Aufenthalt der unbescholtenen Beschwerdeführerin widerstreitende öffentliche Interessen iSd § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 NAG, wie eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung oder eine Nähe zu
einer extremistischen oder terroristischen Organisation ergeben und ist auch nichts hervorgekommen, was darauf hindeuten würde, dass der Aufenthalt in Österreich die Beziehungen der Republik Österreich zu einem anderen Staat oder einem anderen Völkerrechtsobjekt iSd § 11 Abs. 2 Z 5 NAG wesentlich beeinträchtigen würde.
Nachdem die Beschwerdeführerin alle im NAG und der NAG-DV angeführten Unterlagen vorgelegt hat, sie die allgemeinen und besonderen Erteilungsvoraussetzungen für den beantragten Aufenthaltstitel erfüllt bzw. gemäß § 11 Abs. 3 NAG iVm Art. 8 EMRK private Interessen überwiegen, der Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG berechtigt war und keine Erteilungshindernisse bestehen, ist der angefochtene Bescheid gemäß § 46, § 21 Abs. 3, § 11 und § 20 NAG zu beheben und der beantragte Aufenthaltstitel (in konstitutiver Weise) zu erteilen (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/22/0125).
Beträgt die Gültigkeit des Reisepasses weniger als die maximal mögliche für den Aufenthaltstitel gültige Aufenthaltsdauer, so ist dieser nur für die Gültigkeitsdauer des Reisepasses auszustellen (VwGH 19.11.2014, Ra 2014/22/0042; 18.04.2018, Ra 2018/22/0019). Die spruchgemäße Befristung gründet sich insoweit auf § 20 Abs. 1 NAG („das Reisedokument weist nicht die entsprechende Gültigkeitsdauer auf“).
Gemäß § 19 Abs. 10 NAG hat die belangte Behörde nun die Herstellung der Aufenthaltstitelkarte zu beauftragen und diese auszufolgen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Die Rechtslage ist aufgrund der zitierten Gesetzeslage klar und durch die angeführte Rechtsprechung geklärt. Das Verfahren betreffend Aufenthaltstitel erfordert eine Einzelfallbeurteilung. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen – wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde – nicht revisibel (VwGH 25.04.2014, Ro 2014/21/0033; 09.09.2014, Ro 2014/22/0027). Im Besonderen ist eine einzelfallbezogene Interessenabwägung nach § 21 Abs. 3 bzw. § 11 Abs. 3 iVm Art. 8 EMRK anhand der Leitlinien durch die ständige Rechtsprechung der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts durchgeführt worden. Der gegenständlich vorgenommenen Würdigung kommt somit keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu (VwGH 12.10.2015, Ra 2015/22/0105; 10.05.2016, Ra 2015/22/0158). Schließlich liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
Aufenthaltstitel; Einkünfte; Interessensabwägung; Inland; AntragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGWI:2021:VGW.151.007.11133.2020Zuletzt aktualisiert am
18.05.2021