TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/30 W140 2134703-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.12.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

30.12.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W140 2134703-1/30E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Alice HÖLLER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.08.2016, Zl. 1068438208 - 150504855, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 30.12.2021 erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF) stellte am 14.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er wurde hierzu am selben Tag polizeilich erstbefragt. Der BF wurde am 01.07.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen.

Mit Bescheid BFA vom 24.08.2016 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 14.05.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA- Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Es wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV). Dagegen erhob der BF fristgerecht Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.05.2017 eine mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ein Dolmetscher der Sprache Dari und der Vertreter des BF teilnahmen.

Die Verhandlung gestaltete sich u.a. wie folgt:

„R beginnt mit Befragung von BF.

Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen Lebensumständen:

R: Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?

BF: Afghanistan.

R: Woher aus Afghanistan stammen Sie?

BF: Ich bin aus der Provinz Maidan Wardak, aus dem XXXX .

R: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollständigen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort sowie Ihre Staatsangehörigkeit.

BF: Ich heiße XXXX , ich kenne mein Geburtsdatum nicht. In Ö wurde mein Geburtsdatum mit XXXX festgestellt. Mein Geburtsort lautet: Maidan Wardak, XXXX .

R: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF: Ich bin Hazara.

R: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?

BF: Ich bin schiitischer Moslem.

R: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?

BF: Nein.

R: Haben Sie Kinder?

BF: Nein.

R: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF: In Afghanistan bin ich nicht in die Schule gegangen. Ich habe gearbeitet und verschiedene Berufe dort ausgeübt. Ich habe zeitweise als Installateur und Eisenbieger gearbeitet.

R: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?

BF: Mein älterere Bruder und ich haben für den Lebensunterhalt der Familie gesorgt. Zum Zeitpunkt, als ich in Afghanistan gelebt und gearbeitet habe, war mein Bruder im Iran aufhältig. Wenn er dort eine Arbeit hatte, hat er uns finanziell unterstützt.

R: Haben Sie noch Familienangehörige in Afghanistan? Wenn ja, wo? Wovon lebt ihre Familie? Haben Sie Kontakt zu Ihren Familienangehörigen?

BF: In Afghanistan lebt meine Familie, bestehend aus: Mutter, drei Brüdern und eine Schwester. Einer meiner Brüder versorgt die Familie. Im Oktober 2016 wurde eine weitere Schwester in Afghanistan getötet.

RI: Wo ist Ihr Vater?

BF: Ich war sehr jung, als mein Vater getötet wurde, zumindest hat es meine Mutter so erzählt. Mir wurde gesagt, dass mein Vater seinerzeit ein Mujahed war und er gegen die Taliban gekämpft hat. Ich habe keine näheren Informationen zum Tod meines Vaters.

R: Können Sie heute Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen, die Ihre Angaben zu Ihrer Identität belegen (zB. Reisepass, Personalausweis, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde)?

BF: Nein. Mir war es nicht möglich, in Afghanistan an eine Tazkira zu kommen. In der Tazkira meines Vaters, die ich den Behörden hätte vorlegen müssen, war in der Rubrik „Berufsbezeichnung: Mujahed“ eingetragen. Wenn man mich mit diesem Dokument erwischt hätte, wäre ich getötet worden.

R: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?

BF: Nein.

Ermittlungsermächtigung:

R: Sind Sie damit einverstanden, dass entsprechend den vom Bundesverwaltungsgericht zu treffenden Anordnungen in Ihrem Herkunftsstaat allenfalls Erhebungen unter Verwendung Ihrer personenbezogenen Daten durchgeführt werden, wobei diese jedenfalls nicht an staatliche Stellen Ihres Herkunftsstaates weitergegeben werden?

BF: Ja.

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

R: Nennen Sie jetzt bitte anschließend möglichst umfassend alle Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe). Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.

BF: In meinen Heimatdistrikt sind jährlich Kutschis gekommen. Bei diesen Leuten hat es sich um schwer bewaffnete Taliban gehandelt. Sie haben ihre Waffen sowie andere Kriegsmateralien in Hubschraubern geliefert bekommen. Wenn sie dieses Gebiet besetzt haben, haben sie die Bewohner von dort vertrieben, die Häuser angezündet, das Vieh sowie die Ernte an sich genommen. Aufgrund dieser Schwierigkeiten sind wir jährlich aus unserem Wohnort geflüchtet. Da ich für meine Familie verantwortlich war, musste ich immer wieder für mich Arbeit finden. Ich habe in Kabul und in der Stadt Ghazni gearbeitet. Ich war meistens in Militärcamps von ausländischen als auch inländischen Soldaten als Eisenbieger und Installateur tätig. Ich habe auchin der Militärakademie in Kabul gearbeitet, sowie auch im Stadtteil Pol-e Charkhi. In der Stadt Ghazni war ich in der Sicherheitskommandantur der Kompanie Deh Yak tätig. Die Sicherheitslage in meinem Herkunftsort hat sich seither stark verschlechtert. Meine Familie ist in Kabul aufhältig und ist seit zwei Jahren nicht mehr ins Heimatdorf zurückgekehrt. Mir ist bekannt, dass es im letzten Monat wieder zu Zwischenfällen in Behsud gekommen ist, vorallem weil die Kutschis zurückgekehrt sind.

Ich kann nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren, weil ich für Ausländer sowie auch für die inländischen Sicherheitskräfte gearbeitet habe. Ich bin dadurch gefährdet. Ich bin Schiite. Wenn die Taliban einen Schiiten fassen, bezeichnen sie diesen als einen Ungläubigen bzw. als jemanden der vom Islam abgefallen ist und dieser Person droht der Tod. Den Schiiten wird die Zusammenarbeit mit dem Staat bzw. Ausländern vorgeworfen.

R: Wurden Sie je von den Taliban persönlich bedroht?

BF: Ich bin nicht direkt von den Taliban bedroht worden. Dazu möchte ich aber ausführen, dass die Taliban einen Schiiten und einen Hazara nicht bedrohen, sondern ihn gleich töten, vorallem wenn er für in- und ausländische Sicherheitskräfte gearbeitet hat.

BFV: Der BF hat erfahren, dass seine Schwester vor ca. 6 Monaten in Kabul getötet wurde. Dies hat sich nach seiner Einvernahme im Juni 2016 ereignet.

R: Können Sie dazu nähere Angaben machen?

BF: Zum Tod meiner Schwester möchte ich ausführen, dass meine Schwester in Kabul einen Friseurladen eröffnet hat, um gemeinsam mit meinem Bruder die Familie finanziell unterstützen zu können. Ca. 7 bis 8 Monate nachdem sie in diesem Laden gearbeitet hat, kam eine Kundin zu ihr die gesagt hat, dass sie eine Hochzeit haben und gefragt hat, ob meine Schwester zu ihnen nach Hause kommen kann, um die Braut herzurichten. Meine Schwester hat einen Termin mit dieser Frau fixiert. Am Tag der Hochzeit wurde meine Schwester von diesen Leuten abgeholt und zu einem Haus gebracht. Dort wurde sie dann von dieser Frau und von einem Mann, der ebenfalls dort anwesend war, durch Messerstiche getötet. Da die afghanischen Behörden korrupt sind, und sie einem Fall nur nachgehen, wenn man dafür bezahlt, hat sich der Todesfall meiner Schwester immer noch nicht geklärt. Meiner Familie ist nicht bekannt, weshalb meine Schwester getötet wurde.

R: Was vermuten Sie, wer dahintersteckt?

BF: Ich kann dazu leider keine genauen Angaben machen und vermuten, es könnten entweder die Taliban gewesen sein, oder auch jene Leute, die jährlich unser Dorf angegriffen haben (Kutschis) gewesen sein. Es kann sich dabei aber auch um eine Privatperson handeln.

R: Warum glauben Sie, dass die Taliban Ihre Schwester in Kabul töten wollten?

BF: Wenn unser Dorf angegriffen wurde, konnten wir uns gegen diese Taliban nicht verteidigen, weil wir nicht bewaffnet waren. Einige wenige Haushalte die im Besitz einer Waffe waren, haben versucht sich zu verteidigen, jedoch erfolglos.

Im Jahr 2015 haben die Taliban den Ehemann meiner Tante väterlicherseits im Heimatdorf festgenommen und ihn gefoltert und getötet. Ich bin der Meinung, wenn die Taliban jemanden als ihren Feind bezeichnen, sind sie in der Lage diesen überall in Afghanistan zu finden.

R: Wie kam Ihre Familie ins Visier der Taliban?

BF: Die Taliban haben unser Dorf jährlich angegriffen. Ich bin mir sicher, dass die Taliban sich vor einem Angriff darüber informiert haben wie viele Leute im Dorf leben und wer von ihnen bewaffnet ist. Die Taliban verfügen über viele Spione. Ich bin mir sicher, dass die Taliban die Familie gekannt haben.

Die Verhandlung wird um 17:09 Uhr kurz unterbrochen und wird um 17:20 Uhr fortgesetzt.

R: Ich werde in Bezug auf den von Ihnen vorgebrachten Mord an Ihrer Schwester sowie in Bezug auf Ihre Arbeit ein Gutachten in Auftrag geben. Ich ersuche Sie ehestmöglich über Ihren Vertreter die Eckdaten (Adresse Ihrer Schwester, Eckdaten bezüglich Ihrer Arbeitsplätze) zu übermitteln.

BFV: Ich bin damit einverstanden.“

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.05.2017 wurde eine Sachverständige aus dem Fachgebiet Allgemeine Informationen über Afghanistan bestellt.

Mit Schreiben vom 30.05.2017 übermittelte der BF eine Bestätigung der HAK zwei Salzburg, diverse Bestätigungen der Volkshochschule, ein ÖSD Zertifikat A1 vom 10.05.2017 sowie ein Empfehlungsschreiben von XXXX Hilft.

Mit Eingabe vom 20.05.2019 legte der BF eine Kursbestätigung der Volkshochschule über den Besuch eines Deutschkurses, ein ÖSD Zertifikat der Niveaustufe A2 vom 11.12.2017, eine Bestätigung des Lehrganges Übergangsstufe an BMHS für Jugendliche ohne Kenntnisse der Unterrichtssprache Deutsch, ein Schreiben der Bundeshandelsakademie zwei Salzburg, eine Bestätigung der HAK für Berufsstätige über den Schulbesuch des BF 2017/18, zwei Empfehlungsschreiben von XXXX Hilft, ein Referenzschreiben, ein Bestätigungsschreiben des Bundes-Oberstufenrealgymnasiums Straßwalchen sowie ein Bestätigungsschreiben der Caritas bezüglich des ehrenamtlichen Engagements des BF vor.

Mit Eingabe vom 26.08.2019 übermittelte der BF ein Teilnahmezertifikat Dialogworkshop Juli 2019, eine Beschäftigungsbewilligung des AMS Salzburg, einen Dienstzettel vom 16.08.2019, ein Zeugnis über die Teilnahme am Fachlehrgang im Projekt „Auf Linie 150“ des BFI vom 05.07.2019, eine Teilnahmebestätigung an dem Projekt „Bildungsaxis Auf Linie 150“ vom 09.07.2019 sowie eine Lohnabrechnung vom Juli 2019.

Mit Eingabe vom 04.10.2019 wurde ein AMS Bescheid zur Verlängerung der Beschäftigungsbewilligung des BF als Küchengehilfe übermittelt.

Mit Eingabe vom 18.02.2020 übermittelte die Sachverständige nachfolgendes Gutachten:

„(…) 4. Ergebnis der Recherche

Für die Durchführung der Recherchen in der Provinz Maidan Wardak, im XXXX im Heimatdorf des Herrn XXXX , kontaktierte ich meine in Afghanistan lebenden Kontaktpersonen und bat diese, Informationen bezüglich der Angaben des Herrn XXXX zu seinen Fluchtgründen in dessen Heimatregion, sowie zur vorgebrachten Tötung der Schwester in Kabul, einzuholen.

Die Recherchen wurden im Zeitraum von mehreren Monaten in der Provinz Maidan Wardak, im Distrikt XXXX im Heimatdorf des Herrn XXXX sowie in Kabul durchgeführt.

Befragt wurden mehrere Dorfbewohner, ein Mullah, sowie einige Bauern zum vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgrund, nämlich zu den Übergriffen der Kuchis auf den Hazara-Gebieten in Maidan Wardak, insbesondere auf das Heimatdorf des Beschwerdeführers.

Im Zuge der Recherchen konnte festgestellt werden, dass XXXX ein Distrikt in der Provinz Maidan Wardak ist und kein Dorf, so wie vom Beschwerdeführer in seinem Asylverfahren angegeben. Meine Kontaktperson informierte sich zunächst im Distrikt XXXX über den Konflikt zwischen den Einheimischen und den Kuchi-Nomaden. Dabei konnte er in Erfahrung bringen, dass es vereinzelt zu Problemen mit den Nomaden kommt. Allerdings gaben die befragten Personen auch an, dass diese Konflikte nicht primär die privaten Ländereien der Bewohner der einzelnen Dörfer betrifft, sondern vielmehr das Weidegebiet. Laut den Bewohnern des Distriktes XXXX haben die Einheimischen ein Großteil der Weidegebiete in ihren Besitz genommen. Wenn nun die Nomaden in der warmen Jahreszeit in das Gebiet kommen, geben ihnen die ansässigen Bewohner von Maidan Wardak das Weidegebiet nicht frei. Darüber hinaus verbieten sie den Kuchis den Zutritt auf die Weide, was dazu führt, dass es zu Übergriffen seitens der Nomaden kommt, welcher in einen Konflikt und eine kriegerische Auseinandersetzung endet. Die befragten Personen fügten hinzu, dass die Konflikte in den letzten Jahren zurückgegangen sind und somit keine große Bedrohung für die Einheimischen mehr darstellen.

Betreffend die Tätigkeit des Herrn XXXX befragte meine Kontaktperson die Leute im Distrikt XXXX , sowie weitere Bewohner des XXXX . Alle diese Leute kannten den Beschwerdeführer nicht und konnten daher auch keine Angaben betreffen seine Tätigkeit für die nationalen und internationalen Streitkräfte machen. Meine Kontaktperson XXXX erkundigte sich in der Stadt Ghazni bei der Sicherheitskommandatur nach dem Beschwerdeführer. Herr XXXX ist den Mitarbeitern der Sicherheitskommandatur nicht bekannt gewesen. Nachdem meine Kontaktperson erklärt hat, dass Herr XXXX als Installateur in der Kommandatur tätig gewesen sei, führten die Mitarbeit dieser Polizeistelle aus, dass Renovierungs- und Reparaturarbeiten immer wieder anfallen. Allerdings würde seitens der Sicherheitskommandatur eine dafür vorgesehen und vertrauenswürdige Firma mit diesen Arbeiten beauftragt werden. Die Mitarbeiter dieser Firma, die die Aufgaben in der Kommandatur erledigen, würden einer Sicherheitskontrolle unterzogen. Auch würde ihre Identität überprüft werden, allerdings werden diese Daten nicht archiviert. Somit sei nicht jedem Mitarbeiter der Kommandatur bekannt, welche Personen konkret die Arbeiten erledigen. Auch sei es nicht möglich, Angaben über Personen, die vermeintlich vor vielen Jahren Arbeiten in der Kommandatur geleistet hätten, zu machen. Zudem ergänzten diese Militärbedienstete, dass Installateure bzw. Metall- oder Bauarbeiter keine so wichtigen Posten seien, die eines besonderen Schutzes der Sicherheitsbehörden bedürfen, selbst wenn sie für diese einen Auftrag erledigen.

Meine Kontaktperson in Kabul, namens XXXX , informierte sich in der Militärakademie sowie im Gefängnis von XXXX über die Gegebenheiten betreffend anfallenden Renovierungs- und Reparaturarbeiten bzw. Bauarbeiten in diesen Bereichen. Auch dieser gelangte zu der Information, dass diese Arbeiten von einheimischen Firmen erledigt werden. Sie würden Verträge mit der beauftragenden Behörde schließen und ihre Angestellten für die Tätigkeit einsetzen. Es wird zwar dem Auftraggeber eine Namensliste der Mitarbeiter bekanntgegeben, anhand dieser werden die Arbeitenden einer Überprüfung unterzogen, wenn sie das Militärgelände betreten. Auch müssen sie einer Sicherheitskontrolle unterzogen werden. Nach vollständiger Beendigung des Auftrages werden diese Daten nicht weiter aufbewahrt, da sie für die Behörden von keiner Bedeutung sind.

Die Mitarbeiter des in XXXX sowie in der Militärakademie wurden auch befragt, ob solche Arbeiter von einer Bedrohung seitens der Taliban oder anderer aufständischen Gruppierungen betroffen sind. Sie gaben allesamt an, dass solche Fälle beim Auftraggeber Organ nicht gemeldet werden. Grundsätzlich würden aber regelmäßig Mitarbeiter von einheimischen Privatfirmen verschiedene Tätigkeiten für das Militär ausführen. Es sei nicht authentisch, dass jeder dieser Arbeiter gezielt verfolgt werde. Von einer Bedrohung durch die Taliban sind, soweit bekannt war, primär die eigenen Mitarbeiter des Militärs betroffen.

Aus diesen Informationen geht hervor, dass einfache Mitarbeiter bzw. Hilfsarbeiter einer Privatfirma auf einem Militärstützpunkt nicht weiter bekannt sind. Auch haben die Befragungen ergeben, dass es unwahrscheinlich ist, dass eine solche Person einer gezielten Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt ist.

Betreffend die geschilderte Tötung der Schwester des Beschwerdeführers recherchierte eine weitere Kontaktperson, Frau XXXX , Studentin an der Universität Kabul in der Stadt Kabul. Sie war diesbezüglich in mehreren Friseurläden in der Stadt und befragte die Mitarbeiter, ob ihnen ein Vorfall, bei dem eine Friseuren unter dem Vorwand, einen Auftrag in einem Privathaus zu erledigen, getötet worden sei, bekannt sei. Niemand konnte so einen Vorfall bestätigen. Mangels detaillierten Angaben zB. zum Ort und Datum des Vorfalles bzw. zu näheren Umständen zum Tod der Betroffenen, konnten in diesem Zusammenhang keine weiteren Recherchen durchgeführt werden. Auch meine persönliche Internetrecherche bzw. Anfragen bei Nachrichtenagenturen führten zu dem Ergebnis, dass ein solcher Vorfall in der Stadt Kabul nicht bekannt geworden ist.

Zusammenfassend ist anzuführen, dass die Schilderungen des Herrn XXXX betreffend die Problematik der Kuchi-Nomaden den Angaben der in XXXX ansässigen Leuten zu folge nicht den Gegebenheiten entsprechen. Auch haben die Recherchen in der Sicherheitskommandatur in Ghazni sowie an der Militärakademie und in XXXX zu dem Ergebnis geführt, dass Herr XXXX an den genannten Stellen vollkommen unbekannt ist, und über seine allfällige Tätigkeit keine Dokumentation geführt wurde.“

Das Gutachten wurde dem BF und dem BFA mit Schreiben vom 18.02.2020 zum Parteiengehör übermittelt. Mit Eingabe vom 04.03.2020 übermittelte der BF durch seine Vertretung eine Stellungnahme zum Sachverständigengutachten.

Mit Schreiben vom 01.07.2020 übermittelte der BF eine Einstellungszusage sowie eine Schulbesuchsbestätigung der Bundeshandelsakademie. Mit Eingabe vom 21.09.2020 wurde seitens des BF eine weitere Einstellungszusage übermittelt.

Mit Eingabe vom 04.12.2020 übermittelte der BF durch seine Vertretung eine ergänzende Stellungnahme mit folgendem Inhalt:

„(…)In Bezug auf die vom BF vorgebrachten Fluchtgründe wird auf seine bisherigen Angaben im Verfahren sowie auf die eingebrachte Stellungnahme vom 04.03.2020 verwiesen. Diese werden nach wie vor aufrechtgehalten.

Was nun die persönliche, aktuelle Situation des BF anbelangt werden folgende Informationen erteilt:

Während der Beratung am 27.11.2020 hat der BF angegeben, dass er zuletzt vor einem Monat zu seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Schwester Kontakt hatte. Diese waren zu diesem Zeitpunkt in Kabul, haben ihm aber gesagt, dass sie aus Afghanistan flüchten möchten. Seither hatte er keinen Kontakt und konnte die Familie auch nicht erreichen. Die ihm bekannte Telefonnummer ist nicht mehr verfügbar.

Die Mutter lebt(e) mit einem der Brüder des BF zusammen, die Schwester und der andere Bruder sind verheiratet und leben jeweils mit ihren Familien zusammen.

Ein weiterer Bruder wurde im Jahr 2019 getötet. Er war Schneider und wurde am Weg von der Arbeit nach Hause erwürgt. Man weiß nicht wer das war und aus welchem Grund der Vorfall passiert ist. Auch bei der getöteten Schwester steht bis jetzt nicht fest, wer sie umgebracht hat.

Der Vater des Klienten hat(te) vier Schwestern, wobei eine davon im Iran lebt und die drei weiteren in Afghanistan. Wo genau sich die Tanten aufhalten weiß er nicht; er hat keinen Kontakt. Weiter hat der Vater zwei Brüder, welche zuletzt in Kabul waren; Kontakt besteht aber auch zu diesen nicht.

Die Mutter des Klienten hat drei Schwestern, wobei eine glaublich im Jahr 2015 verstorben ist. Die zwei weiteren Schwestern leben in Afghanistan, wo genau weiß er nicht, es besteht kein Kontakt. Zudem hat die Mutter drei Brüder, wobei zwei bereits verstorben sind und einer in Afghanistan lebt. Der Aufenthaltsort von diesem ist dem BF unbekannt, auch zu diesem hat er keinen Kontakt.

Die Großeltern väterlicherseits sind verstorben. Der Großvater mütterlicherseits auch, die Großmutter mütterlicherseits lebt bei einem Sohn, also dem Onkel des BF (Aufenthaltsort unbekannt, siehe oben).

Zu Cousins und Cousinen hat der Klient ebenso keinen Kontakt.

Zudem hat der BF angegeben, dass er auch keine Freunde und/oder Bekannte hat, die ihn unterstützen könnten. Er ist zwar auf Facebook und hat dort sporadischen Kontakt mit Freunden, jedoch sind die meisten jene Personen, die er auf der Flucht getroffen hat. Zu Freunden in Afghanistan gibt es keinen regelmäßigen Kontakt.

Außerdem gibt er an, dass ihn in Afghanistan niemand unterstützen könnte, da die wirtschaftliche Lage sehr schlecht ist. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, sodass man vielleicht 1-2 Nächte bei Verwandten Unterkommen könnte, jedoch würde man auch dann dort keinen Platz mehr haben. Corona verschlimmert die Situation noch.

Aufgrund dieser Angaben des BF und aus gegebenem Anlass wird darauf hingewiesen, dass es für den BF neben der von ihm vorgebrachten Fluchtgründe aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan, welche im gegenständlichen Länderinformationsblatt volatil bezeichnet wird, nicht möglich, dorthin zurückzukehren. Für ihn würde ernsthaft die Gefahr bestehen, schwerwiegender und individueller Bedrohung des Lebens als Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder eines internen bewaffneten Konfliktes ausgesetzt zu sein.

In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf die jüngsten Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung, welche den Länderinformationen zu entnehmen sind, verwiesen.

Zu sämtlichen Provinzen ist diesem zu entnehmen, dass die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer im Vergleich zum Jahr 2018 beinahe gleichgeblieben ist bzw. sich erhöht hat

Kabul:

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen 7 im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).

Herat:

In der Provinz Herat dokumentierte UNAMA im Jahr 2019 440 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte). Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper, gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020)

Balkh:

In der Provinz Balkh dokumentierte UNAMA 277 im Jahr 2019 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte). Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020).

Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich trotz der teilweisen Auslegung der Behörden und Gerichte in letzter Zeit nicht nachhaltig verbessert. Dies wird durch die Angaben im aktuellen Länderinformationsblatt eindeutig und nachweislich widerlegt. Insbesondere in den im Länderinformationsblatt „sichereren" beschriebenen Provinzen ist die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle stark gestiegen, wobei auch zahlreiche Vorfälle angeführt und beschrieben werden.

Im aktualisierten Länderinformationsblatt vom 13.11.2019 wird beschrieben, dass die Sicherheitslage in Afghanistan nach wie vor volatil ist (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).(…)

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019 - 6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle - ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar; Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten Ende 2019 und Anfang 2020 zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Vereinten Nationen erklärten die Sicherheitslage im Februar 2018 für sehr instabil.

Für den BF kommt erschwerend hinzu, dass er der Volksgruppe der Hazara angehört, welche zu den ethnischen Minderheiten in Afghanistan zählt. Im übermittelten Länderinformationsblatt wird bestätigt, dass Hazara am Arbeitsmarkt diskriminiert werden. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 13.03.2019).(…)

Die Hazara Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (BFA 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der haushaltsvorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (BFA 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.03.2018). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen (USDOS 13.03.2019). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethnoreligiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 21.06.2019).

Im Laufe des Jahres 2019 setzte der ISKP Angriffe gegen schiitische, vorwiegend aus der Hazara Gemeinschaften, fort.

Aktuell ist den UNHCR-Richtlinien zu entnehmen, dass im Hinblick auf die Überlegungen betreffend die Analyse der Relevanz und Zumutbarkeit Kabuls als vorgeschlagener interner Schutzalternative, sowie unter Berücksichtigung der allgemeinen, von Konflikt und Menschenrechtsverletzungen geprägten Lage und deren negativen Auswirkungen auf den größeren sozioökonomischen Kontext, UNHCR auf dem Standpunkt steht, dass eine interne Schutzalternative in Kabul grundsätzlich nicht gegeben ist.

Neben der in ganz Afghanistan äußerst schlechten Sicherheitslage ist die individuelle Situation des BF zu berücksichtigen. Eine Rückkehr in die Heimatprovinz ist dem BF aufgrund seiner vorgebrachten Fluchtgründe sowie aufgrund fehlenden Kontaktes zu seiner Familie nicht zumutbar. Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht ihm nicht offen, da er aktuell in Afghanistan über keine sozialen Kontakte verfügt, an die er sich wenden und Unterstützung erwarten könnte. Insbesondere aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage kann nicht von einer Unterstützung ausgegangen werden.

Er ist zwar ein arbeitsfähiger junger Mann, doch er verfügt über keine Schul- und Berufsausbildung. Der BF hat in Afghanistan lediglich als Hilfsarbeiter ein wenig Erfahrung sammeln können. Die geringe Berufserfahrung stellt keine Garantie dar, dass er in Afghanistan Erfolg bei der Arbeitssuche hat. Eine Unterstützung durch soziale Kontakte kann im Falle einer Rückkehr nicht angenommen werden, da der BF in Afghanistan aktuell keine Anknüpfungspunkte hat. In diesem Zusammenhang muss auch berücksichtigt werden, dass das aktuelle Länderinformationsblatt bestätigt, dass Hazara am Arbeitsmarkt diskriminiert werden. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 13.03.2019). Dies fällt im Fall des BF noch einmal schwerer ins Gewicht,

Dem BF fehlt es an einem familiären und sozialen Netzwerk sowie an der finanziellen Unterstützung durch seine Familie. Er wäre auf sich allein gestellt und gezwungen nach einem Wohnraum zu suchen, ohne jedoch über ausreichende Kenntnisse der örtlichen infrastrukturellen Gegebenheiten in beispielsweise Herat und Mazar-e Sharif zu verfügen.

Neben der Sicherheitslage im Herkunftsland sind das Vorhandensein einer Unterkunft und die Möglichkeit der Versorgung im Zielstaat unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevant. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um Antragsteller handelt, bei denen individuelle Gründe bestehen, die die Annahme einer besonderen Schutzbedürftigkeit rechtfertigen. Im Fall des BF ergeben sich aufgrund seiner persönlichen Situation Umstände, die eine spezifische Vulnerabilität begründen.

Er würde angesichts der fehlenden Unterstützung und der prekären wirtschaftlichen Lage für Rückkehrer im Lichte der hohen Anzahl von Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan in die Armut abrutschen.

Die Anfragebeantwortungen zur lokalen Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020 und zur lokalen Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Masar-e Scharif und Umgebung bestätigen dies. In der telefonischen Auskunft vom April 2020 hält Friederike Stahlmann fest, dass aus Europa in eine der Städte Afghanistans, darunter Kabul, Herat oder Masar-e Scharif, zurückkehrende Personen, die in diesen Städten keine Familie hätten, die sie aufnehmen würden, meist von Teehaus zu Teehaus irren würden. Einige hätten vielleicht genügend finanzielle Mittel, um in der Stadt eine Wohnung mieten zu können, doch das würde schon soziale Referenzen voraussetzen. Andere würden unter einer Brücke schlafen. Aus Europa Zurückkehrenden sei es so gut wie nicht möglich in einer der informellen Siedlungen Unterschlupf zu finden oder sich dort ein Zelt aufzustellen, wenn sie dort keine Familien hätten, die bereit seien sie aufzunehmen. Dass dies Familien, die in informellen Siedlungen leben würden, möglich sei, sei jedoch schon aufgrund der beengten Verhältnisse sehr unwahrscheinlich. Die informellen Siedlungen hätten nichts mit Flüchtlingslagern gemein, in denen für die Einwohnerinnen gesorgt würde. Es handle sich um Siedlungen, in denen es vonseiten Hilfsorganisationen auf geringem Niveau Versuche gebe, die größten Missstände etwas zu lindern. Die Rückkehrenden aus Europa seien jedoch im Gegensatz zu anderen Rückkehrenden schon deshalb isoliert, weil ihr Aufenthalt in Europa aus Sicherheitsgründen nicht bekannt werden dürfe. (Stahlmann, 3. April 2020)

Zusammengefasst ist daher festzuhalten, dass aufgrund dieser persönlichen Umstände sowie der allgemeinen Rahmenbedingungen vor Ort für den BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit eine Verletzung des Art. 3 EMRK besteht.

Dem Bericht von ACCORD vom 15.01.2020 zur Sicherheitslage und sozioökonomischen Lage in Herat und Mazar-e Scharif ist dies ebenfalls zu entnehmen. Vor allem die Zahlen der freiwilligen Rückkehrer und der Binnenvertriebenen in letzter Zeit stellen eine weitere Herausforderung für die bereits überlasteten Gesundheitseinrichtungen und das medizinische Personal in Afghanistan dar.

An dieser Stelle wird auch auf die ins Verfahren eingebrachten aktuellen Information in Bezug auf die Covid-19-Pandemie verwiesen. Ein Ende dieser ist nicht in Sicht und kommt aufgrund der ohnehin prekären Lage in Afghanistan noch erschwerend hinzu. Dies wird in der übermittelten Unterlage von IOM (Information on the socio-economic Situation in the light of COVID -19 in Afghanistan requested by the Austrian Federal Office for Immigration and Asylum) bestätigt.

In einem kürzlich von der Asiatischen Entwicklungsbank veröffentlichten Bericht wird jedoch ein starker Rückgang des Wirtschaftswachstums in Afghanistan infolge der COVID-19- Pandemie und der anhaltenden sicherheitspolitischen Herausforderungen gemeldet. Auf der Grundlage des Berichts haben die Schließung und Sperrung von Grenzen in den großen Städten den Handel und den Transport gestört und die Industrie und Dienstleistungen im Land untergraben. Diese Faktoren werden die Beschäftigungsmöglichkeiten weiter verringern. Während der Dauer der Arbeitslosigkeit gibt es keine Unterstützung in Afghanistan.

Die Nachrichten, das aktuelle Länderinformationsblatt sowie all die anderen übermittelten Beweismittel sprechen übereinstimmend von Terrorismus, einer instabilen Sicherheits- und sozioökonomische Lage, die sich - insbesondere auch aufgrund der COVID-19-Pandemie - weiter zunehmend verschlechtert.

All die objektiven Angaben lassen nur den Schluss zu, dass eine Rückkehr nach Afghanistan mit einer Gefährdung für Leib und Leben verbunden ist. In welche Provinz man geht, spielt dabei keine Rolle, da sich die Situation im Grunde im ganzen Land gleich darstellt.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan hätte der BF keine Möglichkeit seine existenziellen Grundbedürfnisse zu befriedigen, was eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde.

Es ist vor allem darauf hinzuweisen, dass auch UNHCR feststellt, dass Afghanistan weiterhin von einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt betroffen ist, bei dem die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF), unterstützt von den internationalen Streitkräften, mehreren regierungsfeindlichen Kräften (AG Es) gegenüberstehen.

Dem UN-Generalsekretär zufolge steht Afghanistan weiterhin vor immensen sicherheitsbezogenen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Die Sicherheitslage soll sich insgesamt weiter verschlechtert und zu einer sogenannten „erodierenden Pattsituation“ geführt haben.

Aus all den aktuellen objektiven Berichten geht klar hervor, dass man nicht davon sprechen kann, dass es für den BF in Afghanistan Sicherheit geben würde. Es wird durchwegs beschrieben, dass ganz Afghanistan immer wieder von Attentaten erschüttert wird. Viele der Anschläge werden in dem aktuellen Länderinformationsblatt beschrieben und aufgezählt.

Vor allem muss berücksichtigt werden, dass der BF keine Unterstützung in Bezug auf die Gefahr, der er ausgesetzt wäre, hätte.

Insgesamt müssen die die in das Verfahren eingebrachten objektiven Informationen zur Situation in Afghanistan, vor allem aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse, beachtet werden.

Eine Rückkehr nach Afghanistan sowie eine innerstaatliche Fluchtalternative sind für den BF aus den genannten Gründen nicht möglich. Es besteht in Afghanistan die Gefahr der Verletzung fundamentaler Menschenrechte aufgrund der derart schlechten Lage im ganzen Land. Wegen der allgemeinen äußerst instabilen Sicherheitslage und aufgrund der individuellen Situation des BF könnte er sich bei einer Rückkehr nicht etablieren und würde mit großer Wahrscheinlichkeit in eine ausweglose Lage geraten.

Zu seiner persönlichen Situation in Österreich möchte der BF angeben, dass er sich mittlerweile seit fünf Jahren und sieben Monaten in Österreich aufhält und sich hier ein Privatleben im Sinne des Art. 8 EMRK aufgebaut hat.

Der BF ist gewillt, sein Leben auf eigene Beine zu stellen und für sich selbst zu sorgen. Er hat auch in letzter Zeit viel Arbeit gesucht und sich auch beim Arbeitsmarktservice (AMS) nach einer Arbeitsstelle erkundigt. Er konnte aufgrund der COVlD-19-Pandemie keine (freiwillige) Arbeit finden und vom AMS wurde ihm gesagt, dass er keine Saisonarbeitsstelle angeboten bekommt weil es viele Arbeitslose gibt.

Seit seiner Ankunft in Österreich ist der BF sehr bemüht, sich zu integrieren bzw. hat er dies bereits geschafft. Bereits während der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl konnte er Bestätigungen über seine Integrationsbemühungen vorlegen. Es wird an dieser Stelle auch auf die übermittelten Unterlagen, die seine Integration bestätigen, vom 20.05.2019, 26.08.2019, 02.07.2020 und 21.09.2020 verwiesen. Die im September übermittelte Einstellungszusage ist nach wie vor aufrecht und gültig.

Auf Grundlage der Einzelfallsituation bzw. der persönlichen Verhältnisse ist eine Rückkehr für den BF nach Afghanistan nicht möglich. Er bittet die Behörde deshalb die genannten Gründe bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen und ihm den Status eines Asylberechtigten, in eventu den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren bzw. in eventu festzustellen, dass eine Abschiebung auf Dauer unzulässig ist und ihm eine Aufenthaltsberechtigung Plus gem. § 55 AsylG zu erteilen.“

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und zu seiner maßgeblichen Situation in Österreich:

Der BF, ein afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara sowie dem schiitischen Islam an. Der BF stammt aus der Provinz Maidan Wardak, XXXX . Der BF ist ledig und kinderlos. Er besuchte im Herkunftsland keine Schule, er arbeitete zeitweise als Hilfsarbeiter. Der Vater des BF ist verstorben. Für den Lebensunterhalt der Familie kamen der BF und sein älterer Bruder im Iran auf. Der BF hat keinen Kontakt zu seiner Familie (Mutter, Bruder, Schwester/zuletzt in Kabul aufhältig). Im Zuge des letzten Telefonates teilten sie dem BF mit, dass sie aus Afghanistan flüchten wollen. Die ihm bekannte Telefonnummer ist nicht mehr verfügbar. Es ist davon auszugehen, dass sich die Familie des BF nicht mehr in Afghanistan aufhält. Dem BF fehlt es an einem familiären und sozialen Netzwerk sowie an der finanziellen Unterstützung durch seine Familie.

Der BF besuchte Deutschkurse und absolvierte das ÖSD-Zertifikat der Niveaustufe A2. Weiters nahm der BF u.a. am Unterricht an der Volkshochschule, der HAK, der Bundeshandelsakademie sowie dem BFI teil. Der BF engagierte sich ehrenamtlich bei der Caritas. Der BF verfügt über Empfehlungsschreiben und Einstellungszusagen. Der BF ist unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Gründe, die eine Verfolgung des BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat aus asylrelevanten Gründen maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden vom BF nicht glaubhaft gemacht und sind nicht hervorgekommen.

Das vom BF ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden. Das Vorbringen des BF bezüglich der Bedrohung durch die Kutschi/die Taliban konnte nicht glaubhaft gemacht werden. Der BF war keiner konkreten und individuell gegen ihn gerichteten Verfolgung oder Bedrohung durch die Taliban ausgesetzt.

Darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass dem BF wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell physische oder psychische Gewalt in Afghanistan droht. Ebenso wenig konnte festgestellt werden, dass Angehörige der Religionsgemeinschaft der Schiiten oder der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan allein aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind.

1.3. Zur Situation als Rückkehrer:

Die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan ist unverändert weder sicher noch stabil, wobei diese regional von Provinz zu Provinz und innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt variiert. Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Der BF kann aufgrund der volatilen Sicherheitslage nicht in seine Herkunftsprovinz Maidan Wardak zurückkehren. Maidan Wardak ist eine der am heftigsten umkämpften Provinzen Afghanistans und wird zum größten Teil von den Taliban kontrolliert. Die Sicherheitslage hat sich im Lauf des Jahres 2019 verschlechtert und seit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020 hat der Einfluss der Taliban in Maidan Wardak zugenommen. In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen und Luftschlägen.

Im Fall der Rückkehr des BF in die Herkunftsprovinz besteht die Gefahr, dass der BF im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Übergriffe Aufständischer misshandelt oder verletzt wird bzw. zu Tode zu kommt.

Der BF kann nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile, wie insbesondere die Städte Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif verwiesen werden.

Kabul, Herat und Balkh zählen zu den am stärksten von der COVID-19-Pandemie betroffenen Teilen Afghanistans. Die Krankheit breitet sich im ganzen Land aus. Zur Bekämpfung des Virus wurden im gesamten Land Ausgangssperren verhängt, die zur Schließung ganzer Stadtteile geführt haben. Die Bewegungsfreiheit war eingeschränkt. Geschlossen waren alle Schulen und Bildungszentren, Hotels, Parks, Sporteinrichtungen und andere öffentliche Orte. Der öffentliche Verkehr war eingestellt, Restaurants und Cafés durften nur „Take-away“-Service anbieten. Afghanistan befindet sich derzeit in der zweiten Welle der COVID-19 Pandemie. Erneute Lockdowns sind jederzeit möglich.

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert.

Häusliche Pflege und Isolation sind für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind.

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt.

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben.

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Gemäß dem WFP (World Food Program) sind zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis ...) um 18 bis 31% gestiegen. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark.

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden. In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen.

Es gibt Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind. Tagelöhner finden weniger Gelegenheitsarbeit und haben daher sinkende finanzielle Mittel um Nahrungsmittel zu kaufen. Ein großer Teil der afghanischen Arbeitskräfte ist auf den informellen Arbeitsmarkt angewiesen, der bei Arbeitsmangel kein Sicherheitsnetz bietet. Die Situation in Afghanistan entwickelt sich zu einer Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise.

Stigmatisierung von RückkehrerInnen - die primär für die Gefahr durch Corona verantwortlich gemacht werden - findet statt. Das Stigma, Seuchenüberträger zu sein, trifft auch aus Europa Eingereiste. Zu den üblichen Stigmata Abgeschobener - die bisher schon oft zu einer Verweigerung der Familien Betroffene aufzunehmen geführt haben - kommt nun noch die Sorge, dass sie mit SARS-CoV-2 infiziert sind. Aus Sicht lokaler Ärzte muss zudem davon ausgegangen werden, dass - angesichts der bestehenden Lebensbedingungen - auch junge Erwachsene mit einem schweren Verlauf der Krankheit zu rechnen haben. Rückkehrer aus Europa gelten aus Sicht lokaler Ärzte hierbei als besonders vulnerabel. Darüber hinaus besteht in der Praxis nahezu keine Chance auf Selbstisolation. Übernachtungspreise für Hotels, deren Sanitäranlagen tatsächlich die Chance auf Hygiene bieten, beginnen bei 4000Afs (ca. 50 US$) pro Nacht. Der Standard auch jener Abgeschobenen - die private finanzielle Unterstützung europäischer UnterstützerInnen haben - ist, dass sie in überfüllten Teehäusern unterkommen und dort dicht gedrängt auf dem Boden schlafen.

Die Wirtschafts- und Versorgungslage in Afghanistan war bereits zuvor schlecht. Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Millionen Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden.

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor, der 80 bis 90 % der Wirtschaftsleistung ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit existiert in Afghanistan nicht. Ein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem gibt es - von einigen Ausnahmen abgesehen (z. B. Armee und Polizei) - in Afghanistan nicht. Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht.

Dem BF wäre es im Fall einer Niederlassung in Herat (Stadt), Mazar-e Sharif oder Kabul (Stadt) nicht möglich, seinen Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen zu bestreiten und seine Lebensgrundlage zu erwirtschaften. Mit ausreichender Unterstützung durch seine Angehörigen ist nicht zu rechnen. Ihm wäre es im Fall einer Niederlassung in Herat (Stadt), Mazar-e Sharif oder Kabul (Stadt) nicht möglich, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen. Im Fall einer dortigen Ansiedlung liefe er Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

1.4. Zur Lage in der Islamischen Republik Afghanistan:

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 06.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.02.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.02.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.03.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt, um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.07.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.03.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.03.2020, AA 01.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa 4 Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.03.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Nach monatelangem erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.02.2020; vgl. FH 04.03.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.07.2020), und so ließen sich am 09.03.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.05.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.07.2020; vgl. NZZ 20.04.2020, DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.05.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.07.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.06.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, spr

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten