Entscheidungsdatum
18.01.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W140 2130798-1/25E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Alice HÖLLER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.07.2016, Zl. 1060216007 – 150363386, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 18.01.2022 erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (BF) stellte am 10.04.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 06.07.2016 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 10.04.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA- Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Es wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV). Dagegen erhob der BF fristgerecht Beschwerde.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 09.06.2017 eine mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der der BF, seine Vertretung sowie ein Dolmetscher der Sprache Dari teilnahmen.
Die Verhandlung gestaltete sich auszugsweise wie folgt:
„Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen Lebensumständen:
R: Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?
BF: Ich bin afghanischer Staatsangehöriger.
R: Woher aus Afghanistan stammen Sie?
BF: Aus der Provinz Ghazni.
R: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollständigen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort sowie Ihre Staatsangehörigkeit.
BF: Mein Name ist XXXX , ich bin am XXXX in der Provinz Ghazni im XXXX geboren.
R: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Hazara.
R: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?
BF: Ich bin schiitischer Moslem.
R: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Ich bin verheiratet.
R: Ist Ihre Frau hier?
BF: Nein, sie ist im Heimatdorf.
R: Haben Sie Kinder?
BF: Nein.
R: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF: Ich bin nur zwei Jahre in die Schule gegangen und habe außerdem Englisch gelernt. (…)
R: Haben Sie noch Familienangehörige in Afghanistan? Wenn ja, wo?
Haben Sie Kontakt zu Ihren Familienangehörigen?
BF: In Afghanistan leben noch meine Mutter und meine Ehefrau, ich bin mit ihnen in Kontakt, ich telefoniere mit ihnen einmal im Monat. (…)
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
R: Nennen Sie jetzt bitte abschließend und möglichst umfassend alle Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe). Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.
BF: Die Bewohner meiner Heimatregion sind äußert konservativ, ich habe im Heimatdorf Englisch unterrichtet, deshalb habe ich Schwierigkeiten bekommen. Man hat behauptet, dass ich wie ein Ungläubiger handle, indem ich die Sprache der Ungläubigen unterrichte. Ich weiß nicht, wer diese Leute waren, sie könnten die Taliban, die Daesh oder die Bewohner der Region gewesen sein. Ich fühlte mich in Afghanistan nicht mehr sicher und musste die Flucht ergreifen. Ich bin nach Österreich gekommen und habe hier um Schutz angesucht. Ich habe einen Winter Englisch unterrichtet, ich hatte etwa 25 Schüler. Im zweiten Winter habe ich mit dem Unterricht begonnen, ich habe etwa einen Monat und ein paar Tage unterrichtet, aber dann habe ich Schwierigkeiten bekommen und konnte den Unterricht nicht mehr fortsetzen. Im zweiten Unterrichtsjahr hatten weitaus mehr Schüler Interesse am Englischunterricht. Ich habe auf einem unserer Grundstücke ein kleines Haus gebaut, um dort die Schüler unterrichten zu können. Mein Heimatdorf XXXX liegt sehr abgelegen. In den Wintermonaten schneit es dort manchmal sehr viel, sodass man nicht aus dem Dorf in die Stadt fahren kann, um einzukaufen. Bevor der Winter einbricht, gehen die Leute aus meinem Heimatdorf ins Zentrum von XXXX , um dort Lebensmittel und andere notwendige Sachen zu kaufen. Das Zentrum liegt etwa ein bis zwei Stunden von meinem Heimatdorf entfernt, ich war im Zentrum, um dort einzukaufen. Ein Fahrer, der aus meinem Dorf stammt, hat mir die Information überbracht, dass ich im Falle einer Rückkehr ins Heimatdorf getötet werde und am besten nicht mehr zurückkehren sollte. Der Grund, weshalb ich getötet hätte werden sollen, war, dass ich Englisch unterrichtet habe, man hat von mir verlangt, Islamunterricht zu geben und nicht die Sprache der Ungläubigen zu unterrichten. Mein Kollege, der mit mir zusammen unterrichtet hat, wurde entführt. Sie wollten auch mich entführen, aber da ich nicht dort war, haben sie meinen Vater mitgenommen. Ich blieb ca. eine Woche im Zentrum von XXXX bei meinem Schwiegervater, ich wollte abwarten und sehen, was im Heimatdorf passiert. Ich habe die Information bekommen, dass der Leichnam meines entführten Kollegen am Straßenrand gefunden wurde, ich konnte nicht mehr ins Heimatdorf zurückkehren. Ich war gefährdet, ich fühlte mich nicht sicher und musste aus meinem Heimatland flüchten.
R: Was ist mit Ihrem Vater passiert?
BF: Ich weiß bis heute nicht, was mit meinem Vater passiert ist.
R: Wieso gehen Sie davon aus, dass es die Taliban oder IS-Kämpfer waren, die Sie bedroht haben?
BF: Die Taliban haben verlangt, dass die Schule im Heimatdorf geschlossen wird. Früher waren es nur die Taliban, aber mittlerweile sind auch die Daesh dazugekommen. Da sie das Zusperren der Schule verlangt haben, gehe ich davon aus, dass sie auch diejenigen sind, die mich bedrohen. Ich gehe auch davon aus, dass sie auch meinen Vater entführt haben, ich bin mir aber nicht zu 100 Prozent sicher. Vielleicht wurden sie von manchen Dorfbewohnern, die mit ihnen sympathisierten, unterstützt.
R: Wieso haben Sie überhaupt Englisch unterrichtet?
BF: Als ich Englisch gelernt habe, habe ich ein großes Interesse für diese Sprache entwickelt. Ich dachte, dass man von dieser Sprache profitieren kann. Es ist kein Verbrechen, eine Sprache zu unterrichten.
R: Sie sagten, die Dorfbewohner waren sehr konservativ. Was heißt das?
BF: Meine Dorfbewohner waren nicht offen für Neues. Sie wollten weder etwas lernen, noch wollten sie jemandem etwas beibringen. Sie wollten nicht, dass Fremde in unser Dorf kommen und wollten immer nur unter sich sein.
R: Wer waren dann die Schüler?
BF: Es waren Kinder aus dem Heimatdorf.
R: Und das hat die Dorfbewohner aufgeregt?
BF: Ja.
R: Wieso haben Sie Ihre Frau nicht mitgenommen?
BF: Als ich von der Bedrohung gehört habe, konnte ich aus Angst nicht mehr ins Heimatdorf zurückgehen, ich musste so schnell wie möglich, die Flucht ergreifen.
R: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Frau?
BF: Als ich nach Österreich gekommen bin, hatte ich zunächst keinen Kontakt. Mittlerweile stehe ich mit ihr in Kontakt.
R: Sie sprachen in Ihrer Einvernahme vor dem BFA auch von religiösen Problemen. Können Sie das näher erläutern?
BF: Damit habe ich lediglich gemeint, dass die Angehörigen der Volksgruppe der Hazara im Allgemeinen Schwierigkeiten ausgesetzt sind. Die Hazara wurden auf den Straßen angehalten und entführt. Die Verbindungsstraßen zwischen XXXX und der Stadt Ghazni waren manchmal gesperrt, weil es immer wieder zu Übergriffen auf Hazara gekommen ist. Ich persönlich wurde wegen des Englischunterrichtes bedroht, mein Leben war in Gefahr und ich musste fliehen. Die Dorfbewohner haben mir unterstellt, dass ich die Sprache der Christen unterrichte und damit auch Leute dazu bringe, zum Christentum zu wechseln. In meiner Heimatregion ist es eher üblich, dass im Winter die Kinder Islamunterricht bekommen und den Koran lesen lernen. Das Haus, in dem ich Englisch unterrichtet habe, wurde an jenem Tag, an dem mein Kollege entführt wurde, niedergebrannt und zerstört. Das waren jene Leute, die meinen Kollegen und meinen Vater entführt haben.
R: Warum haben Sie nicht aufgehört, Englisch zu unterrichten?
BF: Die Dorfbewohner sind sehr strenggläubige Muslime. Wenn man dort einmal etwas gegen den Islam macht bzw. so etwas über jemanden verbreitet wird, dann wird man verfolgt und bedroht und natürlich auch bestraft.
R: Wieso kann Ihre Frau dort ohne Probleme leben?
BF: Meine Frau lebt zwar im Heimatdorf, aber nicht problemlos. Sie gehört zu meiner Familie, ich habe aus Sicht der Dorfbewohner etwas gegen den Islam gemacht, deshalb ist die Ehre meiner Familie verletzt. Meine Mutter und meine Ehefrau werden nicht würdevoll behandelt.
R: Gibt es viele Taliban in Ihrem Ort?
BF: Auf der einen Seite meines Heimatdorfes befindet sich ein Hügel, hinter diesem Hügel wird das gesamte Gebiet von den Taliban kontrolliert. Die Taliban kontrollieren auch zum Teil die Straßen in meiner Heimatregion. Dort gibt es eine Wüstenlandschaft, wo sich ebenfalls Taliban und Daesh aufhalten. Diese Landschaft wird Dasht-e Ghojur genannt.
R: Ich werde bezüglich des Punktes, ob es in Ihrem Heimatdorf Englischunterricht gegeben hat sowie der Frage, ob die Schule niedergebrannt ist, ein Gutachten in Auftrag geben.
BFV: Ja.
BF: Die Schule war etwa hundert Meter von meinem Haus entfernt. Es war ein ebenerdiges Gebäude, es befand sich ein großer Klassenraum und ein Vorraum in der Schule. Die Mauern waren aus Tonerde und Steinen.
BF gibt nähere Details/Zeichnungen bezüglich der Schule bekannt. Die Schule brannte Ende 2014 ab.
R: Was halten Sie persönlich von den Taliban/vom IS?
BF: Ich bin Hazara und Shiit, die Taliban und die Daesh haben keinen Respekt vor uns. Sie sehen uns als Ungläubige. So wie die meisten Menschen auf der Welt bin auch ich gegen die Taliban und die Daesh (…).“
Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.06.2017 wurde eine Sachverständige aus dem Fachgebiet Allgemeine Informationen über Afghanistan bestellt.
Mit Eingabe vom 09.02.2018 wurde von der Vertretung des BF ein Empfehlungsschreiben der XXXX ( XXXX ) vom 04.02.2018 vorgelegt. Aus diesem geht u. a. hervor, dass der BF seit Oktober 2017 im Projekt MELLON tätig ist. MELLON arbeitet unter der Schirmherrschaft des Vereins VOBIS und ist eine langfristig angelegte, ehrenamtliche Initiative, deren Kernkompetenzen in einem integrativen Kursangebot (Deutschkurse/Lernbetreuung), Begleitungen und Beratungen sowie der psychosozialen Betreuung liegen. Zielgruppe sind Flüchtlinge. Der BF wird als verantwortungsbewusster und sehr zuverlässiger Mitarbeiter beschrieben. Weiters wurde eine Teilnahmebestätigung Vorbereitungslehrgang zur Pflichtschulabschlussprüfung vom 12.07.2017 sowie ein Zeugnis über die Pflichtschulabschlussprüfung (Externistenprüfungskommission der Pflichtschulabschlussprüfung an der Neuen Mittelschule XXXX ) vom 13.11.2017 vorgelegt. Im Prüfungsgebiet Deutsch-Kommunikation und Gesellschaft schloss der BF mit Befriedigend ab.
Mit Eingabe vom 13.07.2018 wurde von der Vertretung des BF ein Empfehlungsschreiben der XXXX vom 01.07.2018 vorgelegt.
Mit Eingabe vom 08.05.2019 wurden von der Vertretung des BF weitere Empfehlungsschreiben sowie eine Einstellungszusage vorgelegt.
Mit Eingabe vom 06.09.2020 wurde von der Sachverständigen nachstehendes Gutachten vorgelegt:
„1. Einleitung:
Der Rechercheauftrag bezieht sich auf die Angaben des Herrn XXXX , die er in seinem Asylverfahren getätigt hat. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem beauftragenden Bundesverwaltungsgericht werden die im Rahmen des Asylverfahrens getätigten Angaben des Herrn XXXX , zusammengefasst. Im Anschluss wird das Ergebnis der Recherche erläutert.
2. Der Recherche-Auftrag
Vom Bundesverwaltungsgericht wurden Recherchen in Afghanistan zum Fluchtgrund des Herrn XXXX in Auftrag gegeben. Der Rechercheauftrag lautet: „Die in der Niederschrift vom 09.06.2017 gemachten Aussagen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen sind zu überprüfen.“
3. Angaben des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer, XXXX , gab in seinem Asylverfahren an, afghanischer Staatsangehöriger, sowie Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und der Glaubensgemeinschaft der Shiiten zu sein. Darüber hinaus führte Herr XXXX aus, in der Provinz Ghazni, im Distrikt XXXX und im Dorf XXXX , geboren zu sein. Weiters gab er an, verheiratet zu sein und dass seine Ehefrau im Heimatdorf lebe. Er habe allerdings keine Kinder. Zu seiner Schulbildung im Herkunftsstaat berichtete Herr XXXX , dass er lediglich zwei Jahre eine Schule besucht habe und überdies English gelernt habe. Den Lebensunterhalt habe Herr XXXX , laut seinen eigenen Angaben, durch die Arbeit in der Landwirtschaft und das Unterrichten der englischen Sprache bestritten. Seine Familie habe zum Zeitpunkt der Einvernahme im Jahr 2017 von der Landwirtschaft gelebt. Er habe auch telefonischen Kontakt zur Familie.
Als Fluchtgrund gab Herr XXXX in seinem Asylverfahren vor dem BVwG an, English unterrichtet zu haben und dadurch Schwierigkeiten mit den konservativ-eingestellten Bewohnern seiner Heimatregion bekommen zu haben. Man habe ihm unterstellt, wie ein Ungläubiger zu handeln, weil er English unterrichtet habe. Herr XXXX gab bei seiner Verhandlung vor dem BVwG an, nicht zu wissen, wer diese Leute gewesen seien und gab weiters an, dass sie die Taliban, die Daesh (IS) oder die Bewohner der Region gewesen sein könnten. Herr XXXX habe sich nicht mehr sicher gefühlt und sei deshalb aus Afghanistan geflüchtet.
4. Ergebnis der Recherche
Die Recherchen wurden im Zeitraum von mehreren Monaten durchgeführt. Zunächst beauftragte ich meine Kontaktperson in Kabul, in die Heimatregion des Herrn XXXX zu fahren und die Recherchen durchzuführen. Dieser ist Tadjike und wurde als Fremder gewarnt, nicht mehr in die Nähe dieses Dorfes zu kommen. Meine Kontaktperson verließ XXXX und es nahm Zeit in Anspruch, über andere Kontakte Herrn (…) ausfindig zu machen. Für die Durchführung der Recherchen in der Provinz Ghazni, im XXXX , im Heimatort des Herrn XXXX beauftragte ich sodann meine aus Jaghori stammende Kontaktperson, Herrn (…). Ich bat ihn, in das Heimatdorf des Herrn XXXX zu gehen und für die Recherchen relevante Informationen bezüglich der Arbeit des Herrn XXXX als Englischlehrer einzuholen.
Herr (…) teilte mir mit, dass er im Heimatdorf des Beschwerdeführers mit den Einheimischen sprechen konnte. Die meisten der befragten Personen seien zurückhaltend gewesen und nicht bereit, Informationen über Dorfbewohner und Geschehnisse in ihrer Region preiszugeben. Nachgefragt, ob es zum Zeitpunkt der Flucht des Herrn XXXX im Heimatdorf Probleme mit den Taliban oder den Daesh gab, erzählten die befragten Personen, dass diese Gruppierungen damals im gesamten Distrikt weder präsent noch aktiv waren und ihnen derartige Probleme, wie der Beschwerdeführer sie geschildert hat, nicht bekannt wären. Nachgefragt, ob ihnen bekannt sei, dass ein Dorfbewohner im Dorf Englisch unterrichtet habe, gaben die befragten Personen an, dass es schon mehrere engagierte Leute im Dorf gegeben habe, die Englischunterricht, aber auch Unterricht in Mathematik und Dari angeboten haben. Allerdings könnten sie sich nicht an einen konkreten Fall erinnern, bei dem ein Englischlehrer deswegen Probleme mit den Dorfbewohnern bekommen hätte, zumal die meisten Familien den Wunsch haben, dass ihre Kinder eine Schulbildung bekommen. Sie konnten jedoch bestätigen, dass in ihrem Dorf möglicherweise mehr konservative Menschen leben, als in zentral gelegenen Dörfern, zumal sich das Heimatdorf des Herrn XXXX tatsächlich in einem abgelegenen Gebiet befinde. Es konnte auch nicht bestätigt werden, dass ein Kollege des Herrn XXXX im Zusammenhang mit dem Englischunterricht Opfer eine Entführung geworden sei und dessen Leichnam am Straßenrand aufgefunden worden sei. Auch zur vom Herrn XXXX angegebenen Entführung seines Vaters konnte keine der befragten Personen Angaben machen. Die Angaben des Herrn XXXX konnten leidglich dahingehend bestätigt werden, als dass viele Menschen tatsächlich vor dem Winterbeginn in die Stadt fahren, um Vorräte anzulegen. Ebenfalls konnten die Angaben des Herrn XXXX dahingehend, dass die Taliban verlangt hätten, die Schulen zu schließen, bestätigt werden. Die befragten Personen ergänzten in diesem Zusammenhang, dass die Taliban im Allgemeinen in ganz Afghanistan gegen Schuldbildung wären und Schulen sogar niedergebrannt hätten. Die Angaben des Herrn XXXX bezüglich der Dorfbewohner, dass sie keine fremden Menschen in ihrem Dorf akzeptiert hätten und lediglich unter sich sein wollte, kann insofern bestätigt werden, als dass meiner der Volksgruppe der Tadjiken angehörende Kontaktperson nicht erlaubt wurde, sich im Heimatdorf des Herrn XXXX aufzuhalten und aufgefordert wurde, den Ort zu verlassen. Laut dieser Kontaktperson haben die Einheimischen kein Vertrauen zu anderen und sehen in jeder fremden Person eine potenzielle Gefahr. Die befragten Personen konnten bestätigen, dass Angehörige der Volksgruppe der Hazara in ganz Afghanistan im Allgemeinen immer wieder Probleme mit den Taliban und den Daesh haben. Auch erzählten diese übereinstimmend, dass es auf den Straßen oft zu Anhaltungen der Hazara durch die Taliban gekommen sei, ergänzten jedoch, dass Angehörige anderer in Afghanistan lebender Volksgruppen ebenfalls von solchen Vorfällen betroffen wären. Weitere Angaben konnten die befragten Dorfbewohner nicht machen.“
Das Gutachten wurde mit Parteiengehör vom 15.09.2020 den Parteien zur Kenntnis gebracht. Mit Schriftsatz vom 23.09.2020, eingelangt am 25.09.2020, übermittelte der BF durch seine Vertretung eine Stellungnahme zum Sachverständigengutachten.
Mit Eingabe vom 06.10.2020 wurde von der Vertretung des BF ein Schreiben von Herrn Mag. XXXX (Sprachdienstleistungen, Text- und Bildgestaltung) übermittelt, aus dem hervorgeht, dass der BF äußerst kommunikativ ist und ein produktives Deutsch spricht, er sei auf dem besten Weg eine B1-Prüfung zu machen. Er habe sehr viele Kontakte mit ansässigen Menschen geknüpft. Er kenne den BF aus dem Sprachcafé von VOBIS (Verein für offene Begegnungen und Integration durch Sprache). Weiters wurde eine Bestätigung der Universität Klagenfurt sowie ein weiteres Empfehlungsschreiben übermittelt.
Mit Eingabe vom 23.12.2020 übermittelte der BF durch seine Vertretung eine ergänzende Stellungnahme mit folgendem Inhalt:
„Der Beschwerdeführer hat vorgebracht dass sein Vater nach wie vor verschwunden ist. In seiner Herkunftsprovinz leben derzeit nur seine Mutter und seine Ehefrau. Es ist nicht davon auszugehen, dass diese unterstützungsfähig sind. Vielmehr müsste der BF seine Familie bei einer Rückkehr unterstützen.
Aufgrund der Volatilität der Herkunftsregion des Beschwerdeführers ist eine Rückkehr dorthin ausgeschlossen, da er dort jederzeit Opfer von willkürlicher Gewalt werden kann und das reale Risiko einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK vorliegt.
Aufgrund seiner Ehe ist der BF nicht als alleinstehender junger gesunder Mann zu qualifizieren, sondern müsste er für sich, seine Frau und seine Mutter am theoretischen Ort einer Neuansiedlung eine Lebensgrundlage erwirtschaften können, wenn er von seinem Recht auf Familienleben in Afghanistan Gebrauch machen würde. Es ist aufgrund der Lage in Afghanistan derzeit nicht davon auszugehen, dass der BF für sich, seine Frau und seine Mutter an einem Ort ohne Unterstützungsnetzwerk eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative vorfinden kann.
Der BF kann überall Opfer von willkürlicher Gewalt werden.
Das allgemeine Gefahrenniveau in Afghanistan und die Wahrscheinlichkeit, Opfer von willkürlicher Gewalt zu werden, ist extrem hoch.
Dazu grundlegend EuGH .Elgafaji, C-465/07, 17.02.2009, zu Art.15 Abs. 3 lit c iVm Art. 2 lit. e StatusRL alte Fassung:
„Ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, das sie aufgrund ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist" (Leitsatz)
EGMR vom 28.06.2011 zu 8319/07,11449/07 - Sufi und Elmi gg. UK, RZ 217:
„Es kommt gerade nicht darauf an, dass der*die Betroffene die Existenz von speziellen ihn aus der Allgemeinheit heraushebenden Aspekten seines Falles aufzeigen muss, wenn er jedenfalls aufzeigen kann, dass die allgemeine Situation der Gewalt im Zielland ein ausreichendes Maß an Intensität aufweist um eine konkrete Gefahr zu bewirken."
Aus diesen Urteilen wurde folgender Grundsatz entwickelt:
Die allgemeine Schadensgefahr wird gegen individuelle Gefährdungsgründe abgewogen.
Wie in Elgafaji in Rn 39 ausgeführt, verringert sich das Erfordernis des Grades der Intensität der allgemeinen Situation der Gewalt je mehr der BF nachzuweisen vermag, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation betroffen ist.
Rn 39 Elgafaji:
„Dies ist dahin zu präzisieren, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist.“
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass je höher das allgemeine Gefahrenniveau ist, die vom BF nachzuweisende außergewöhnliche individuelle Situation umso geringer sein muss, damit ein reales Risiko einer Verletzung der in Art. 3 EMRK garantierten Rechte vorliegt.
Der Grad der allgemeinen Gewalt in Afghanistan ist laut bereits veralteter Rechtsprechung des EGMR gerade noch nicht so hoch, dass eine Zivilperson allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. Elgafaji, Rn 35). Jedoch bedarf es in einem Land wie Afghanistan einer viel geringeren Abweichung von der Norm der Mehrheitsbevölkerung als dies in anderen Ländern nötig wäre, um einer Gefahr ausgesetzt zu sein.
Der BF ist ist als Englischlehrer und Person ohne unterstützungsfähiges Netzwerk jedenfalls in einer exzeptionellen Situation, welche ihn viel leichter einer Gefahr gem. Art. 3 EMRK aussetzt.
Allgemeine Ausführungen zur Zumutbarkeitsprüfung einer IFA/
Aus der VwGH-Judikatur geht klar hervor, dass das Zumutbarkeitskalkül nicht die Schwelle eines Eingriffes in durch Art 3 EMRK geschützte Rechte erreichen muss, da in seinem solchen Fall mangels Relevanz gar keine IFA vorliegen würde (vgl. VwGH vom 16.12.2010, 2007/20/0913).
Bei der Prüfung der Zumutbarkeit ist gemäß den Richtlinien von UNHCR zur Innerstaatlichen Fluchtalternative vom 23.07.2003 nicht an dem Maßstab einer vernunftbegabten Person anzulegen sondern es sind die individuellen Umstände des einzelnen der Prüfung zu Grunde zu legen.
Insbesondere sind dabei die persönlichen Umstände des Antragstellers - wie Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, die familiäre Situation im Heimatland, ethnische, kulturelle und sonstige Überlegungen, die Berufsausbildung und etwaige Diskriminierungen - die Frage des wirtschaftlichen Überlebens, die Frage der Wahrung der Menschenrechte und die Gefahr der Retraumatisierung zu prüfen. Eine IFA ist jedenfalls nur dann zumutbar, wenn dieser Ort auf Dauer Sicherheit bietet.
Den Richtlinien von UNHCR ist gemäß der Rechtsansicht des VwGH (vom 16.12.2010, 2006/01/0788 und vom 10.12.2014, Ra 2014/18/0103 explizit zu Afahanistan) besondere Beachtung zu schenken; es kommt ihnen Indizwirkung zu (VwGH vom 16.12.2010, 2006/01/0788). Der VwGH führt im zitierten Erkenntnis aus, dass in Hinblick auf die Richtlinie des UNHCR eine innerstaatliche Fluchtalternative nur dann gegeben ist, wenn es „der Person angesichts ihrer persönlichen Umstände zugemutet werden kann, sich niederzulassen und ein normales Leben zu führen" .
Die höchstgerichtliche Judikatur verlangt eine entsprechende „ausreichende Beschäftigung mit dem der innerstaatlichen Fluchtalternative innewohnenden Zumutbarkeitskalkül", d.h. nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage des Revisionswerbers in dem in Frage kommenden Gebiet" (VwGH 23.02.2016 zur Zahl Ra 2015/20/0233).
Wird die IFA für relevant angesehen, hat jene Seite, die dies behauptet, das entsprechende Neuansiedlungsgebiet zu ermitteln und nachzuweisen, dass es sich dabei um eine für den/die Betroffene/n zumutbare Alternative handelt. Die Behörde trägt bei der Behauptung es läge eine IFA vor somit die Beweislast (vgl. VwGH vom 09.09.2003. 2002/01/0497 und vom 14.12.2006, 2006/01/0691 und vom 16.12.2010. 2006/01/0788). Es ist „dem "Ausschlusscharakter" der internen Schutzalternative entsprechend - Sache der Behörde die Existenz einer [allfälligen] internen Schutzalternative aufzuzeigen und nicht umgekehrt Sache des Asylwerbers, die Annahme einer theoretisch möglichen derartigen Alternative zu widerlegen" (VwGH 09.09.2003. 2002/01/0497).
Wie bereits in der letzten Stellungnahme vorgebracht, ist die Situation in den einzigen als IFA in Betracht kommenden Orten, Mazar-e Sharif und Herat, durch die COVID-19 Pandemie extrem prekär geworden. Der BF muss seine Frau und seine Mutter versorgen und hat lediglich Berufserfahrung als Englischlehrer, was ihn immer und überall in Afghanistan erneut einer Gefahr aussetzen kann.
Er hat in diesen Orten überhaupt kein unterstützungsfähiges Netzwerk und muss als Hazara zwar gem. rezenter Judikatur nicht mit einer Gruppenverfolgung rechnen, jedoch sind trotzdem Diskriminierungen zu erwarten, die für sich alleine genommen wohl nicht die Schwelle der Asylrelevanz überschreiten, jedoch müssen sie auch bei der Entscheidung über die Zumutbarkeit einer IFA berücksichigt werden.“
Mit Eingabe von 07.01.2021 legte der BF ein ÖSD-Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachkompetenz / Werte- und Orientiereungswissen Niveu B1 vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und zu seiner maßgeblichen Situation in Österreich:
Der BF, ein afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara sowie dem schiitischen Islam an. Der BF stammt aus der Provinz Ghazni, XXXX . Der BF lebte dort bis zu seiner Ausreise. Der BF ist verheiratet und kinderlos. Die Familie des BF (seine Mutter und seine Ehefrau) befindet sich nach wie vor im Heimatdorf. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Mutter und Ehefrau des BF unterstützungsfähig sind. Der BF besuchte in Afghanistan zwei Jahre die Schule und lernte die englische Sprache. Der BF verfügt über kein unterstützungsfähiges Netzwerk in Afghanistan.
Der BF absolvierte im Bundesgebiet die Pflichtschulabschlussprüfung und ist als ehrenamtlicher Mitarbeiter - Englischlehrer - im Rahmen eines Projektes (Projekt MELLON) der XXXX tätig. Der BF verfügt über eine Einstellungszusage und Empfehlungsschreiben. Der BF absolvierte am 04.01.2021 die ÖSD Integrationsprüfung B1. Der BF ist unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Gründe, die eine Verfolgung des BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat aus asylrelevanten Gründen maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden vom BF nicht glaubhaft gemacht und sind nicht hervorgekommen.
Das vom BF ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden. Das Vorbringen des BF bezüglich der Bedrohung durch die Taliban, Daesh (IS) oder die Bewohner des Dorfes konnte nicht glaubhaft gemacht werden.
Darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass dem BF wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell physische oder psychische Gewalt in Afghanistan droht. Ebenso wenig konnte festgestellt werden, dass Angehörige der Religionsgemeinschaft der Schiiten oder der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan allein aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind.
1.3. Zur Situation als Rückkehrer:
Die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan ist unverändert weder sicher noch stabil, wobei diese regional von Provinz zu Provinz und innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt variiert. Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.
Der BF kann aufgrund der volatilen Sicherheitslage nicht in seine Herkunftsprovinz Ghazni zurückkehren. Ghazni gehörte im August 2020 zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Talibankämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Im Juli 2020 gaben Bewohner von Ghazni an, dass Talibankämpfer bis in die Nähe des Sicherheitsgürtels um die Stadt Ghazni vorgedrungen seien und die Straßen zur Provinzhauptstadt blockiert hätten. Einem UN-Bericht zufolge ist Al-Qaida in zwölf afghanischen Provinzen verdeckt aktiv, darunter auch in Ghazni.
Im Fall der Rückkehr des BF in die Herkunftsprovinz besteht die Gefahr, dass der BF im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Übergriffe Aufständischer misshandelt oder verletzt wird bzw. zu Tode kommt.
Der BF kann nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile, wie insbesondere die Städte Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif verwiesen werden.
Kabul, Herat und Balkh zählen zu den am stärksten von der COVID-19-Pandemie betroffenen Teilen Afghanistans. Die Krankheit breitet sich im ganzen Land aus. Zur Bekämpfung des Virus wurden im gesamten Land Ausgangssperren verhängt, die zur Schließung ganzer Stadtteile geführt haben. Die Bewegungsfreiheit war eingeschränkt. Geschlossen waren alle Schulen und Bildungszentren, Hotels, Parks, Sporteinrichtungen und andere öffentliche Orte. Der öffentliche Verkehr war eingestellt, Restaurants und Cafés durften nur „Take-away“-Service anbieten. Afghanistan befindet sich derzeit in der zweiten Welle der COVID-19 Pandemie. Erneute Lockdowns sind jederzeit möglich.
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert.
Häusliche Pflege und Isolation sind für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind.
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt.
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben.
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Gemäß dem WFP (World Food Program) sind zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis ...) um 18 bis 31% gestiegen. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark.
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden. In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen.
Es gibt Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind. Tagelöhner finden weniger Gelegenheitsarbeit und haben daher sinkende finanzielle Mittel um Nahrungsmittel zu kaufen. Ein großer Teil der afghanischen Arbeitskräfte ist auf den informellen Arbeitsmarkt angewiesen, der bei Arbeitsmangel kein Sicherheitsnetz bietet. Die Situation in Afghanistan entwickelt sich zu einer Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise.
Stigmatisierung von RückkehrerInnen - die primär für die Gefahr durch Corona verantwortlich gemacht werden - findet statt. Das Stigma, Seuchenüberträger zu sein, trifft auch aus Europa Eingereiste. Zu den üblichen Stigmata Abgeschobener - die bisher schon oft zu einer Verweigerung der Familien Betroffene aufzunehmen geführt haben - kommt nun noch die Sorge, dass sie mit SARS-CoV-2 infiziert sind. Aus Sicht lokaler Ärzte muss zudem davon ausgegangen werden, dass - angesichts der bestehenden Lebensbedingungen - auch junge Erwachsene mit einem schweren Verlauf der Krankheit zu rechnen haben. Rückkehrer aus Europa gelten aus Sicht lokaler Ärzte hierbei als besonders vulnerabel. Darüber hinaus besteht in der Praxis nahezu keine Chance auf Selbstisolation. Übernachtungspreise für Hotels, deren Sanitäranlagen tatsächlich die Chance auf Hygiene bieten, beginnen bei 4000Afs (ca. 50 US$) pro Nacht. Der Standard auch jener Abgeschobenen - die private finanzielle Unterstützung europäischer UnterstützerInnen haben - ist, dass sie in überfüllten Teehäusern unterkommen und dort dicht gedrängt auf dem Boden schlafen.
Die Wirtschafts- und Versorgungslage in Afghanistan war bereits zuvor schlecht. Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Millionen Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden.
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor, der 80 bis 90 % der Wirtschaftsleistung ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit existiert in Afghanistan nicht. Ein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem gibt es - von einigen Ausnahmen abgesehen (z. B. Armee und Polizei) - in Afghanistan nicht. Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht.
Dem BF wäre es im Fall einer Niederlassung in Herat (Stadt), Mazar-e Sharif oder Kabul (Stadt) nicht möglich, seinen Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen zu bestreiten und seine Lebensgrundlage zu erwirtschaften. Mit ausreichender Unterstützung durch seine Angehörigen (Mutter, Frau) ist nicht zu rechnen. Ihm wäre es im Fall einer Niederlassung in Herat (Stadt), Mazar-e Sharif oder Kabul (Stadt) nicht möglich, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen. Im Fall einer dortigen Ansiedlung liefe er Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.
1.4. Zur Lage in der Islamischen Republik Afghanistan:
Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 06.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.02.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.02.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.03.2020; vgl. Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt, um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.07.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.03.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.03.2020, AA 01.10.2020).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa 4 Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.03.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).
Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Nach monatelangem erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.02.2020; vgl. FH 04.03.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.07.2020), und so ließen sich am 09.03.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.05.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.07.2020; vgl. NZZ 20.04.2020, DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.05.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.07.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.06.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004; USDOS 20.06.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.07.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.07.2020; vgl. DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.07.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist Personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020; REU 06.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida, keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.02.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 06.10.2020; vgl. AJ 05.10.2020, BBC 22.09.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 05.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Rgierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.09.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 06.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.09.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 05.10.2020).
(Auszug Länderinformation 16.12.2020, Kapitel 4).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar Bewegungsfreiheit2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).
Für den Berichtszeitraum 01.01.2020 - 30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.07.2020).
Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonalen Trends gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.03.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes HalbJahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.01.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen