TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/18 L518 2153207-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.01.2021
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Entscheidungsdatum

18.01.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


L518 2153207-1/11E
L518 2153237-1/11E
L518 2153233-1/8E
L518 2153226-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. STEININGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX und XXXX , geb. XXXX , alle StA. Armenien, die minderjährigen Beschwerdeführer vertreten durch XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.03.2017, Zl. XXXX , Zl. XXXX , Zl. XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.09.2020 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

I.1. Die beschwerdeführenden Parteien (in weiterer Folge gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch kurz als „bP1“ bis „bP4“ bezeichnet), sind Staatsangehörige der Republik Armenien. Die bP 1-3 brachten nach rechtswidriger Einreise in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich am 27.01.2015 bei der belangten Behörde (in weiterer Folge „bB“) Anträge auf internationalen Schutz ein. Für die in Österreich geborene bP 4 wurde unter Vorlage von Geburtsurkunde und ZMR-Auszug am 08.01.2016 von der bP 2 als gesetzliche Vertreterin ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht.

Die männliche bP1 und die weibliche bP2 sind Ehegatten und Eltern der minderjährigen bP 3-4.

I.2.1. Vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte die bP 1 im Wesentlichen Folgendes vor:

F: Warum haben Sie Ihr Land verlassen (Fluchtgrund)?

A: Anfang August 2014 wurde ich von der Armee einberufen, um an den Grenzen von Armenien zu dienen. Zu der Zeit gab es extreme Unruhen mit Aserbaidschan, wobei mich sehr viele Todesnachrichten von anderen armenischen Soldaten erreichten. Vor einigen Jahren wurde eine meiner Nieren entfernt und ich wurde von der Armee damals bei der Musterung als untauglich erklärt. Jedoch zwang man mich im August 2014 trotz meiner schlechten Gesundheit an die Grenze als Soldat zu gehen. Ich weigerte mich jedoch wegen meiner schlechten Gesundheit, ich wurde deshalb öfter bedroht. Man drohte mir und meiner Familie etwas anzutun, sollte ich nicht freiwillig mitkommen an die Grenze. Eines Tages im August kamen sie zu mir nach Hause und gaben mir einen Tag Zeit mich zu entscheiden. Dies gab mir den Anlass eine Bekannte anzusprechen, die in Jerewan ein Haus hatte und uns dann schließlich nach Jerewan mitnahm und in ihrem Haus versteckte. Wir versteckten uns bis zum 23. Jänner 2015 in ihrem Haus und flüchteten nach Europa, da ich in ganz Armenien der ganzen Gefahr ausgesetzt gewesen wäre.

F:Was befürchten Sie bei einer Rückkehr in Ihre Heimat?

A: Ich habe Angst, da Gefahr für mich und meine Familie in Armenien herrscht. Diese Männer sind zu allem im Stande.

I.2.2. Vor der belangten Behörde brachte die bP 1 unter Beiziehung eines Dolmetschers, mit welchem keine Verständigungsschwierigkeiten vorgebracht wurden, zum Fluchtgrund im Wesentlichen Folgendes vor:

Wenn ich nun aufgefordert werde meine Flucht- und Asylgründe von Beginn an ausführlich zu schildern, gebe ich an:

Alle sechs Monate bekam ich eine Ladung vom Militärkommissariat. Ich sollte dort erscheinen, um meinen Militärdienst abzuleisten. Aufgrund meiner Krankheit konnte ich das aber nicht machen. Eine Zeit lang wurde ich in Ruhe gelassen. An der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan ist die Lage aber immer angespannt. Anfang August 2014, am Abend sind ein paar Militärangehörige in unser Haus gekommen. Ich war krank. Sie wollten mich zwingen, dass ich freiwillig an der Grenze meinen Militärdienst ableiste. Wir haben aber immer wieder gehört, dass dort die Lage sehr angespannt ist und es dort sehr viele Opfer gibt. Ich sagte, dass ich nicht im Stande bin das zu machen. Sie sagten, dass mein gesundheitlicher Zustand sie nicht interessiert und ich das tun muss. Sie haben aber schon gesehen, dass es mir wirklich nicht gut geht und ich Fieber habe. Sie sagten, dass ich am nächsten Tag im Militärkommissariat erscheinen muss. Sie haben mich bedroht, dass mir etwas Schlechtes passieren wird, wenn ich es nicht tue. Beim Verlassen des Hauses haben sie gedroht, dass sie mich trotzdem abholen kommen, auch wenn ich nicht erscheine und dass ich es ja nicht wagen soll, zu flüchten. Die Lage war sehr angespannt und stressig zu Hause. 100 Meter entfernt wohnte eine alte Frau. Sie sagte meiner Frau, dass sie in Jerewan eine Wohnung hätte und dass wir vorübergehend dort wohnen könnten. In der gleichen Nacht sind wir nach Jerewan gefahren. Zwei Wochen später haben wir von der alten Frau erfahren, dass diese Leute immer wieder zu uns kommen. Wir dachten uns, dass sich zwei Monate später alles beruhigen wird und wir in Ruhe gelassen werden. Diese alte Frau sagte uns, dass wir ausreisen sollen, wenn wir eine Möglichkeit haben. Sie wollte auch wegen uns keine Probleme haben. Da sie unsere nächste Nachbarin war, wurde sie vom Militär gewarnt, sie solle uns ausrichten, dass uns nichts Gutes erwartet. Wir haben sie ersucht, dass wir noch weitere zwei Monate in der Wohnung bleiben dürfen. Sie sagte, dass es die letzte Frist wäre und wir dann ausziehen sollen. Im Dezember 2014 haben wir den Entschluss gefasst auszureisen. Danach haben wir unsere Ausreise organisiert und sind am XXXX 2015 ausgereist.

F: Wann bekamen Sie Ihre erste Ladung zum Militärdienst?

A: Nachdem mein 18. Lebensjahr vollendet war.

F: Seitdem haben Sie alle sechs Monate diese Vorladung bekommen?

A: Zuerst zwei bis drei Jahre lang und danach nicht mehr. Von 2008 bis zu meiner Ausreise dann wieder alle sechs Monate.

F: Seit wann leiden Sie an Ihrer Nierenerkrankung?

A: Seit meinem 15. Lebensjahr.

F: Wann wurde Ihnen eine Niere entfernt?

A: Am XXXX 2002.

F: Wurden Sie nicht aufgrund Ihrer Erkrankung vom Militärdienst befreit?

A: Nein.

F: Weshalb nicht?

A: Man sagte mir, dass ich gesund sei. Ich kann ja gehen….also muss ich den Dienst ableisten. Es gab Fälle, dass Personen mit schwacher Sehkraft auch zum Militärdienst mitgenommen wurden.

F: Was stand in all diesen Vorladungen?

A: Dass ich an einem bestimmten Tag dort erscheinen muss.

F: Haben Sie auf diese Ladungen reagiert und sind dann an diesen Tagen dorthin gegangen?

A: Manchmal ja und manchmal – wenn es mir schlecht ging – nicht. Meistens bin ich nicht hingegangen, weil es mir gesundheitlich schlecht ging.

F: Was war die Reaktion des Militärkommissariats, wenn Sie nicht hingegangen sind?

A: Die Reaktion war sehr schlecht. Zwei Tage später kam jemand zu uns nach Hause und hat mich gewarnt, auf eine schlechte Art und Weise: ich meine damit, dass ich bedroht wurde, dass ich unbedingt dort erscheinen muss.

F: War das nur beim letzten Mal so, oder jedes Mal, wenn Sie der Vorladung nicht Folge geleistet haben?

A: All die Jahre wurde ich bedroht. Mir wurde jedes Mal gesagt, dass sie am nächsten Tag kommen und mich mitnehmen würden. Ich weiß aber nicht, aus welchem Grund sie nie gekommen sind.

F: Warum sind Sie gerade im August 2014 bzw. im Jänner 2015 weggegangen, wenn Sie doch schon so viele Jahre hindurch bedroht wurden?

A: Weil diesmal mein Leben in Gefahr war und auch das Leben meiner Familie.

F: Sie sagten doch vorhin, dass Sie jedes Mal bedroht worden wären?!

A: Weil die Lage an der Grenze angespannt ist. Dort sterben täglich Menschen, es gibt täglich Opfer.

I.2.3. bP2 – bP4 beriefen sich auf die Gründe der bP1 und auf den gemeinsamen Familienverband.

Vorgelegt vor dem BFA wurde von den bP:

?        Arztbefund in russischer Sprache

?        Kursbestätigungen in Österreich

I.3. Die Anträge der bP auf internationalen Schutz wurden folglich mit im Spruch genannten Bescheiden der bB gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die bP eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei.

Eine Frist zur freiwilligen Ausreise wurde mit 14 Tagen gewährt.

In Bezug auf sämtliche bP wurde ein im Spruch inhaltlich gleichlautender Bescheid erlassen, weshalb sich aus dem Titel des Familienverfahrens gem. § 34 AsylG ebenfalls kein anderslautender Bescheid ergab.

I.3.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung erachtete die bB das Vorbringen der bP in Bezug auf die Existenz einer aktuellen Gefahr einer Verfolgung als nicht glaubhaft und führte hierzu Folgendes aus (Wiedergabe aus dem angefochtenen Bescheid in Bezug auf bP 1):

Ihr Vorbringen war vage, zum Teil widersprüchlich und nicht glaubhaft.

Im Wesentlichen gaben Sie an, man hätte Sie mehrmals zum Militärdienst einberufen und Sie hätten nicht Folge geleistet. Da Sie Anfang August 2014 diesbezüglich bedroht worden wären, hätten Sie aus Angst um das Leben Ihrer Familie und Ihr eigenes Leben Armenien verlassen.

Ihr Vorbringen war nicht schlüssig und nicht nachvollziehbar. Laut Ihren Angaben bei der Erstbefragung wären Sie „vor einigen Jahren“, nach Entfernung einer Niere, bei der Musterung als Wehrdienstuntauglich befunden. Im Jahr 2014 jedoch hätte man Sie trotz Ihres schlechten Gesundheitszustandes an die Grenze zum Militärdienst einberufen wollen.

Bei Ihrer Einvernahme in Graz gaben Sie an, Sie wären nie vom Militärdienst befreit gewesen, da man sich nicht für Ihren Gesundheitszustand interessiert hätte. Abgesehen von diesem Widerspruch machten Sie folgende, nicht glaubhafte Angaben:

Sie hätten von 2008 bis August 2014 alle sechs Monate eine Vorladung vom Militär erhalten, hätten diesen Ladungen jedoch meistens nicht Folge geleistet. Es ist weder nachvollziehbar noch glaubhaft, dass das Militär jemanden jahrelang lediglich versuchen würde einzuberufen, ohne dass der „Dienstentzug“ Konsequenzen haben würde!

In weiterer Folge ist auch folgende Schilderung unglaubwürdig:

Im August 2014 hätte man Sie zu Hause aufgesucht, um Sie einzuberufen und hätte Ihnen gedroht im Falle, dass Sie fliehen würden. Man hätte Ihnen aufgrund Ihres Gesundheitszustandes (Fieber) mitgeteilt, dass Sie sich am nächsten Tag bei der Militärbehörde einzufinden hätten – andernfalls würde man Sie holen. Abgesehen davon, dass es nicht nachvollziehbar erscheint, dass die Behörde nach jahrelangem Entzug noch einen Tag Frist gewähren sollte, gaben Sie zuvor an, man hätte sich um Ihren Gesundheitszustand nicht gekümmert. Weshalb also sollte man Ihnen dann noch einen Tag Frist gewähren? Abgesehen davon gaben Sie an, man hätte Ihnen gesagt, Sie sollten bis zum nächsten Tag eine Entscheidung treffen. Weshalb sollte man Sie einerseits zwangsweise zum Militärdienst einberufen und Ihnen andererseits einen Tag „Bedenkzeit“ geben?!

Hinzu kommt, dass laut den ho. vorliegenden Länderinformationen jeder armenische Mann bis zum 27. Lebensjahr zum Wehrdienst verpflichtet ist. Weshalb also sollte sich die Behörde jahrelang die Mühe immer wieder kehrender Einberufungen machen und dann gerade zu einem Zeitpunkt als Sie das Höchstalter überschritten hätten Ihre Familie und Sie bedrohen – also zu einem Zeitpunkt, da Sie überhaupt nicht mehr verpflichtet gewesen wären, Ihren Wehrdienst abzuleisten?!

Abgesehen davon geht weiters aus den Länderinformationen hervor, dass Wehrpflichtige, die sich zunächst ihrer Wehrpflicht entzogen haben, trotz vorhandener Strafvorschriften grundsätzlich nicht mit einer Bestrafung rechnen müssen, wenn sie sich nach Rückkehr bei der zuständigen Einberufungsbehörde melden. Auch bereits eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen Wehrdienstentzugs werden in solchen Fällen eingestellt. Männer über 27 Jahre, die sich der Wehrpflicht entzogen haben, können gegen Zahlung einer Geldbuße die Einstellung der strafrechtlichen Verfolgung erreichen.

Zusammenfassend wird festgehalten, dass es im Asylverfahren nicht ausreichend ist, dass der Asylwerber Behauptungen aufstellt, sondern er muss diese glaubhaft machen. Dazu muss das Vorbringen in gewissem Maß substantiiert und nachvollziehbar sein, die Handlungsabläufe den allgemeinen Lebenserfahrungen entsprechen und auch der Asylwerber persönlich glaubwürdig sein. Ihre Angaben zu den Fluchtgründen entsprechen diesen Anforderungen nicht. Sie sind vage, nicht plausibel nachvollziehbar, allgemein gehalten, zum Teil widersprüchlich und als nicht glaubhaft zu bezeichnen. Die Behörde gelangt demnach zu dem Schluss, dass dem behaupteten Sachverhalt bezüglich einer aktuellen Bedrohungssituation in Armenien kein Glauben geschenkt wird.

In Bezug auf die weitern bP wurde in sinngemäßer Weise argumentiert.

I.3.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Armenien traf die belangte Behörde ausführliche und schlüssige Feststellungen. Aus diesen geht hervor, dass in Armenien bzw. der Herkunftsregion der bP von einer unbedenklichen Sicherheitslage auszugehen und der armenische Staat grundsätzlich gewillt und befähigt ist, sich auf seinem Territorium befindliche Menschen vor Repressalien Dritte wirksam zu schützen. Ebenso ist in Bezug auf die Lage der Menschenrechte davon auszugehen, dass sich hieraus in Bezug auf die bP ein im Wesentlichen unbedenkliches Bild ergibt. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass in der Republik Armenien die Grundversorgung der Bevölkerung gesichert ist, eine soziale Absicherung auf niedrigem Niveau besteht, die medizinische Grundversorgung flächendeckend gewährleistet ist, Rückkehrer mit keinen Repressalien zu rechnen haben und in die Gesellschaft integriert werden. Das Sozialsystem und das Gesundheitswesen sind auch Rückkehrern zugänglich. Darüber hinaus bestehen in Armenien karitativ tätige Organisationen, welche auch Rückkehrern zugänglich sind.

I.3.3. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam. Es hätten sich weiters keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar, weshalb Rückehrentscheidung und Abschiebung in Bezug auf Armenien zulässig sind.

I.4. Gegen die im Spruch genannten Bescheide wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

Im Wesentlichen wurde vorgebracht, dass der bP 1 in Armenien Verfolgung drohe, da sie trotz ihres äußerst kritischen Gesundheitszustandes mehrfach aufgefordert worden sei, sich dem Militärdienst bzw. dem Kampf zur Verfügung zu stellen. Sie sei den alle sechs Monate eintreffenden Ladungen vom Militärkommissariat nicht nachgekommen. Von 2008 – 2014 sei sie vom Militärdienst befreit gewesen, als sich der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan im Sommer 2014 zuspitzte, habe das armenische Militär jedoch damit begonnen, Männer vermehrt einzuberufen, die bisher befreit waren bzw. das übliche Höchstalter überschritten hätten.

Aufgrund des gesundheitlichen Zustandes und der pazifistischen Einstellung sei die bP 1 nicht gewillt zu kämpfen. Mehrfach sei die bP 1 bedroht worden vom Militär und werde der bP 1 deshalb eine regierungsfeindliche politische Gesinnung unterstellt.

Die bP hätten ein glaubwürdiges Vorbringen erstattet und würde dieses in den Länderberichten Deckung finden.

Der bB sei ein mangelndes Ermittlungsverfahren vorzuwerfen, da sie keine Nachforschungen zur Einberufungspraxis und den Folgen der Wehrdienstverweigerung in Armenien getätigt hätte. Es wären keine amtswegigen Nachforschungen im Heimatland der bP durchgeführt worden und seien die Länderfeststellungen nicht aktuell. Die bB habe sich auch nicht damit auseinandergesetzt, ob die bP in Armenien eine Lebensgrundlage aufbauen können.

Es wurde zum Beweis für die Richtigkeit der Angaben der bP beantragt, dass das BVwG Nachforschungen im Heimatland durchführt.

Die Frist des § 16 Abs. 1 BFA-VG sei verfassungswidrig und wären die bP in Österreich integriert.

Vorgelegt mit der Beschwerde wurde von den bP:

?        Unterstützungsschreiben aus dem kirchlichen Umfeld

?        Unterstützungsschreiben aus dem Umfeld der bP 1 beim Roten Kreuzes

?        Bestätigung über die Tätigkeit der bP 1 als Probehelfer bei der Tafel

?        Kurzarztbrief vom 06.04.2017 (Behandlung der bP 1 beim Hausarzt wegen einer chronisch rezidivierenden Lumbago)

?        Schulbesuchsbestätigungen

?        Deutschkursbesuchsbestätigungen

?        Unterstützungsschreiben aus dem schulischen Umfeld der bP 3

?        Besuchsbestätigung der bP 2 an einem Integrationskurs

I.5. Die Beschwerdevorlage langte am 18.04.2017 beim BVwG ein. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 16.10.2018 wurden die Verfahren der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung zugeteilt.

I.6. Am 09.10.2018 langte ein Abschluss Bericht der LPD vom 24.07.2018 über den Verdacht auf Diebstahl durch die bP 2 ein (Verdacht, dass die bP 2 Lebensmittel, Kosmetikartikel und Bekleidung bei einem Einkaufsmarkt versucht hat zu stehlen sowie dort eine Flasche Mineral trank, ohne sie zu bezahlen).

I.7. Für den 28.09.2020 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

Gemeinsam mit der Ladung wurden Feststellungen zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat, insbesondere eine Anfragebeantwortung zur Wehrpflicht zugestellt. Ebenso wurde – in Ergänzung bzw. Wiederholung zu den bereits bei der belangten Behörde stattgefundenen Belehrungen - ua. hinsichtlich der Obliegenheit zur Mitwirkung im Verfahren manuduziert und wurden die bP aufgefordert, Bescheinigungsmittel vorzulegen.

Mit Dokumentenvorlage vom 25.09.2020 wurden nachstehende Unterlagen übermittelt:

?        Bestätigung Kindergartenbesuch bP 3 und 4

?        Unterstützungsschreiben (Eltern von Schulkollegen der bP 3, eines Schulkollegen der bP 3, Lehrer)

?        Schulzeugnisse und Schulbesuchsbestätigung bP 3

?        Einstellungszusage für bP 2

?        2 Einstellungszusagen für bP 1 sowie Bestätigung über die geringfügige Tätigkeit

?        Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen

?        Verdienstzeichen und Bestätigung Rotes Kreuz für bP 1

?        Unterschriftenliste von Bekannten aus der ehrenamtlichen Tätigkeit der bP 1

?        Unterstützungsschreiben Betreuerin Caritas

?        Unauffälliger MR Befund bP 1 vom 18.07.2017

?        Teilnahmebestätigungen an Werte- und Orientierungskurs bP 1 und 2 vom 23.02.2018

Der bP 1 und 2 wurde nochmals die Möglichkeit eingeräumt, ihr Vorbringen zu erstatten und wurden mit den bP die bereits übermittelten Länderberichte sowie aktuelle Medienberichte (Zeit online, Tageschau.de, ORF und Tagesspiegel) zu den Geschehnissen in Berg Karabach erörtert.

Vorgelegt in der Verhandlung wurde von den bP:

?        Lohn/Gehaltsabrechnungen bP 1

?        Unterstützungsschreiben, insbesondere neue vom Pfarrer bzw. aus dem Umfeld der Pfarre

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

II.1.1. Die beschwerdeführenden Parteien

II.1.1.1. Bei den bP handelt es sich um im Herkunftsstaat der Mehrheits- und Titularethnie angehörige Armenier, welche aus einem überwiegend von Armeniern bewohnten Gebiet stammen und sich zum Mehrheitsglauben des Christentums bekennen.

Die bP 1 und 2 sind junge, gesunde, arbeitsfähige Menschen mit bestehenden familiären Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer –wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich- gesicherten Existenzgrundlage.

Die Pflege und Obsorge der minderjährigen bP ist durch deren Eltern gesichert.

bP 1 und 2 besuchten in Armenien die Schule und lebten vor ihrer Ausreise in der zentralarmenischen Provinz XXXX , ca. 350 km von Berg Karabach entfernt. Die bP 1 ging einer Beschäftigung in der Landwirtschaft nach. Die bP sprechen im Familienverband Armenisch.

Familienangehörige leben nach wie vor in Armenien.

II.1.1.2. Die bP 1 leidet an Kopfschmerzen und Rückenbeschwerden. Ihr wurde im Jahr 2002 in Armenien eine Niere entfernt. Sie nimmt in Österreich bei Bedarf Schmerzmittel wegen der Kopf- und Rückenschmerzen sowie einen Magenschoner ein, wegen der Niere steht sie in keiner Behandlung.

Die von bP 1 genannten Beschwerden sind in Armenien behandelbar und hat die bP 1 auch Zugang zum armenischen Gesundheitssystem. Soweit sie im Falle der Behandlung mit einem Selbstbehalt belastet wird, steht es ihr im Falle der Bedürftigkeit frei, die Kostenübernahme des Selbstbehaltes durch den Staat zu beantragen, worüber eine eigens hierfür eingerichtete Kommission entscheidet.

Die volljährigen bP haben Zugang zum armenischen Arbeitsmarkt und es steht ihnen frei, eine Beschäftigung bzw. zumindest Gelegenheitsarbeiten anzunehmen.

Ebenso haben die bP Zugang zum – wenn auch minder leistungsfähige als das österreichische- Sozialsystem des Herkunftsstaates und könnten dieses in Anspruch zu nehmen.

Darüber hinaus ist es den bP unbenommen, Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen und sich im Falle der Bedürftigkeit an eine im Herkunftsstaat karitativ tätige Organisation zu wenden.

II.1.1.3. Die bP halten sich seit 5 Jahren und 9 Monaten bzw. die bP 4 seit der Geburt in Österreich auf.

Die bP haben in Österreich keine Verwandten und leben auch sonst mit keiner nahe stehenden Person zusammen, welche nicht zur Kernfamilie zu zählen ist. Sie möchten offensichtlich ihr künftiges Leben in Österreich gestalten. Sie reisten rechtswidrig und mit Hilfe einer Schlepperorganisation in das Bundesgebiet ein. Sie leben von der Grundversorgung und haben Deutschkurse besucht. Sie sind strafrechtlich unbescholten, wenngleich die bP 2 bereits einmal bei einem versuchten Diebstahl aufgegriffen wurde. Die bP 1 und 2 haben den A1 Kurs abgeschlossen und weitere Deutschkurse besucht, sprechen jedoch nur geringfügig Deutsch.

Die bP 3 besuchte für ein Jahr den Kindergarten in Österreich und geht nun in die Neue Mittelschule. Sie hat kurzzeitig für 2 Monate einen Fußballverein besucht. Die bP 4 besucht seit April 2019 den Kindergarten. Es liegen Einstellungszusagen für die bP 1 und 2 vor. Die bP 2 arbeitet geringfügig als Autowäscher. Die bP 1 hilft zudem freiwillig beim Roten Kreuz im Rahmen des Projekts Tafel seit 4 Jahren mit. Die bP 2 hat kurzzeitig ehrenamtlich ausgeholfen. Es liegen soziale Kontakte im kirchlichen Umfeld, im Umfeld des Roten Kreuzes und dem schulischen Umfeld der bP 3 vor.

Die Identität der bP steht nicht fest.

Bei den volljährigen bP handelt es sich um mobile, junge, gesunde, arbeitsfähige Menschen. Einerseits stammen die bP aus einem Staat, auf dessen Territorium die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet ist und andererseits gehören die bP keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass sie sich in Bezug auf ihre individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellen als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann. So war es den bP auch vor dem Verlassen ihres Herkunftsstaates möglich, dort ihr Leben zu meistern.

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Armenien

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei Armenien um einen sicheren Herkunftsstaat gem. § 19 BFA-VG handelt.

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen getroffen:


1.         Politische Lage

Letzte Änderung: 26.6.2020

Armenien (arm.: Hayastan) umfasst knapp 29.800 km² und hatte im ersten Quartal 2019 eine Einwohnerzahl von 2,96 Millionen, was einen Rückgang von 0,3% zum Vergleichszeitraum des Vorjahres ausmachte (ArmStat 7.5.2019). Davon sind laut der Volkszählung von 2011 98,1% ethnische Armenier. Den Rest bilden kleinere Ethnien wie Jesiden und Russen (CIA 14.2.2019).

Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 findet in Armenien ein umfangreicher Reformprozess auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene hin zu einem demokratisch und marktwirtschaftlich strukturierten Staat statt. Die vorgezogenen Parlamentswahlen am 9.12.2018 konnten nach übereinstimmender Meinung aller Wahlbeobachter als frei und fair bezeichnet werden. Die im Dezember 2015 per Referendum gebilligte Verfassungsreform zielt auf den Umbau von einer semi-präsidialen in eine parlamentarische Demokratie ab. Die Änderungen betreffen u.a. eine Ausweitung des Grundrechtekatalogs sowie die weitere Stärkung des Parlaments (auch der Opposition). Das Amt des Staatspräsidenten wurde im Wesentlichen auf repräsentative Aufgaben reduziert, gleichzeitig die Rolle des Premierministers und des Parlaments gestärkt (AA 27.4.2020). Der Premierminister und der Präsident werden vom Parlament gewählt. Der Premierminister ist der Regierungsvorsitzende, während der Präsident vorwiegend zeremonielle Funktionen ausübt (USDOS 11.3.2020).

Oppositionsführer Nikol Paschinjan wurde im Mai 2018 vom Parlament zum Premierminister gewählt, nachdem er wochenlange Massenproteste gegen die Regierungspartei angeführt und damit die politische Landschaft des Landes verändert hatte. Er hatte Druck auf die regierende Republikanische Partei durch eine beispiellose Kampagne des zivilen Ungehorsams ausgeübt, was zum schockartigen Rücktritt Serzh Sargsyans führte, der kurz zuvor das verfassungsmäßig gestärkte Amt des Premierministers übernommen hatte, nachdem er zehn Jahre lang als Präsident gedient hatte (BBC 20.12.2018; vgl. AA 27.4.2020). Bei den als „Samtene Revolution“ bezeichneten Demonstrationen im April/Mai 2018 verhielten sich die Sicherheitskräfte zurückhaltend. Auch die Demonstranten waren bedacht, keinerlei Anlass zum Eingreifen der Sicherheitskräfte zu bieten (AA 27.4.2020).

Am 9.12.2018 fanden vorgezogene Parlamentswahlen statt, welche unter Achtung der Grundfreiheiten ein breites öffentliches Vertrauen genossen. Die offene politische Debatte, auch in den Medien, trug zu einem lebhaften Wahlkampf bei. Das generelle Fehlen von Verstößen gegen die Wahlordnung, einschließlich des Kaufs von Stimmen und des Drucks auf die Wähler, ermöglichte einen unverfälschten Wettbewerb (OSCE/ODIHR 10.12.2018). Die Allianz des amtierenden Premierministers Nikol Paschinjan unter dem Namen „Mein Schritt“ erzielte einen Erdrutschsieg und erreichte 70,4% der Stimmen. Die ehemalige mit absoluter Mehrheit regierende Republikanische Partei (HHK) erreichte nur 4,7% und verpasste die 5-Prozent-Marke, um in die 101-Sitze umfassende Nationalversammlung einzuziehen. Die Partei „Blühendes Armenien“ (BHK) des Geschäftsmannes Gagik Tsarukyan gewann 8,3%. An dritter Stelle lag die liberale, pro-westliche Partei „Leuchtendes Armenien“ unter Führung Edmon Maruyian, des einstigen Verbündeten von Paschinjan, mit 6,4% (RFE/RL 10.12.2018; vgl. ARMENPRESS 10.12.2018).

Zu den primären Zielen der Regierung unter Premierminister Paschinjan gehören die Bekämpfung der Korruption und Wirtschaftsreformen (RFL/RL 14.1.2019; vgl. FH 4.3.2020) sowie die Schaffung einer unabhängigen Justiz (168hours 20.7.2018; vgl. FH 4.3.2020). Seit Paschinjans Machtübernahme hat sich das innenpolitische Klima deutlich verbessert und dessen Regierung geht bestehende Menschenrechts-Defizite weitaus engagierter als die Vorgängerregierungen an, auch wenn immer noch Defizite bei der konsequenten Umsetzung der Gesetze bestehen (AA 27.4.2020).

Quellen:

•        AA – Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030001/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        ARMENPRESS – Armenian News Agency (10.12.2018): My Step – 70.44%, Prosperous Armenia – 8.27%, Bright Armenia – 6.37%: CEC approves protocol of preliminary results of snap elections, https://armenpress.am/eng/news/957626.html, Zugriff 21.3.2019

•        ArmStat - Statistical Committee of the Repbulic of Armenia (7.5.2019): Economic and Financial Data for the Republic of Armenia, https://armstat.am/nsdp/, Zugriff 8.5.2019

•        BBC News (20.12.2018):Armenia country profile, https://www.bbc.com/news/world-europe-17398605, Zugriff 21.3.2019

•        CIA - Central Intelligence Agency (30.4.2.2019): The World Factbook, Armenia; https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/am.html, Zugriff 7.5.2019

•        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Armenia, https://freedomhouse.org/country/armenia/freedom-world/2020, Zugriff 24.4.2020

•        OSCE/ODIHR – Organization for Security and Cooperation in Europe/ Office for Democratic Institutions and Human Rights et alia (10.12.2018): Armenia, Parliamentary Elections, 2 April 2017: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/armenia/405890?download=true, Zugriff 21.3.2019

•        RFE/RL – Radio Free Europe/ Radio Liberty (10.12.2018): Monitors Hail Armenian Vote, Call For Further Electoral Reforms, https://www.rferl.org/a/monitors-hail-armenia-s-snap-polls-call-for-further-electoral-reforms/29647816.html, 21.3.2019

•        RFE/RL – Radio Free Europe/ Radio Liberty (14.1.2019): Pashinian Reappointed Armenian PM After Securing Parliament Majority, https://www.rferl.org/a/pashinian-reappointed-armenian-pm-after-securing-parliament-majority/29708811.html, Zugriff 21.3.2019

•        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

•        168hours (20.7.2018): Fight against corruption and creation of independent judiciary main pillars of government’s economic policy – PM Paschinjan, https://en.168.am/2018/07/20/26637.html, Zugriff 21.3.2019


2.         Sicherheitslage

Letzte Änderung: 26.6.2020

Hinsichtlich Bergkarabach - das sowohl von Armenien als auch von Aserbaidschan beansprucht wird - besteht die Gefahr erneuter Feindseligkeiten aufgrund des Scheiterns der Vermittlungsbemühungen, der zunehmenden Militarisierung und häufiger Verletzungen des Waffenstillstands. Im Oktober 2017 trafen sich die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans unter der Schirmherrschaft der Minsk-Gruppe, einer von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geleiteten Vermittlungsgruppe, in Genf und begannen eine Reihe von Gesprächen über eine mögliche Lösung des Konflikts. In den letzten Jahren haben Artilleriebeschüsse und kleinere Gefechte zwischen aserbaidschanischen und armenischen Truppen Hunderte von Toten gefordert. Anfang April 2016 gab es die heftigsten Kämpfe seit 1994. (CFR 18.10.2019). Die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan ist geschlossen. Es gibt häufige Verletzungen des Waffenstillstands von 1994 und militärische Stellungen entlang der Grenze. Es gibt immer wieder Zeiten erhöhter Spannungen, die die Sicherheitslage in den Grenzregionen unberechenbar machen können (FCO 15.6.2020, vgl. EDA 18.3.2020).

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev und der armenische Premierminister Nikol Paschinjan vereinbarten bei ihrem ersten Treffen am Rande des Gipfels der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, der am 27. und 28. September 2018 in Duschanbe stattfand, mehrere Schritte zum Abbau der Spannungen zwischen den armenischen und aserbaidschanischen Streitkräften, wie z.B. die Installierung einer direkten "operativen" Kommunikationslinie zwischen den beiden Seiten und die Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen über eine Lösung des Konflikts (Eurasianet 1.10.2018). In Folge kam es zu mehreren weiteren Treffen. Der laufende Prozess trug dazu bei, die Häufigkeit der Verletzungen des Waffenstillstandes deutlich zu reduzieren (ACLED 20.2.2020).

Quellen:

•        ACLED - Armed Conflict Location and Event Data Project (20.2.2020): Regional Overview: Central Asia and the Caucasus 9-15 February 2020, https://acleddata.com/2020/02/20/regional-overview-central-asia-and-the-caucasus-9-15-february-2020/, Zugriff 18.3.2020

•        CFR - Council on Foreign Relations (18.10.2019): Nagorno-Karabakh Conflict, https://www.cfr.org/global-conflict-tracker/conflict/nagorno-karabakh-conflict, Zugriff 24.6.2020

•        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (18.3.2020): Reisehinweise für Armenien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/armenien/reisehinweise-armenien.html, Zugriff 25.6.2020

•        Eurasianet (1.10.2018): Aliyev and Paschinjan hold first talks, agree on tension-reducing measures, https://eurasianet.org/aliyev-and-Paschinjan-hold-first-talks-agree-on-tension-reducing-measures, Zugriff 21.3.2019

•        FCO – U.K. Foreign and Commonwealth Office (15.6.2020): Foreign travel advice Armenia – Safety and Security, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/armenia/safety-and-security, Zugriff 25.6.2020

2.1.    Republik Bergkarabach / Nagorny Karabach / Arzach)

Letzte Änderung: 26.6.2020

Die sogenannte Republik Bergkarabach („RBK“, russ.: Nagorny Karabach; in Armenien auch Arzach genannt) wird von keinem Staat völkerrechtlich anerkannt. Die aserbaidschanische Regierung besitzt faktisch keine Kontrolle über das Gebiet. Auch Armenien erkennt die „Republik Bergkarabach“ offiziell nicht an, praktisch sind beide aber wirtschaftlich und rechtlich stark verflochten. Die Bewohner von Bergkarabach erhalten neben ihrem RBK-Pass auch armenische Pässe (AA 27.4.2020). Armenien finanziert 55% des Budgets der Republik Arzach (ChH 4.6.2020).

Laut Angaben der Republik Arzach, umfasst das Gebiet mehr als 12.000 km², wobei hiervon 1.041 km² unter aserbaidschanischer Okkupation stünden. Die Bevölkerung belief sich 2013 auf rund 147.000 Einwohner, wovon 95% Armenier sind, nebst Russen, Ukrainern, Griechen, Georgiern und Aseri (NKR o.D.).

Die Republik Arzach kontrolliert das in Aserbaidschan früher als Autonome Region Bergkarabach verwaltete Gebiet sowie weitere sieben Provinzen Aserbaidschans in den Grenzgebieten zu Armenien und Iran und in der Region um Agdam. Der Kreis Shahumyan nördlich der früheren Autonomen Region ist unter aserbaidschanischer Kontrolle, wird aber ebenfalls von der „RBK“ beansprucht, da es sich nach deren Logik um „von Aserbaidschan besetztes Gebiet“ mit ehemals armenischer Bevölkerungsmehrheit handelt. Insgesamt befindet sich etwa 13% des Staatsgebiets von Aserbaidschan unter armenischer Kontrolle, d.h. der sog. Republik Bergkarabach (AA 27.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Nach der Verfassung ist der Präsident sowohl Staats- als auch Regierungschef und hat die volle Autorität, Kabinettsmitglieder zu ernennen und zu entlassen. Im September 2017 wurde das Amt des Premierministers abgeschafft (FH 4.3.2020k).

Am 31.3.2020 fanden in Berg-Karabach - international nicht anerkannte - Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt (HBS 2.4.2020). Die Partei des Freien Vaterlandes von Harutjunyan gewann bei den Parlamentswahlen mehr als 40% der Stimmen und wird 16 der 33 Sitze kontrollieren, während die größte Oppositionskraft, die Partei der Vereinigten Heimat von Samvel Babajan, neun Sitze erhielt (CW 16.4.2020).

Bei der Wahl zum Präsidenten wurde ein zweiter Wahlgang notwendig, der am 14.4.2020, trotz des wegen COVID-19 zwei Tage zuvor ausgerufenen Notstandes, durchgeführt wurde. Die Notstandsregel verbietet öffentliche Versammlungen, beschränkt die Verkehrsanbindung innerhalb von Karabach und untersagt Bürgern Armeniens und anderer Länder die Einreise in die Region (CW 16.4.2020). Arayik Harutjunyan gewann mit mehr als 87% der abgegebenen Stimmen. Harutjunyan war 2017 bis 2018 Außenminister und 2007-2017 Premierminister der Republik Arzach (PA 15.4.2020) und verfehlte bereits im ersten Wahlgang am 31.3.2020 die notwendige Mehrheit nur um wenige hundert Stimmen (Armenpress 2.4.2020; vgl. EN 1.4.2020).

Armenische Wahlbeobachter berichten von weitverbreiteten Verletzungen des Wahlgeheimnisses (EN 1.4.2020). Kritisiert wurde weiters, dass wegen COVID-19 kein Wahlkampf geführt werden konnte wie in „normalen“ Zeiten – und zudem der Urnengang selbst das Risiko einer weiteren Ausbreitung des Virus deutlich erhöht habe (HBS 2.4.2020; vgl. EN 1.4.2020). Der im zweiten Wahlgang unterlegene Präsidentschaftskandidat Masis Mailjan forderte die Wähler auf, wegen der Pandemie nicht an den Wahlen teilzunehmen und weigerte sich auch, an Fernsehdebatten teilzunehmen (CW 16.4.2020).

Die Republik Arzach wurde bis zu den Wahlen von Verbündeten der 2018 von Paschinjan gestürzten armenischen Regierung regiert. Die Führer des ehemaligen armenischen Regimes, darunter die ehemaligen Präsidenten Serzh Sargsyan und Robert Kocharyan, unternahmen einige vage Anstrengungen, um über Berg-Karabach als letzte Bastion die Macht in Armenien wiederzugewinnen. Ihr favorisierter Kandidat, Vitaliy Balasanyan, versäumte bei den Präsidentenwahlen am 31.3.2020 den Einzug in den zweiten Wahlgang (EN 1.4.2020).

Die Justiz ist in der Praxis nicht unabhängig und die Gerichte werden von der Exekutive sowie von mächtigen politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Gruppen beeinflusst. Die Verfassung garantiert grundlegende Verfahrensrechte, aber Polizei und Gerichte halten diese in der Praxis nicht immer ein. Die Regierung kontrolliert viele der Medien. Im Jahr 2019 wurden Veränderungen durch die politische Öffnung in Armenien im Jahr 2018 mitbewirkt. Politische Kritiker der Führung, denen zuvor selbst kurze Auftritte verboten waren, wurden zu regelmäßigen Gästen in Sendungen zu aktuellen Themen. Darüber hinaus werden nun regelmäßig Debatten organisiert, um wichtige Themen des lokalen öffentlichen Lebens anzusprechen. Oppositionspolitiker haben auch gute Verbindungen zu unabhängigen Medien in Armenien, wodurch deren Ansichten auch in Berg-Karabach vermittelt werden. Dennoch praktizieren viele Journalisten Selbstzensur, insbesondere bei Themen im Zusammenhang mit dem Friedensprozess. Die Verfassung garantiert die Religionsfreiheit, lässt aber Einschränkungen im Namen der Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und anderer staatlicher Interessen zu. In der Verfassung ist die Armenische Apostolische Kirche als "nationale Kirche" des armenischen Volkes verankert. Die Religionsfreiheit anderer Gruppen wird in der Praxis eingeschränkt. Proteste sind in der Praxis relativ selten. Die Behörden blockieren Versammlungen und Demonstrationen, wenn sie diese als Bedrohung der öffentlichen Ordnung wahrnehmen (FH 4.3.2020).

Es gibt keine Erkenntnisse, wonach Personen bei Bekanntwerden einer (auch) aserbaidschanischen Herkunft mit staatlichen Übergriffen zu rechnen hätten. In Bergkarabach gelten den armenischen Regelungen vergleichbare Vorschriften zur kostenlosen medizinischen Behandlung. Im Sozialwesen gibt es „behördliche“ Unterstützung. Die wirtschaftliche Situation in Bergkarabach ist nach allgemeiner Einschätzung besser als in Armenien (AA 27.4.2020).

Quellen:

•        AA – Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030001/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        Armenpress (2.4.2020): Paschinjan praises “high-quality” Artsakh elections, https://armenpress.am/eng/news/1010917.html, Zugriff 23.4.2020

•        ChH – Chatham House (4.6.2020): South Caucasus States Set to Diverge Further due to COVID-19, https://www.chathamhouse.org/expert/comment/south-caucasus-states-set-diverge-further-due-covid-19, Zugriff 5.6.2020

•        CW – Caucasus Watch (16.4.2020): Zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in Bergkarabach wurde trotz des erklärten Ausnahmezustands abgehalten, https://caucasuswatch.de/news/2623.html, Zugriff 23.4.2020

•        EN – Eurasianet (1.4.2020): Karabakh elections to go to a second round, https://eurasianet.org/karabakh-elections-to-go-to-a-second-round, Zugriff 23.4.2020

•        FH-Freedom House (4.3.2020k): Freedom in the World 2020 – Nagorno Karabakh, https://freedomhouse.org/country/nagorno-karabakh/freedom-world/2020, Zugriff 5.6.2020

•        HBS – Henirich-Böll-Stiftung / Stefan Meister (2.4.2020): Covid-19 im Südkaukasus – Schnelle Reaktionen und autoritäre Reflexe, https://www.boell.de/de/2020/04/02/covid-19-im-suedkaukasus-schnelle-reaktionen-und-autoritaere-reflexe, Zugriff 23.4.2020

•        NKR – President of the Artsakh RepublicThe Office of the NKR President (o.D.): NKR, General information, http://www.president.nkr.am/en/nkr/generalInformation/, Zugriff 24.6.202021.3.2019

•        PA – the PanArmenian (15.4.2020): Arayik Harutyunyan wins Artsakh vote, preliminary results show, http://www.panarmenian.net/eng/news/280152/, Zugriff 23.4.2020

•        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020
3.         Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 26.6.2020

Die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter ist in Art. 162 und 164 der Verfassung verankert. Die Verfassung von 2015 hat die bisher weitreichenden Kompetenzen des Staatspräsidenten bei der Ernennung von Richtern reduziert. Das Vertrauen in das Justizsystem ist allerdings weiterhin schwach, da die Mehrzahl der Richter ihre Ämter unter der Vorgängerregierung erlangt hat. Die im Oktober 2019 verabschiedete Reform zur Justizstrategie zielt auf einen personellen Wechsel im Justizapparat ab. Verfahrensgrundrechte, wie rechtliches Gehör, faires Gerichtsverfahren und Rechtshilfe werden laut Verfassung gewährt. In Bezug auf den Zugang zur Justiz gab es in den letzten Jahren bereits Fortschritte, die Zahl der Pflichtverteidiger wurde erhöht und kostenlose Rechtshilfe kommt einer breiteren Bevölkerung zugute. Die Einflussnahme durch Machthaber auf laufende Verfahren war in der Vergangenheit in politisch heiklen Fällen verbreitet. Die derzeitige Regierung unter Premierminister Paschinjan hat sich von solchen Praktiken distanziert (AA 27.4.2020).

Zwar muss von Gesetzes wegen Angeklagten ein Rechtsbeistand gewährt werden, doch führt der Mangel an Pflichtverteidigern außerhalb Jerewans dazu, dass dieses Recht den Betroffenen verwehrt wird (USDOS 11.3.2020). Richter stehen unter systemischem politischem Druck und Justizbehörden werden durch Korruption untergraben. Berichten zufolge fühlen sich die Richter unter Druck gesetzt, mit Staatsanwälten zusammenzuarbeiten, um Angeklagte zu verurteilen. Der Anteil an Freisprüchen ist extrem niedrig (FH 4.3.2020). Allerdings entließen viele Richter nach der "Samtenen Revolution" im Frühjahr 2018 etliche Verdächtige in politisch sensiblen Fällen aus der Untersuchungshaft, was die Ansicht von Menschenrechtsgruppen bestätigte, dass vor den Ereignissen im April/Mai 2018 gerichtliche Entscheidungen politisch konnotiert waren, diese Verdächtigen in Haft zu halten, statt gegen Kaution freizulassen (USDOS 11.3.2020).

Trotz gegenteiliger Gesetzesbestimmungen zeigt die Gerichtsbarkeit keine umfassende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Die Verwaltungsgerichte sind hingegen verglichen zu den anderen Gerichten unabhängiger. Sie leiden allerdings unter Personalmangel. Nach dem Regierungswechsel im Mai 2018 setzte sich das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Richter fort und einige Menschenrechtsanwälte erklärten, es gebe keine rechtlichen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz. NGOs berichten, dass Richter die Behauptungen der Angeklagten, ihre Aussage sei durch körperliche Übergriffe erzwungen worden, routinemäßig ignorieren. Die Korruption unter Richtern ist weiterhin ein Problem. Die am 10. Oktober 2019 verabschiedete Strategie für die Justiz- und Rechtsreform 2019-2023 zielt darauf ab, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz und das Justizsystem zu stärken und die Unabhängigkeit der Justiz zu fördern (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung und die Gesetze sehen das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess vor, aber die Justiz setzt dieses Recht nicht durch. Ebenso sieht das Gesetz die Unschuldsvermutung vor, Verdächtigen wird dieses Recht jedoch in der Regel nicht zugesprochen. Das Gesetz verlangt, dass die meisten Prozesse öffentlich sind, erlaubt aber Ausnahmen, auch im Interesse der "Moral", der nationalen Sicherheit und des "Schutzes des Privatlebens der Teilnehmer". Gemäß dem Gesetz können Angeklagte Zeugen konfrontieren, Beweise präsentieren und den Behördenakt vor einem Prozess einsehen. Allerdings haben Angeklagte und ihre Anwälte kaum Möglichkeiten, die Aussagen von Behördenzeugen oder der Polizei anzufechten. Die Gerichte neigen währenddessen dazu, routinemäßig Beweismaterial zur Strafverfolgung anzunehmen. Zusätzlich verbietet das Gesetz Polizeibeamten, in ihrer offiziellen Funktion auszusagen, es sei denn, sie waren Zeugen oder Opfer (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

•        AA – Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030001/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Armenia, https://freedomhouse.org/country/armenia/freedom-world/2020, Zugriff 24.4.2020

•        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020
4.         Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 26.6.2020

Die Polizei ist für die innere Sicherheit zuständig, während der Nationale Sicherheitsdienst (NSD oder eng. NSS) für die nationale Sicherheit, die Geheimdienstaktivitäten und die Grenzkontrolle zuständig ist (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 27.4.2020). Beide Behörden sind direkt der Regierung unterstellt. Ein eigenes Innenministerium gibt es nicht. Die Beamten des NSD dürfen auch Verhaftungen durchführen. Hin und wieder treten Kompetenzstreitigkeiten auf, z.B. wenn ein vom NSD verhafteter Verdächtiger ebenfalls von der Polizei gesucht wird (AA 27.4.2020).

Der Sonderermittlungsdienst führt Voruntersuchungen in Strafsachen durch, die sich auf Delikte von Beamten der Gesetzgebungs-, Exekutiv- und Justizorgane beziehen und von Personen, die einen staatlichen Sonderdienst ausüben. Auf Verlangen kann der Generalstaatsanwalt solche Fälle an die Ermittler des Sonderermittlungsdienstes weiterleiten (SIS o.D., vgl. USDOS 11.3.2020, HRW 14.1.2020). Der NSD und die Polizeichefs berichten direkt an den Premierminister. NSD, SIS, die Polizei und das Untersuchungskomitee unterliegen demzufolge der Kontrolle der zivilen Behörden (USDOS 11.3.2020).

Obwohl das Gesetz von den Gesetzesvollzugsorganen die Erlangung eines Haftbefehls verlangt oder zumindest das Vorliegen eines begründeten Verdachts für die Festnahme, nahmen die Behörden gelegentlich Verdächtige fest oder sperrten diese ein, ohne dass ein Haftbefehl oder ein begründeter Verdacht vorlag. Nach 72 Stunden muss laut Gesetz die Freilassung oder ein richterlicher Haftbefehl erwirkt werden. Angeklagte haben ab dem Zeitpunkt der Verhaftung Anspruch auf Vertretung durch einen Anwalt bzw. Pflichtverteidiger. Die Polizei vermeidet es oft, betroffene Personen über ihre Rechte aufzuklären. Statt Personen formell zu verhaften, werden diese vorgeladen und unter dem Vorwand festgehalten, eher wichtige Zeugen denn Verdächtige zu sein. Hierdurch ist die Polizei in der Lage, Personen zu befragen, ohne das das Recht auf einen Anwalt eingeräumt wird (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

•        AA – Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030001/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Armenia, https://www.hrw.org/world-report/2020/country-chapters/armenia, Zugriff 16.1.2020

•        SIS - Special Investigation Service of Republic of Armenia (o.D.): History http://www.ccc.am/en/1428926241, Zugriff 24.6.2020

•        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020
5.         Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 26.6.2020

Das Gesetz verbietet Folter und andere Formen von Misshandlungen. Dennoch gibt es Berichte, dass Mitglieder der Sicherheitskräfte Personen in ihrer Haft gefoltert oder anderweitig missbraucht haben. Laut Menschenrechtsanwälten definiert und kriminalisiert das Strafgesetzbuch zwar Folter, aber die einschlägigen Bestimmungen kriminalisieren keine unmenschliche und erniedrigende Behandlungen (USDOS 11.3.2020). Menschenrechtsorganisationen haben bis zur „Samtenen Revolution“ immer wieder glaubwürdig von Fällen berichtet, in denen es bei Verhaftungen oder Verhören zu unverhältnismäßiger Gewaltanwendung gekommen sein soll. Folteropfer können den Rechtsweg nutzen, einschließlich der Möglichkeit, sich an den Verfassungsgerichtshof bzw. den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu wenden (AA 27.4.2020). Gemäß Menschenrechtsanwälten führte die Straffreiheit von Folter in der Zeit vor der „Samtenen Revolution“ dazu, dass Folter weiterhin angewandt wird, wenn auch nun in geringerem Ausmaß, und alte Fälle von Folter werden nicht aufgearbeitet (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 27.4.2020).

Misshandlungen finden auf Polizeistationen statt, die im Gegensatz zu Gefängnissen und Polizeigefängnissen nicht der öffentlichen Kontrolle unterliegen. Nach Ansicht von Menschenrechtsanwälten gab es keine ausreichenden verfahrensrechtlichen Garantien gegen Misshandlungen bei polizeilichen Vernehmungen, wie z.B. den Zugang zu einem Anwalt durch die zur Polizei als Zeugen geladenen Personen sowie die Unzulässigkeit von Beweisen, die durch Gewalt- oder Verfahrensverletzungen gewonnen wurden (USDOS 11.3.2020). In einem Antwortschreiben an das Helsinki Komitee Armeniens bezifferte der Special Investigation Service (SIS) die Anzahl der strafrechtlichen Untersuchungen bezüglich des Vorwurfes von Folter im Zeitraum zwischen dem 1.1. und dem 23.12.2019 auf 4 (HCA 25.2.2020).

Quellen:

•        AA – Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030001/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        HCA – Helsinki Committee of Armenia (25.2.2020): Human Rights in Armenia – 2019 Report, http://armhels.com/wp-content/uploads/2020/02/Ditord-2020Eng_Ditord-2019arm-2.pdf, Zugriff 24.6.2020

•        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020
6.         Korruption

Letzte Änderung: 26.6.2020

Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen bei behördlicher Korruption vor. Das Land hat eine Hinterlassenschaft der systemischen Korruption in vielen Bereichen. Nach der „Samtenen Revolution“ im Mai 2018 eröffnete die Regierung eine Untersuchung, die die systematische Korruption in den meisten Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens aufdeckte und es wurden zahlreiche Strafverfahren gegen mutmaßliche Korruption durch ehemalige Regierungsbeamte und ihre Angehörigen, Parlamentarier und in einigen Fällen auch durch Angehörige der Justiz und ihre Verwandten und einige wenige derzeitige Regierungsbeamte eingeleitet. 2018 machte die Regierung die Korruptionsbekämpfung zu einer ihrer obersten Prioritäten und setzte ihre Maßnahmen zur Beseitigung der Korruption im Laufe des Jahres fort. Obwohl Spitzenbeamte die „Ausrottung der Korruption“ im Land ankündigten, stellten lokale Beobachter fest, dass Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung einer weiteren Institutionalisierung bedürfen (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020, SWP 5.2020).

Die Regierung unternimmt Schritte, die Antikorruptionsmechanismen des Landes zu stärken. Im Oktober 2019 veröffentlichte sie einen Drei-Jahres-Aktionsplan, der die Schaffung eines neuen Antikorruptionsausschusses bis 2021 vorsieht. Die Regierung plant auch, die bestehende Kommission zur Korruptionsprävention zu stärken (FH 4.3.2020; vgl. SWP 5.2020).

Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex 2019 von Transparency International belegte Armenien mit 44 Punkten Rang 77 von 180 untersuchten Ländern (TI 23.1.2020), im Vergleich zum Vorjahr mit 35 Punkten und Rang 105 von 180 Staaten (TI 2018).

Quellen:

•        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Armenia, https://freedomhouse.o

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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