TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/20 I419 2144525-1

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Veröffentlicht am 20.01.2021
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Entscheidungsdatum

20.01.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I419 2144525-1/26E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX ( XXXX ) XXXX , geb. XXXX , StA. IRAK, vertreten durch RA MMag. Dr. Franz Stefan PECHMANN, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 16.12.2016, Zl. XXXX , zu Recht:

A) 1. Der Beschwerde wird betreffend die Nichtzuerkennung des subsidiären Schutzes stattgegeben und dem Beschwerdeführer § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.
2. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine für ein Jahr gültige befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.
3. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
4. Die Spruchpunkte II, III und IV des angefochtenen Bescheids werden aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem bekämpften Bescheid wies das BFA den Antrag betreffend die Status des Asyl- und des subsidiär Schutzberechtigten bezogen auf Irak ab (Spruchpunkte I und II), erteilte keinen Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ „gemäß § 57 AsylG“, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt III) und die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft betrage (Spruchpunkt IV).

2. Beschwerdehalber wird vorgebracht, der Beschwerdeführer habe als Mechaniker in einer militärischen Einrichtung gearbeitet, dann habe die Badr-Miliz die Führung seiner Einheit übernommen, und ihm sei das Tragen einer Waffe befohlen worden, was er nicht wollen und sich dem Befehl widersetzt habe. Deshalb sei er bedroht worden, habe man ihn gefangen gehalten und gefoltert. Gegen Geld habe er entkommen können, und da ihm wider Erwarten auch ein Bekannter mit politischem Einfluss nicht helfen habe können, sei er aus dem Herkunftsstaat geflohen. Er fürchte Verfolgung wegen der Desertion und des Gefängnisausbruchs sowie ferner wegen seiner sunnitischen Glaubensrichtung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der unter Punkt I beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Mitte 30, zum zweiten Mal verheiratet, Sunnit und Kurde. Er verbrachte sein erstes Lebensjahr in Erbil und lebte dann mit seiner Familie in Bagdad, konkret in Karkh (Al Karch), einem Stadtbezirk westlich des Tigris, in dem auch die „Green Zone“ liegt. Dieser umfasst mehrheitlich sunnitische und auch Gebiete, die gemischt oder mit Christen bevölkert sind. Zwischen der Haifa-Straße, wo der Beschwerdeführer in einer Hochhaussiedlung, den „ XXXX “ wohnte (arabisch: XXXX ), und dem Fluss ist die Mehrheit sunnitisch.

In Bagdad leben sein Bruder mit Gattin in der Haifa-Straße sowie seine Schwestern mit ihren Ehemännern im Bezirk Karrada (Karadah, Al Krad) auf der anderen Flussseite. Der Bruder stellt Heizungen und Klimaanlagen her, die Schwäger sind Mechaniker. Zwei weitere Brüder leben Großbritannien und Australien, wo auch eine Schwester lebt. Der Beschwerdeführer ist mit seinen Eltern in Kontakt, die mit dem vierten Bruder in der Türkei wohnen, mit den Geschwistern nach eigenen Angaben seit etwa einem Jahr nicht mehr.

Er war von 2006 bis 2014 mit einer aus Halabdscha (im Kurdengebiet) stammenden, knapp jüngeren Frau verheiratet, mit der er zwei Söhne im Mittelschulalter hat, die mit ihrer Mutter und deren Bruder in Frankreich leben. Seit 2018 ist er mit einer gut 11 Jahre älteren Staatsangehörigen Kanadas verheiratet, die aus dem Iran stammt und in Kanada lebt. Diese ist eine Cousine eines der beiden Schwäger in Bagdad und hat zwei Kinder aus einer früheren Ehe sowie ein Enkelkind. Nach Angaben des Beschwerdeführers, der täglich mit ihr Kontakt hat, beabsichtigt sie, in Österreich eine Wohnung zu kaufen, was pandemiebedingt aufgeschoben sei. Einen Aufenthaltstitel hat sie noch nicht beantragt.

Er spricht Kurdisch als Muttersprache sowie – 2017 nachgewiesen auf Niveau A1 – wenig Deutsch. Ebenso 2017 hat er einen Werte- und Orientierungskurs sowie einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Im Herkunftsstaat hat er seinen Angaben nach nur zwei Jahre die Schule besucht, weshalb er Analphabet sei. Er hat 2016 einen Deutschkurs und 2016/17 einen Kurs „Deutsch für Asylwerbende – Alphabetisierung 2“ besucht.

Im Herkunftsstaat war er vor seiner Ausreise ca. 10 Jahre als Mechaniker ohne Lehrabschluss tätig, als welcher er 2014 auch für das Verteidigungsministerium arbeitete, konkret bei einer Einheit, deren Aufgabe der Personenschutz des damaligen Vizepremiers Rusch Nuri Schawis war. Monatlich verdiente er dabei $ 1.300,-- und konnte damit für Frau und Kinder sorgen sowie seine Eltern unterstützen. Der Beschwerdeführer reiste zwischen 12.11.2014 und Mai 2015 aus und gelangte, nach seinen Angaben über die Türkei, wo er sich drei Monate aufgehalten habe, illegal nach Österreich, wo er am 20.05.2015 morgens aufgegriffen wurde und abends den Antrag auf internationalen Schutz stellte.

In Österreich hat der Beschwerdeführer mehrfach ehrenamtlich gearbeitet, unter anderem in seiner damaligen Wohngemeinde öfters unaufgefordert den Rasen gegenüber seiner Unterkunft gemäht und beim Winterdienst um das Kirchengebäude geholfen, ferner sieben Wochen lang an je zwei Tagen einen Amphibienschutzzaun betreut und die Tiere gezählt. Seit April 2019 übt er angemeldet das freie Gewerbe der „Hausbetreuung bestehend in der Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten“ aus.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten und durchgehend nach dem MeldeG angemeldet. Er ist seit März 2020 Mieter eines möblierten Zimmers, bezieht seit Mai 2020 keine Grundversorgung mehr und erhält sich selbst. Mit seiner gewerblichen Tätigkeit erzielt er Gewinne von rund € 2.000,-- monatlich. Dabei ist er als Subunternehmer für mehrere Hausbetreuungsunternehmen tätig. Er hat mehrere Empfehlungsschreiben der Auftraggeber und der Nutzer der Anlagen vorgelegt. Mit einigen davon ist er auch privat befreundet, ebenso mit der Familie eines der Auftraggeber. Deren Deutsch versteht er. Im Inland hat er weder Verwandte, noch ist er Mitglied in einem Verein oder einer anderen Organisation (außer der Wirtschaftskammer).

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Bei seiner Scheidung haben die Gatten gegenseitigen Unterhaltsverzicht vereinbart. Er hat neben der Unterhaltspflicht für die Söhne nur für sich selbst zu sorgen und wäre körperlich und geistig in der Lage, das im Herkunftsstaat wie vor seiner Ausreise zu tun.

Der Aufenthalt des Beschwerdeführers ist überwiegend durch die Verfahrensdauer begründet, die deutliche, im Beschwerdeverfahren auch überlange Verzögerungen beinhaltet, die den Behörden zurechenbar sind.

1.2 Zur Situation im Herkunftsstaat:

Im angefochtenen Bescheid wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zum Irak auf Stand 08.04.2016 zitiert. Aktuell steht ein am 17.03.2020 erschienenes zur Verfügung. Im gegebenen Zusammenhang sind davon die folgenden Informationen von Relevanz und werden festgestellt:

1.2.1 Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Islamischer Staat (IS)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl. Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wiederaufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020). […]

Sicherheitslage Bagdad

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen. […]

1.2.2 Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi

Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).

Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).

Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vgl. FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr-Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).

Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).

In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).

Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vgl. TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vgl GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).

Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).

Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).

Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahestehen (MEE 16.2.2020).

Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahestehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020).

Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des „Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak“ gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war [Anm. der „Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak“ wurde später zum „Obersten Islamischen Rat im Irak“ (OIRI), siehe Abschnitt „Politische Lage“]. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft der PMF. Sie ist besonders mächtig, weil sie die Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen (Süß 21.8.2017). Die Badr-Organisation besteht offiziell aus elf Brigaden, kontrolliert aber auch einige weitere Einheiten (FPRI 19.8.2019). Zu Badr und seinen Mitgliedsorganisationen gehören Berichten zufolge die 1., 3., 4., 5., 9., 10., 16., 21., 22., 23., 24., 27., 30., 52., 55. und 110. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und ist Miliz und politische Partei in einem (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). Bei den Wahlen 2018 bildete die Badr-Organisation gemeinsam mit Asa‘ib Ahl al-Haqq und Kata‘ib Hizbullah die Fatah-Koalition (Wilson Center 27.4.2018), die 48 Sitze gewann (FPRI 19.8.2019), 22 davon gewann die Badr-Organisation (Wilson Center 27.4.2018). Viele Badr-Mitglieder waren Teil der offiziellen Staatssicherheitsapparate, insbesondere des Innenministeriums und der Bundespolizei (FPRI 19.8.2019). Die Badr-Organisation strebt die Erweiterung der schiitischen Macht in den Sicherheitskräften an, durch Wahlen und durch Eindämmung sunnitischer Bewegungen (Wilson Center 27.4.2018). Badr-Mitglieder und andere schiitische Milizen misshandelten und misshandeln weiterhin sunnitisch-arabische Zivilisten, insbesondere Sunniten im ehemaligen IS-Gebiet (FPRI 19.8.2019). […]

1.2.3 Wehrdienst, Rekrutierungen und Wehrdienstverweigerung

Im Irak besteht keine Wehrpflicht. Männer zwischen 18 und 40 Jahren können sich freiwillig zum Militärdienst melden (AA 12.1.2019; vgl. CIA 21.8.2019). Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 wurde die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft (BasNews 7.8.2019). Juden sind per Gesetz vom Militärdienst ausgeschlossen (USDOS 21.6.2019). Die irakische Regierung und das irakische Parlament planen, die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu prüfen. Hierbei wird auch die Möglichkeit erwogen, anstelle des Militärdienstes eine Ersatzzahlung leisten zu können (BasNews 7.8.2019).

Laut Kapitel 5 des irakischen Militärstrafgesetzes von 2007 ist Desertion in Gefechtssituationen mit bis zu sieben Jahren Haft strafbar. Das Überlaufen zum Feind ist mit dem Tode strafbar (MoD 10.2007). Die Armee hat kaum die Kapazitäten, um gegen Desertion von niederen Rängen vorzugehen. Es sind keine konkreten Fälle bekannt, in denen es zur Verfolgung von Deserteuren gekommen wäre (DIS/Landinfo 5.11.2018). Im Jahr 2014 entließ das Verteidigungsministerium Tausende Soldaten, die während der IS-Invasion im Nordirak ihre Posten verlassen haben und geflohen sind. Im November 2019 wurden, mit der behördlichen Anordnunge alle entlassenen Soldaten wieder zu verpflichten, über 45.000 wieder in Dienst gestellt (MEMO 6.11.2019).

Die Rekrutierung in die Volksmobilisierungskräfte (PMF) erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis. Viele schließen sich den PMF aus wirtschaftlichen Gründen an. Desertion von den PMF kam in den Jahren 2014 bis 2015 seltener vor als bei der irakischen Armee. Desertion von Kämpfern niederer Ränge hätte wahrscheinlich keine Konsequenzen oder Vergeltungsmaßnahmen zur Folge (DIS/Landinfo 5.11.2018). […]

1.2.4 Minderheiten

Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.1.2019). Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 4.3.2020). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch PMF-Milizen, in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 11.3.2020).

Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60-65% der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17-22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15-20%) (AA 12.1.2019). Genaue demografische Aufschlüsselungen sind jedoch mangels aktueller Bevölkerungsstatistiken sowie aufgrund der politisch heiklen Natur des Themas nicht verfügbar (MRG 5.2018). Zahlenangaben zu einzelnen Gruppen variieren oft massiv (siehe unten).

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdischen Region im Irak (KRI), oft benachteiligt. Zudem ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen – eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht (AA 12.1.2019). […]

Kurden

Schätzungen zufolge sind 15-20% der irakischen Bevölkerung Kurden. Während sich die arabische Bevölkerung vorwiegend in den westlichen Landesteilen, der Zentralregion und im Süden des Landes verteilt, leben die Kurden mehrheitlich im Nordosten. Die Kurden in der Kurdischen Region im Irak (KRI) bekennen sich überwiegend als Sunniten. Aber es gibt unter ihnen auch neuzeitliche Zoroastrier und Jesiden. Die meisten Kurden Bagdads fühlen sich einem schiitischen Religionszweig verbunden: dem des Faili-Schiitentums (GIZ 6.2019c).

Von ethnisch-konfessionellen Auseinandersetzungen sind auch Kurden betroffen, soweit sie außerhalb der KRI leben. Im Nachgang zum Unabhängigkeitsreferendum hat die zentral-irakische Armee die zwischen Kurden und Zentralregierung umstrittenen Gebiete größtenteils wieder unter die Kontrolle Bagdads gebracht (AA 12.1.2019). Insbesondere in diesen „umstrittenen Gebieten“ waren und sind Kurden und andere Minderheiten mit Diskriminierung, Vertreibung und in einigen Fällen mit Gewalt seitens der Regierungstruppen, insbesondere der mit dem Iran verbündeten PMF-Milizen, konfrontiert (USDOS 11.3.2020).

Faili-Kurden

Faili-Kurden (Feyli-Kurden) sind eine ethnische Gruppe, die historisch gesehen auf beiden Seiten des Zagros-Gebirges, entlang der irakisch-iranischen Grenze, angesiedelt ist und als „cross-border“ Bevölkerung betrachtet werden kann (MRG 11.2017a). Heute leben Faili-Kurden im Irak hauptsächlich in Bagdad (MRG 11.2017a; vgl. Rudaw 29.4.2018), sowie in den östlichen Teilen der Gouvernements Diyala, Wasit, Maysan und Basra. Auch in der Kurdischen Region im Irak (KRI) gibt es eine größere Zahl von Faili-Kurden. Sie sprechen einen eigenen kurdischen Dialekt, der ein Unter-Dialekt des Luri ist (Anm.: dem Persischen nah verwandt) (MRG 11.2017a). Angaben zur Zahl der Faili-Kurden im Irak unterscheiden sich Teils massiv: Sie reichen von 200.000-250.000 (Rudaw 29.4.2018) bzw. 300.000 (Lattimer EASO 26.4.2017) über 1,5 Millionen (MRG 11.2017a) bis hin zu 2,5 Millionen nach Eigenangaben (Al-Monitor 17.7.2017). Von den 329 Parlamentssitzen in Bagdad sind neun per Gesetz für Minderheiten reserviert, davon einer für einen Kandidaten der Faili-Kurden aus dem Gouvernement Wasit. Im kurdischen Regionalparlament ist kein Sitz für ein Mitglied der Faili-Kurden reserviert (AA 12.1.2019; vgl. FH 4.3.2020; USDOS 11.3.2020).

Anders als die Mehrheit der Kurden, die generell sunnitisch sind, sind Faili-Kurden Schiiten. Schon in den 1970er und 1980er Jahren unter dem Regime von Saddam Hussein wurde zwischen 150.000 und 500.000 Faili-Kurden die irakische Staatsbürgerschaft entzogen, gefolgt von Massendeportationen und Vertreibungen in den Iran sowie Konfiszierung von Faili-Eigentum (MRG 11.2017a; vgl. CIA 28.2.2020). Am 29.11.2010 erklärte das irakische Höchstgericht die Faili-Kurden zu Opfern einer ethnischen Säuberung (Rudaw 29.4.2018).

Etwa 1,4 Millionen Faili haben damals ihre Staatsbürgerschaft verloren. Nach 2003 kehrten weniger als 15.000 Faili-Kurden in den Irak zurück (Ekurd 17.7.2017). Das Staatsbürgerschaftsgesetz von 2006 ermöglicht es ihnen ihre Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen (MRG 11.2017a; vgl. CIA 28.2.2020). Der Prozess dazu ist jedoch langwierig und bürokratisch. Ohne Staatsbürgerschaftsdokumente haben Faili-Kurden keinen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung. Sie sind auch nicht in der Lage, andere Dokumente wie Geburts-, Sterbe- und Heiratsurkunden zu erhalten. Über Faili-Kurden, denen es gelungen ist, Staatsbürgerschaftsnachweise zu erhalten, wurde berichtet, dass die ihnen ausgestellten Personalausweise eine andere Farbe haben als die anderer Iraker bzw. Ausweise sie als Bürger „iranischer Herkunft“ ausweisen, was zu Diskriminierung führen kann. Darüber hinaus werden die Akten von Faili-Kurden immer noch in der Abteilung für „Fremde“ der Generaldirektion für Staatsangehörigkeitsangelegenheiten aufbewahrt. Manche Faili-Kurden berichten von Beleidigungen, Schikanen und Demütigungen beim Besuch von Ämtern. Die Restitution von Faili-Eigentum geht nur schleppend voran. Eine Kommission dafür wurde nach dem Fall Saddam Husseins eingerichtet (MRG 11.2017a).

1.2.5 Grundversorgung und Wirtschaft

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.1.2019). Der irakische humanitäre Reaktionsplan schätzt, dass im Jahr 2019 etwa 6,7 Millionen Menschen dringend Unterstützung benötigten (IOM o. D.; vgl. USAID 30.9.2019). Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die grassierende Korruption verstärkt vorhandene Defizite zusätzlich. In vom Islamischen Staat (IS) befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wiederhergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 12.1.2019).

Nach Angaben der UN-Agentur UN-Habitat leben 70% der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.1.2019). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich (K4D 18.5.2018). Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig (AA 12.1.2019).

Wirtschaftslage

Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 (GIZ 1.2020c). Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet (WKO 18.10.2019).

Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 1.2020c). Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.1.2019).

Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung (WB 12.2019).

Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen (OHCHR 11.9.2019). Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an (WB 19.4.2019). Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen (Joel Wing 18.2.2020). Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an (Rudaw 16.2.2020).

Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD (Anm.: ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv (IOM 1.4.2019).

1.3 Zum Fluchtvorbringen:

1.3.1 Erstbefragt hat der Beschwerdeführer angegeben, er habe keine Ausbildung und zuletzt als Mechaniker im Verteidigungsministerium gearbeitet, wo meist Schiiten und Iraner gewesen seien. Diese hätten ihn gefoltert. Er habe eine Tätowierung am linken Oberarm gehabt, die ihm mit Säure entfernt worden sei. Er sei nach Al Hawidscha und Tikrit gebracht worden, wo er arbeiten habe müssen. Wenn er nicht mehr arbeiten habe können, hätten ihn die Schiiten gefoltert. Weil er keine Ruhe mehr gehabt habe, hätte er beschlossen, den Herkunftsstaat zu verlassen. Den Ausreiseentschluss habe er ca. fünf Monate vor der Befragung gefasst uns sei auch zu dieser Zeit ausgereist (d. h. ca. Mitte Dezember 2014).

1.3.2 Beim BFA gab er rund 14 Monate später an, meistens im Kriegsgebiet im Einsatz gewesen zu sein, wo sie ihre Heimat verteidigt hätten. Dort gebe es verschiedene Milizen, welche auch Leute umgebracht hätten. Einmal sei er wegen der Hitze bei der Arbeit leicht bekleidet gewesen, sodass auch die Milizen sein Tattoo gesehen und es deshalb mit Säure zu entfernen versucht hätten. An diesem Tag sei er gefoltert worden, und seither habe er genug vom Irak gehabt. Im Fall einer Rückkehr erwarte er den Tod, weil er desertiert sei.

Er sei einmal im Gefängnis gewesen, wegen Alkoholkonsums im Ramadan, aber gefoltert worden sei er am Arbeitsplatz. Nach der Folterung am Oberarm habe er sich entschlossen, das Land zu verlassen, das sei zwei Jahre zuvor gewesen (d. h. Juli 2014). Um fliehen zu können, habe er einem Offizier Schmiergeld zahlen müssen. Einer Partei gehöre er nicht an, als Kurde und Sunnit sei man aber immer benachteiligt. Gefoltert hätten ihn Iraner und Schiiten. Zwar sei er danach im Iran gewesen, aber im kurdischen Gebiet wegen einer ärztlichen Behandlung seines Armes. Er könne nicht lesen, als Mechaniker beim irakischen Militär brauche man das auch nicht, man müsse nur gut reparieren können.

1.3.3 In der Beschwerde wird vorgebracht, die schiitische Badr-Miliz habe die Führung der militärischen Einheit übernommen, in welcher der Beschwerdeführer gearbeitet habe, dem befohlen worden sei, fortan eine Waffe zu tragen. Dieser hätte das nicht gewollt, weil er kein „Killer“ sei. Um ihm zu zeigen, wer befehle und das Sagen habe, sei ihm die Tätowierung am rechten Oberarm mit Säure entfernt worden. Die Badr-Miliz habe gemeint, dass ein Soldat so etwas nicht habe. Außerdem sei er zwei Tage lang gefangen gehalten und gefoltert worden. Man habe ihn geschlagen und getreten, wobei er am Fuß verletzt worden sei. Nachdem er gegen Zahlung des Schmiergelds „ausbrechen“ habe können, habe er sich kurz im Krankenhaus aufgehalten, um den Fuß versorgen zu lassen, und dann zuhause den Reisepass für die Flucht geholt.

Er sei zu einem Mann namens Rusch Nuri Schawis („Rowsch Nuri Shaways“) geflohen, der „einigen politischen Einfluss“ gehabt und ihm versprochen habe, ihn zu verteidigen. Nach drei Monaten habe sich herausgestellt, dass dieser ihn nicht schützen könne. Rusch Nuri Schawis habe ihm noch zu einer bis 16.01.2015 gültigen ID-Karte für die „Green Zone“ verholfen, vor deren Ablaufen der Beschwerdeführer aus dem Irak habe flüchten müssen. In den Iran sei er nicht wegen der Operation am rechten Oberarm gefahren, sondern wegen einer Blinddarm-Operation.

Selbst wenn dem Beschwerdeführer nach seiner Desertion nur eine Freiheitsstrafe drohe, seien die Haftbedingungen für Sunniten unmenschlich, ihm drohe im Gefängnis deshalb Folter.

1.3.4 Ergänzend brachte der Beschwerdeführer sieben Monate nach der Beschwerde vor, sein Bruder habe sich zwei Tage nach der Desertion des Beschwerdeführers an das Verteidigungsministerium gewandt, weil die Familie nicht gewusst habe, wo dieser sich aufhielt, und nachgefragt, wo der Beschwerdeführer sei. Man habe ihm darauf bestätigt, dass dieser bis 12.11.2014 im Dienst gewesen sei.

Dazu legte er eine Bestätigung bei, in deren Übersetzung es heißt, der Beschwerdeführer sei verantwortlich für die „Mechanik“ des militärischen Regiments „und er ist weiterhin bei uns im Dienst“. Als Aussteller scheint „Spezialschutzregiment/9 Schutz für Dr. Rooz Nuri Schawis“ auf, und als Datum der 12.11.2014.

1.3.5 Im Oktober 2020 brachte der Beschwerdeführer unter Vorlage (einer Kopie) der bis 16.01.2015 gültige Karte für die „Green Zone“ ergänzend vor, diese sei der Nachweis, dass der Beschwerdeführer als Mechaniker im Verteidigungsministerium gearbeitet habe.

In der Beschwerdeverhandlung ergänzte er im Hinblick auf die dort dargelegten Länderfeststellungen, es sei klar, dass ihm als Sunnit im Fall einer Rückkehr eine ersthafte Bedrohung seines Lebens und Übergriffe im Sinn der Art. 2 und 3 EMRK bevorstehen würden.

1.3.5 Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer 2014 oder zu einem anderen Zeitpunkt aus dem Militärdienst desertiert wäre, weder deshalb, weil er dort gefoltert worden wäre, noch, weil er keine Waffe tragen hätte wollen, oder aus einem anderen Grund. Ferner kann nicht festgestellt werden, aus welchem Grund der Beschwerdeführer den Herkunftsstaat verlassen hat.

1.3.6 Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer aus anderen, sei es auch unterstellten, Gründen der politischen Gesinnung, Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Herkunftsstaat staatliche Verfolgung oder eine private Verfolgung drohen würde, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könnte oder wollte, auch nicht als Sunnit und Kurde.

1.3.7 Aus spezifischen Länderberichten ergibt sich im Zusammenhang mit der vorgebrachten kriminellen Aktivität von Milizen und der Bestrafung von Desertion Folgendes:

„Die PMF haben sich zu einem veritablen Machtfaktor entwickelt und umfassen 150.000 Mann. Per Gesetz sind die PMF seit 2016 in die Sicherheitsstrukturen eingegliedert und die Gehälter werden aus dem Budget gezahlt. […] Einzelne Milizen haben sich zu starken politischen Akteuren entwickelt. Die PMFs stellen über 60 Abgeordnete, haben politische Vorfeldorganisationen und sind tlw. wirtschaftlich stark verankert. Andere wiederum gleichen eher kriminellen Organisationen und finanzieren sich zusätzlich durch Schutzgelderpressung, illegale Wegzölle und Entführungen. Eine Demobilisierung der PMF ist insofern schwierig, da keine Arbeitsplätze vorhanden sind und es nicht im Interesse des Staates ist, frustrierte und militärisch geschulte junge Männer in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Premierminister Mustafa AL-KADHIMI ist bemüht die PMF Milizen unter staatliche Kontrolle zu bringen - auch auf Druck der USA. […]“

„Sicherheit: Während für den Gesamtirak weiterhin ein hohes Sicherheitsrisiko besteht, stellt sich die kampf- und terrorbezogene Sicherheitslage in der RK-I relativ besser dar. Die in den letzten Jahren verhältnismäßig stabile Sicherheitssituation in Bagdad hat sich seit Beginn der Proteste im Oktober 2019 wieder verschlechtert. Terroristische Gruppierungen fokussierten sich auf andere Landesteile. Nach der militärischen Niederlage des Da‘esh ist jedoch eine Zunahme an Anschlägen aus dem Untergrund wahrscheinlich. Der Großteil der Anschläge in Bagdad hat einen religiösen oder ethnischen Hintergrund und richtete sich gegen schiitische Ansammlungen, Checkpoints und Ministerien. Schiitische Milizen operieren in fast allen Stadtteilen Bagdads (auch in nicht-schiitischen) weitgehend außerhalb der Kontrolle der Zentralregierung. […]“

(„Asylländerbericht – Irak“ der Österreichischen Botschaft Amman, Oktober 2020, www.ecoi.net/en/file/local/2038669/IRAK_ÖB_Asylländerbericht_2020_10.pdf)

„Im Mai 2015 berichteten die Iraqi News über die Ankündigung Ministerpräsident al-Abadis, ‚alle rechtlichen Schritte gegen jene, die unter ihrem Militärdienst davongelaufen sind oder nicht anwesend waren, einzustellen.‘ In einer Erklärung aus dem Ministerbüro Abadis heißt es: ‚Der Ministerpräsident hat beschlossen, alle rechtlichen Schritte gegen Angehörige der Streitkräfte und die Kräfte der inneren Sicherheit endgültig einzustellen, einschließlich in Bezug auf die folgenden Straftaten: Flucht, Absentismus, Simulieren von Krankheit und Selbstverletzungen, um vom Dienst befreit zu werden, sowie Verbrechen gegen das Militärregime und die Angelegenheiten des Dienstes.‘“ (S. 80)

(EASO-Informationsbericht Irak „Gezielte Gewalt gegen Individuen“ von März 2019, www.ecoi.net/en/file/local/2019413/2019_03_EASO_COI_Report_Iraq_Targeting_of_Individuals_DE.pdf)

„Auch eine von ACCORD im Dezember 2019 befragte Auskunftsperson gab an, dass ein von ihr kontaktierter in Bagdad stationierter Anwalt gemeint habe, dass die vom Gesetz vorgesehene Strafe für Personen, die während ihres Militärdienstes ins Ausland desertieren, eine Haftstrafe von fünf Jahren sei. Allerdings habe die Regierung laut Angaben des Anwalts eine allgemeine Amnestie für kriminelle Personen, einschließlich Mitglieder des Militärs, erlas-sen. Diese Amnestie sei mit 25. August 2016 wirksam geworden, was bedeute, dass sie nur für all jene gelte, die am und vor dem 25. August 2016 Verbrechen begangen oder den Militärdienst beendet hätten.“

(Anfragebeantwortung zum Irak: „Strafmaß im Fall einer Desertion von Militärangehörigen [insbesondere 2015 und 2016]“, 06.12.2019, www.ecoi.net/de/dokument/2023187.html)

1.3.8 Die Kurzübersichten über Konfliktvorfälle aus dem „Armed Conflict Location & Event Data Project“ ACLED berichten für die Provinz Bagdad von 252 Vorfällen in den ersten beiden Quartalen 2020, davon 57 mit 88 Toten. Im 3. und 4. Quartal 2019 waren es 208, davon 73 mit 274 Todesopfern. Das waren drei- bis viermal mehr als im 1. Halbjahr 2019, wo 60 Vorfälle berichtet wurden, davon 22 mit 65 Todesopfern.

Im gesamten Jahr 2019 waren es 268 Vorfälle, davon 95 mit 339 Toten. In allen Berichten ist der Bezirk Karkh jeweils unter den Orten dieser Vorfälle.

(www.ecoi.net/en/file/local/2025387/2019q3Iraq_de.pdf www.ecoi.net/en/file/local/2031973/2019q4Iraq_de.pdf www.ecoi.net/en/file/local/2031969/2019yIraq_de.pdf www.ecoi.net/en/file/local/2031975/2020q1Iraq_en.pdf www.ecoi.net/en/file/local/2040258/2020q2Iraq_en.pdf - Abfrage jeweils 10.11.2020)

1.3.9 Für eine Rückkehr des Beschwerdeführers kommt angesichts seiner mehrjährigen Abwesenheit und seines früheren langjährigen Wohnsitzes primär Bagdad infrage. Da sich auch nur dort Angehörige mit festgestelltem Wohnort (im Irak) befinden, ist eine Alternative in einem anderen Landesteil des Irak nicht feststellbar, wo es dem Beschwerdeführer möglich wäre, sich niederzulassen (z. B. in der oben in 1.3.7 als „RK-I“ erwähnten kurdischen Autonomieregion). Bagdad ist für den Beschwerdeführer wie auch andere kurdische Sunniten erreichbar.

Aufgrund der Feststellungen in 1.2.1, 1.2.2, 1.2.3, 1.3.7 und 1.3.8 ist allerdings von einer derzeit neuerlich sehr instabilen Sicherheitslage in Bagdad und verstärkten Aktivitäten des Daesh, vor allem aber auch (unter anderem krimineller Teile) schiitischer Milizen auszugehen, die den Beschwerdeführer im Konfrontationsfall aufgrund als – im Gegensatz zu den meisten Kurden Bagdads – nicht ihrer Konfession zugehörig zuordnen können, und vor denen hinreichender staatlicher Schutz aktuell nicht besteht, sodass dort deswegen in Summe eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers, unabhängig von seiner Haltung gegenüber den Milizen und dem Daesh in deren innerstaatlichem Konflikt, vorliegt.

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben im Rahmen der Verhandlung, wo der Beschwerdeführer als Partei befragt wurde, und durch die Einsichtnahme in die Akten des BFA unter zentraler Berücksichtigung der Angaben des Beschwerdeführers, ferner in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt.

2.1 Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem Inhalt des Aktes des BFA und des vorliegenden Gerichtsakts.

2.2 Zur Person des Beschwerdeführers:

2.2.1 Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen, seinem Gesundheitszustand, seiner Arbeitsfähigkeit sowie seiner Glaubenszugehörigkeit gründen sich auf die diesbezüglichen glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers und die Feststellungen des Bescheids, ebenso jene zur Familie und zur Ausbildung und Tätigkeit des Beschwerdeführers, jeweils aktualisiert durch die jüngsten Angaben, zuletzt bei der Verhandlung. Seine Gesundheit betreffend hat er angegeben, 2018 psychische Probleme überwunden zu haben (ON 16) und in der Verhandlung, gesund und arbeitsfähig zu sein (S. 4), sodass auf die 2017 verordneten Antidepressiva Seroquel und Sertralin (ON 5) nicht weiter einzugehen war. Sein voller Name wurde dem Reisepass entnommen (AS 67, 93) wie in Spruchpunkt A) 2. angegeben.

2.2.2 Betreffend Tatsache und Zeitpunkt der Scheidung liegt die betreffende (Übersetzung der) Urkunde vor (in ON 16 als Beilage), sodass auf die abweichenden Angaben in der Beschwerdeschrift schon deshalb nicht einzugehen war, weil deren Inhalt unter einem (in ON 16) in diesem Punkt im Sinn der Urkunde richtiggestellt wurde. Der Beschwerdeschrift wurde bei der Verhandlung dann auch noch betreffend den medizinischen Anlass der Iran-Reise (Arm, nicht Blinddarm) widersprochen und so das Vorbringen im Verwaltungsverfahren zu diesen Punkten „wiederhergestellt“.

2.2.3 Beim behaupteten Analphabetismus des Beschwerdeführers war keine positive Feststellung möglich, weil dieser in der Verhandlung zwar Schwierigkeiten bei der Lokalisation seines Wohnviertels im Luftbild mit fehlenden Lesekenntnissen begründete (S. 4 f), und auch die Nichtkenntnis vom Inhalt der Urkunde vom 12.11.2014 so erklärte (was nicht zwingend ist, weil sie nicht kurdisch abgefasst ist, sondern arabisch), allerdings erscheinen mangelnde Lesekenntnisse bei einer Tätigkeit im Militär hinderlich, sei es auch einer handwerklichen, weil schon das Erfassen der Diensteinteilung (Dienstplan) schwierig wäre, dazu kommt die Einteilung der (laut Beschwerdeführer) fünf monatlichen Urlaubstage, schließlich auch das Verwenden von Lagerbelegen bei Materialentnahmen oder Lieferungen.

2.2.4 Der Ausreisezeitpunkt war nicht genauer feststellbar, weil der Beschwerdeführer zunächst angab, er sei nach der etwa zeitgleich mit dem Entschluss zur Ausreise (AS 5) erfolgten Abreise aus Bagdad vor „ca. 5 Monaten“ (d. h. ca. im Jänner 2015) drei Monate in der Türkei gewesen (AS 7), dann wieder, dass er sich nach der Folterung „im Kriegsgebiet“ „am Arbeitsplatz“ „vor 2 Jahren“ (d. h. Mitte 2014) entschlossen habe, das Land zu verlassen (AS 131 f).

Im Beschwerdeverfahren brachte er anfangs vor, zwei Tage lang festgehalten und dabei gefoltert und am Fuß verletzt worden zu sein, worauf er gegen Schmiergeld freikommen und in ein Krankenhaus gelangen habe können, wo der Fuß versorgt worden sei. (AS 247 ff) Dann habe er zuhause seinen Reisepass geholt und sei zu Rusch Nuri Schawis geflohen, der ihm nach drei Monaten eine noch bis 16.01.2015 gültige ID-Karte verschafft habe. Vor deren Ablaufen habe er dem Irak verlassen. (AS 249) In der Beschwerdeergänzung vom August 2017 wird vorgebracht, der Bruder des Beschwerdeführers habe zwei Tage nach dessen Desertieren Auskunft über dessen Verbleib vom Ministerium erbeten und darauf eine Bestätigung erhalten, wonach dieser bis zum 12.11.2014 im Dienst gewesen sei.

Ohne schon auf die Bestätigung selbst einzugehen, ergibt sich aus dem Vorbringen im Beschwerdeverfahren das unlogische Ergebnis, dass der Beschwerdeführer am 12. oder 13.11.2014 desertiert wäre, dann zuhause den Pass geholt und sich zu Rusch Nuri Schawis begeben hätte, der wiederum ihm drei Monate später (Mitte Februar 2015) einen Ausweis besorgt haben soll, der nur (noch?) bis 16.01.2015 (weiter?) gegolten hätte. In der „Zwischenzeit“ wäre der Beschwerdeführer ausgereist. (AS 249)

In der Verhandlung machte der Beschwerdeführer keine Angaben zum Ausreisezeitpunkt, er gab an, weder das Datum zu wissen, noch Monat oder Jahreszeit, und auch nicht, ob es vor oder nach dem Ramadan oder dem Zuckerfest gewesen sei, nicht einmal an das Jahr könne er sich erinnern. (S. 7 f)

Da es denkunmöglich ist, nach Mitte Februar 2015 aber zugleich vor 17. Jänner 2015 eine Handlung zu setzen, und auch die Angaben im Verwaltungsverfahren nicht helfen, sondern selbst widersprüchlich sind, war also nur ein Zeitfenster für die Ausreise feststellbar.

2.3 Zum Herkunftssta

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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