TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/29 W258 2146964-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.01.2021
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Entscheidungsdatum

29.01.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W258 2146964-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gerold PAWELKA-SCHMIDT über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Migrantinnenverein St. Marx, 1090 Wien, Pulverturmgasse 4/2/R01, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.01.2021, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (in Folge kurz „BF“) stellte am XXXX in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

In seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX und in seinen Einvernahmen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge „belangte Behörde“) am XXXX und am XXXX brachte der BF im Wesentlichen vor, er sei Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan (in Folge kurz „Afghanistan“), stamme aus der Stadt Kabul, sei sunnitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. Aus Afghanistan sei er geflohen, weil seine Ehefrau bereits vor der Eheschließung mit einem anderen Mann verlobt gewesen sei, der ihn nun verfolge.

Die belangte Behörde wies den Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, sprach aus, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan zulässig sei, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.) und legte die Frist für die freiwillige Ausreise des BF mit vierzehn Tagen fest (Spruchpunkt IV.).

Dagegen richtet sich die gegenständliche Beschwerde des BF wegen näher genannter verfahrensrechtlicher Mängel und inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Er sei von dem ehemaligen Verlobten seiner Ehefrau verfolgt, darüber hinaus sei eine Rückkehr nicht möglich, weil er in eine ausweglose Lage geraten würde und seine Integration in Österreich entgegenstehe.

Am 18.01.2021 wurde über die Beschwerde hg mündlich verhandelt. Dabei brachte der BF vor, er sei auch auf Grund seiner Tätigkeit für die US-amerikanische Firme „Reed“ verfolgt.

Beweise wurden aufgenommen durch Einvernahme des BF als Partei sowie Einsicht in den Verwaltungsakt (OZ 1) und in die folgenden Urkunden:

?        Strafregisterauszug des BF vom 18.01.2021,

?        EASO – European Asylum Support Office Country Guidance Afghanistan; Guidance note and common analysis, Juni 2019 als Beilage ./I,

?        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, vom 16.12.2020 als Beilage ./II,

?        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 als Beilage ./III,

?        Bestätigung des Österreichischen Roten Kreuzes über die freiwillige Mitarbeit des BF beim „Team-Österreich-Tafel“ (OZ 8),

?        ÖSD Zertifikat A1 (AS 155 f),

?        Empfehlungsschreiben XXXX vom 03.01.2021 (OZ 12 S 7),

?        Empfehlungsschreiben XXXX vom 05.01.2021 (OZ 12 S 8) und ein

?        Lichtbild eines Mannes mit Verband, das den verletzten Schwager des BF zeigen soll (Beilage ./IV).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Der folgende Sachverhalt steht fest:

1.1. Zur individuellen Situation des BF:

1.1.1. Allgemeines:

Der männliche BF, ein Staatsangehöriger Afghanistans, ist volljährig, gehört der Volksgruppe der Tadschiken und der Glaubensrichtung der sunnitischen Moslems an und spricht als Muttersprache Dari. Er wurde am XXXX in Afghanistan in der Stadt Kabul geboren, wo er aufgewachsen ist und bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 gelebt hat.

Der BF ist aus Afghanistan schlepperunterstützt in Richtung Europa ausgereist. Er ist unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet eingereist, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

Der BF ist strafgerichtlich nicht vorbestraft.

1.1.2. Zu den Fluchtgründen:

Der BF wurde und wird in Afghanistan auf Grund der Ehe mit seiner Frau nicht bedroht.

Der BF hat etwa zwei Jahre in der Stadt Kabul als Wächter für die US-amerikanische Firma „Reed Inc.“, gearbeitet, die Sicherheitsdiensleistungen angeboten hat. Auf Grund dieser Tätigkeit wurde er weder bedroht, noch kam es zu Übergriffen auf ihn.

1.1.3. Zur individuellen Situation des BF in Bezug auf eine Rückkehr in den Herkunftsstaat:

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

Der BF hat in Afghanistan zehn Jahre Schulbildung genossen und keine Ausbildung absolviert. Er verfügt über sieben Jahre Berufserfahrung als Taxi- und Busfahrer, Hilfsarbeiter und Wächter.

Der BF hat zumindest die folgenden Familienmitglieder bzw Verwandte in der Stadt Kabul: Ehefrau und zwei minderjährige Söhne, Eltern, Schwester Habiba und ihr Mann. Die Frau und die Kinder des BF leben derzeit bei Bekannten seines Schwagers in der Stadt Kabul.

Der BF steht mit seinen Familienmitgliedern und Verwandten in Afghanistan in Kontakt. Im Falle einer Rückkehr des BF nach Afghanistan wären seine Familie bzw seine Verwandten in der Lage, ihn zumindest in der Anfangszeit mit Kost und Logis zu unterstützen.

Der BF und seine Familie verfügen über keine nennenswerten Vermögenswerte. Sein Onkel väterlicherseits ist Eigentümer eines Hauses in der Stadt Kabul. Sein Schwager arbeitet beim Finanzamt.

Der BF ist mit der afghanischen Kultur vertraut.

1.1.4. Zum Privat- und Familienleben und zur Integration des BF in Österreich:

Zum Bestehen eines Familienlebens:

Der BF verfügt in Österreich, abgesehen von einem Cousin, zu dem er aber keinen Kontakt hat, über keine Familie oder Verwandte und keine vergleichbaren engen sozialen Bindungen.

Zum Bestehen eines Privatlebens und der Integration des BF in Österreich:

Der BF ist seit seiner Antragstellung am XXXX aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend im Bundesgebiet aufhältig. Er bezieht seit seiner Einreise Leistungen aus der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er spricht sehr einfaches Deutsch, wobei er Deutschkenntnisse auf dem Niveau A1 nachgewiesen hat. In seiner Freizeit geht er spazieren und schaut Filme auf seinem Mobiltelefon. Er hat keine wesentlichen typischen westlichen Werte übernommen.

Der BF hat in Österreich zwei Jahre und drei Monate insgesamt 227 Stunden für das Rote Kreuz ehrenamtlich gearbeitet, wobei er sich als umgänglicher Mitarbeiter gezeigt hat. Spätestens zum 15.06.2019 hat der BF diese Tätigkeit aufgegeben.

Er pflegt seit etwa sechs Monaten soziale Kontakte mit der Familie XXXX , die er täglich besucht und seit seiner Tätigkeit für das rote Kreuz mit seiner dortigen Vorgesetzen XXXX , die er gelegentlich zum Essen zu sich einlädt und die ihn im Bedarfsfall mit Rat und finanziell unterstützt.

Verstöße gegen die öffentliche Ordnung:

Der BF hat im Jahr 2019 eine Verwaltungsstrafe wegen der Benutzung eines nicht verkehrstüchtigen Fahrrads auf einer öffentlichen Straße erhalten.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

1.2.1. Sicherheitslage (LIB Kapitel 5):

Allgemeines:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht.

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt.

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Attacken der Taliban im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu.

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück.

High-Profile Angriffe (HPAs):

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88.

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019.

Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt. Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte, wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden . Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein.

Zum Friedens- und Versöhnungsprozess mit den Taliban (LIB Kapitel 4):

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben.

1.2.2. Zur COVID-19 Pandemie und ihren Auswirkungen (LIB Kapitel 3):

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat.

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden.

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet.

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19.

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten.

Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen. In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben.

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (etwa Zucker, Öl und Reis) um zwischen 18-31% gestiegen sind. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark.

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst.

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne.

Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind.

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt, wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind. Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam.

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit. IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an. Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt – zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020.

1.2.3. Sozialbeihilfen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen und Versicherungen (LIB Kapitel 22, 22.1 und 24):

Wohnungsbeihilfe

Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht. (LIB Kapitel 24)

Unterstützung bei Arbeitslosigkeit

In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang – als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an.

Sonstige staatliche Leistungen

Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Ein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem gibt es, von einigen Ausnahmen abgesehen (zB Armee und Polizei), nicht. Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch. Ein Pensionssystem ist nur im öffentlichen Sektor etabliert. Manche Arbeitgeber zahlen ihren Angestellten Abfertigungen, welche die Angestellten sich nach einem gewissen Zeitraum ausbezahlen lassen können. Die weitgehende Informalität der afghanischen Wirtschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte nicht in den Genuss von Pensionen oder Sozialbeihilfen kommt.

Im Rahmen des zehn Jahre andauernden „Citizens’ Charter National Priority Program“ wurde im Jahr 2016 das Citizens’ Charter Afghanistan Project ins Leben gerufen. Es zielt darauf ab, die Armut in teilnehmenden Gemeinschaften zu reduzieren und den Lebensstandard zu verbessern, indem die Kerninfrastruktur und soziale Leistungen durch Community Development Councils (CDCs) gestärkt werden. Das CCAP soll Entwicklungsprojekte unterschiedlicher Ministerien umsetzen und zu einem größeren Nutzen für die betroffenen Gemeinschaften führen. Ziel des Projektes war es von Anfang an, 3,4 Millionen Menschen den Zugang zu sauberem Trinkwasser zu ermöglichen, die Qualität von Dienstleistung in den Bereichen Gesundheit, Bildung, ländliche Straßen und Elektrizität zu verbessern sowie die Zufriedenheit der Bürger/innen mit der Regierung und das Vertrauen in selbige zu steigern. Außerdem sollten vulnerable Personen – Frauen, Binnenvertriebene, behinderte und arme Menschen – besser integriert werden. Alleine im Jahr 2016 konnten 9,3 Millionen Afghan/innen von den Projekten profitieren. Im Rahmen des CCAP wurden auch Sensibilisierungskampagnen betreffend COVID-19 in ländlichen Gebieten durchgeführt. Bis Juni 2020 wurden Treffen mit Ratsmitgliedern und Mullahs in etwa 12.000 Gemeinden in 124 Bezirken in ganz Afghanistan abgehalten.

1.2.4. Medizinische Versorgung:

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 23).

Insbesondere im Zuge der Covid-19-Pandemie zeigten sich Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das bei Vorsorge (Schutzausstattung), Diagnose (Tests) sowie medizinischer Versorgung von Erkrankten akute Defizite aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort KrankenpflegerInnen anstelle von ÄrztInnen, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinzlevel oder höher vorgenommen werden; auf Distriktebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich.

Auch dies gilt allerdings nicht für das gesamte Land, da in Distrikten mit guter Sicherheitslage in der Regel mehr und bessere Leistungen angeboten werden können als in unsicheren Gegenden. Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. (LIB, Kapitel 23)

1.2.5. Situation für Rückkehrer/innen:

Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan mit Stand 24.09.2020 über den Luftweg möglich. Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar. Diese Flugverbindungen sind derzeit allerdings unzuverlässig, sie können auf Grund der Pandemie gestrichen oder verschoben werden.

Im Zeitraum vom 01.01.2020 bis 12.09.2020 kehrten insgesamt 527.546 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück (LIB, Kapitel 24). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, weil sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen.

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 24).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen (LIB, Kapitel 24). Sie wurden Berichten zufolge von regierungsfeindlichen Gruppen bedroht, gefoltert oder getötet, weil sie sich vermeintlich die diesen Ländern zugeschriebenen Werte zu eigen gemacht hätten, „Ausländer“ geworden seien oder als Spione oder auf andere Weise ein westliches Land unterstützten. Heimkehrern wird von der örtlichen Gemeinschaft, aber auch von Staatsbeamten oft Misstrauen entgegengebracht, was zu Diskriminierung und Isolierung führt. (UNHCR 30.08.2018 S 52 f) Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 24).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 24).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 24).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (LIB, Kapitel 24).

Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM, wobei jedenfalls letztere trotz der Pandemie mit Stand 22.09.2020 weiterhin in Afghanistan operativ sind, in der ersten Zeit in Afghanistan Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 24).

Auch IOM Österreich unterstützt derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (LIB, Kapitel 24).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Für 400 Personen ist neben Beratung und Information – in Österreich sowie in Afghanistan – sowohl die Bargeldunterstützung in der Höhe von EUR 500,00 wie auch die Unterstützung durch Sachleistungen in der Höhe von EUR 2.800,00 geplant. Neben Beratung und Vorabinformationen ist IOM für die Flugbuchung verantwortlich und unterstützt die Projektteilnehmer auch bei den Abflugmodalitäten. In Afghanistan werden sie von den örtlichen IOM-Mitarbeitern direkt nach Verlassen des Flugzeuges empfangen und bei den Ein- bzw. Weiterreiseformalitäten unterstützt. (LIB, Kapitel 24)

IOM hat mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union das Projekt „RADA“ (Reintegration Assistance and Development in Afghanistan) entwickelt. Innerhalb dieses Projektes gibt es eine kleine Komponente (PARA – Post Arrival Reception Assistance), die sich speziell an zwangsweise rückgeführte Personen wendet. Der Leistungsumfang ist stark limitiert und nicht mit einer Reintegrationsunterstützung vergleichbar. Die Unterstützung umfasst eine kurze medizinische Untersuchung auf unmittelbare medizinische Bedürfnisse und die Auszahlung einer Bargeldunterstützung in der Höhe von 12.500 Afghani (rund EUR 140,00) zur Deckung unmittelbarer, dringender Bedürfnisse (temporäre Unterkunft, Weiterreise, etc.). Diese ist jedoch nur für Rückkehrer zugänglich die über den internationalen Flughafen von Kabul reisen.

1.2.6. Erreichbarkeit (LIB, Kapitel 5.35.):

Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, die Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege.

Das Transportwesen in Afghanistan gilt als „verhältnismäßig gut“. Es gibt einige regelmäßige Busverbindungen innerhalb Kabuls und in die wichtigsten Großstädte Afghanistans (IE o.D.). Die Kernfrage bleibt nach wie vor die Sicherheit. Es existieren einige nationale Busunternehmen, welche Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamiyan miteinander verbinden; Beispiele dafür sind Bazarak Panjshir, Herat Bus, Khawak Panjshir, Ahmad Shah Baba Abdali.

In Afghanistan gibt es insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnet die afghanische Luftfahrtindustrie einen Anstieg in der Zahl ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul – Herat und Kabul – Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, werden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt.

Internationaler Flughafen Kabul

Der Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul ist ein internationaler. Ehemals bekannt als internationaler Flughafen Kabul, wurde er im Jahr 2014 in „Internationaler Flughafen Hamid Karzai“ umbenannt. Er liegt 16 km außerhalb des Stadtzentrums von Kabul. In den letzten Jahren wurde der Flughafen erweitert und modernisiert. Ein neues internationales Terminal wurde hinzugefügt und das alte Terminal wird nun für nationale Flüge benutzt.

Folgende internationale Airlines fliegen nach Kabul: Turkish Airlines aus Istanbul, Silk Way Airlines aus Baku, Emirates und Flydubai aus Dubai, Air Arabia aus Sharjah, Mahan Air aus Teheran und Emirates aus Hong Kong.

Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Afghan Airlines) fliegen Kabul international aus Istanbul, Ankara, Medina, Dubai, Urumqi, Dushambe an.

Innerstaatlich gehen Flüge von und nach Kabul (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kandahar, Bost (Helmand, nahe Lashkargah), Zaranj, Farah, Herat, Mazar-e Sharif, Maimana, Bamian, Faizabad, Chighcheran und Tarinkot.

1.2.7. Zur Sicherheits- und Versorgungslage in der Heimatregion des BF, der Provinz Kabul im Allgemeinen und der Stadt Kabul im Besonderen (LIB, Kapitel 5.1. und weitere jeweils zitierte Quellen):

Kabul-Stadt – Geographie und Demographie

Die Stadt Kabul ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl zwischen 3,5 Millionen und 6,5 Millionen Einwohnern Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes. Sie ist über einen internationalen Flughafen sicher erreichbar.

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert, mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs.

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher. In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf qawmi, dh Unterstützung durch ihre sozialen Netzwerke, angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“.

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls. Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar, aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig; Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße.

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle, dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe – auch in der Hauptstadt – statt, wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März 2020 sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm. Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich, wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten. Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt.

Das USDOD beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben. Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt.

Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Straßen-Kriminalität in Kabul ein Problem. Im vergangenen Jahr wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet.

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet. Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung. Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Die Taliban fokussieren ihre Angriffe auf die Straße zwischen Surubi und Jagdalak und konnten diesen Straßenabschnitt auch kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen. Im Juli 2020 wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet. Es wird berichtet, dass der Islamische Staat in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen. Aufgrund des anhaltenden Drucks der ANDSF (Afghan National Security Forces), die Aktivitäten des Islamischen Staates zu stören, zeigte sich die militante Gruppe jedoch nur eingeschränkt in der Lage, 2019 in Kabul öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben.

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Selbstmordanschläge und IEDs finden statt und es wurde von gezielten Tötungen und Angriff auf militärische Einrichtungen bzw Sicherheitskräfte sowohl in Kabul-Stadt wie auch in den Distrikten der Provinz berichtet. Es gibt Berichte über Straßenblockaden und Angriffe auf Highways durch bewaffnete Gruppierungen.

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen.

In der Hauptstadt kam es im Jahr 2019 zu 217 sicherheitsrelevanten Vorfällen wobei es bei 62 Vorfällen zu zumindest einem Todesopfer gekommen ist und vom 01.01.2020 bis zum 30.09.2020 zu 109 Vorfällen, wobei es bei 57 Angriffen zu zumindest einem Todesopfer gekommen ist.

Seit Herbst 2018 haben die ANDSF-Kräfte eine konzertierte Anstrengung zur Auflösung militanter Gruppen begonnen, die im und um den Großraum Kabul herum aktiv sind. Die ANDSF setzen gemeinsam mit einem neuen Kommando der Gemeinsamen Streitkräfte, das im Juni 2020 eingerichtet wurde ihre Aktivitäten im Jahr 2020 fort. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen Operationen gegen aufständische Gruppierungen und kriminelle Banden sowie Luftschläge durch und konnten hochrangige Mitglieder der Taliban und des IS festnehmen, sowie zwei IS-Mitglieder verhaften, die angeblich Angriffe auf ein Krankenhaus und ein Medienunternehmen planten.

Grundversorgung und Arbeitsmarkt:

Die in Kabul ankommenden und ansässigen Binnenvertriebenen üben Druck auf die Gemeinschaft, die Grundversorgung und die soziale Infrastruktur aus, was die Aufnahmekapazität der Stadt stark beeinträchtigt. (EASO S 102) Die Grundversorgung oder der Arbeitsmarkt sind aber nicht zusammengebrochen:

Lebensmittel:

Hinsichtlich der Lebensmittelversorgung hat im Dezember 2018 FEWS Kabul als „unter Druck stehend“ bezeichnet, was bedeutet, dass selbst mit humanitärer Hilfe mindestens ein Fünftel der Haushalte zwar über ein Minimum an angemessenen Lebensmitteln verfügte, jedoch „nicht in der Lage war, sich einige wesentliche Non-Food-Artikel zu leisten, ohne Bewältigungsstrategien mit unumkehrbaren Folgen anzuwenden“ (EASO Country Guidance, S 132).

Die COVID-19-Krise führte in der ersten Hälfte des Jahres 2020 zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise. Sie sind seit April 2020, nach Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, Durchsetzung von Anti-Preismanipulations-Regelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmittelimporte, wieder gesunken. (LIB Kapitel 22)

Trinkwasser und Sanitäranlagen:

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO Country Guidance, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die 2017 durchgeführte Survey of the Afghan People der Asia Foundation ergab, dass signifikante Anteile der in Kabul und anderen zentralen Gebieten lebenden Afghanen (23,7 %) Probleme mit Trinkwasser als eines der größten Probleme vor Ort angaben. Die Stadt Kabul ist nach wie vor eine der wenigen Hauptstädte der Welt ohne zentrale Kanalisation. In der Folge kam es zu entsprechenden Problemen im Bereich Umweltverschmutzung und Gesundheit, die durch den starken Bevölkerungszuwachs, aber auch durch Verschmutzungen, vor allem den Fahrzeugverkehr, noch verschärft wurden. Anstelle eines Abwassersystems werden einzelne Klärgruben verwendet, die sich oft in der Nähe von Wasserbrunnen befinden. Das Austreten von Abwasser in das Grundwasser gilt als Hauptursache für die Wasserverunreinigung in der Stadt. Kabul gilt als eine der Städte weltweit, in denen das Wasser am knappsten ist. Der Grundwasserspiegel ist in den letzten Jahren aufgrund der gestiegenen Wassernachfrage und des übermäßigen Abpumpens stark gesunken. Die meisten der gemeinsam genutzten Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt sind mit Haushalts- und Industrieabwässern verseucht, die in den Fluss Kabul eingeleitet wurden, was schwerwiegende gesundheitliche Probleme mit sich bringt. In der ALCS 2016/17 wurde festgestellt, dass fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul über grundlegende Sanitäranlagen verfügt, d. h. eine Anlage, die nicht mit anderen geteilt wird und bei der die Exkremente entweder sicher entsorgt oder entfernt werden. Der Wasserverbrauch in Kabul hat unhaltbar zugenommen, was zu einem eklatanten Ungleichgewicht zwischen Wasserverfügbarkeit und Wassernachfrage geführt hat. Die Qualität des Grundwassers hat sich verschlechtert, so dass der Zugang zu sauberem Wasser immer schwieriger wird. Der jährliche Wasserbedarf wird auf mehr als 32 Millionen m³ geschätzt, während die Grundwasseranreicherung im Einzugsgebiet des Flusses Kabul, auf den die Stadt für ihre Wasserversorgung vollständig angewiesen ist, auf weniger als 28 Millionen m³ gesunken ist. Die Wasserversorgungs- und Abwasserentsorgungsgesellschaft Afghanistans (AUWSSC) schätzt, dass nur 32 % der Bevölkerung von Kabul Zugang zu fließendem Wasser haben und nur 10 % der Einwohner Trinkwasser erhalten. Das unzureichende Wassersystem der Stadt zwingt die Menschen, die es sich leisten können, eigene Brunnen zu bohren. Viele in den Vororten und auf den felsigen Hügeln der Stadt lebende arme Einwohner von Kabul hängen von öffentlichen Wasserhähnen ab, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. In der Regel ist das Wasserholen Aufgabe junger Kinder, oft der Mädchen. Nach Angaben der AUWSSC gab es 2018 etwa 72 private Unternehmen, die Tausende von Familien in der Stadt Kabul illegal mit Wasser beliefern (grundsätzlich in EASO Country Guidance, S 133, der auf die hier zitierten detaillierteren Angaben in EASO COI Reports, Key socio-economic indicators, S 65 ff verweist).

Wohnraum:

Laut einer Studie des International Growth Centre (IGC) lebten schätzungsweise 70 % der Bevölkerung in Kabul in informellen Siedlungen, die definiert sind als „Wohngebiete, die entweder auf Grundstücken errichtet wurden, auf die die Bewohner keinen Rechtsanspruch haben, und/oder Gebiete mit Wohneinheiten, die nicht den Planungs- und Bauvorschriften entsprechen“. Der größte Teil der Neubauten in der Stadt fällt unter diese Kategorie, und die Bevölkerungsdichte in informellen Gebieten kann mehr als doppelt so hoch sein wie in offiziellen Wohngebieten. Nach Angaben des IGC „bieten informelle Siedlungen in Kabul in erheblichem Umfang günstigen Wohnraum für die meisten Einwohner der Stadt“. Laut Fabrizio Foschini haben informelle Siedlungen zwar eine größere Obdachlosigkeitskrise verhindert, doch verschärfe das ungezügelte Wachstum bestehende Probleme wie das Fehlen von Abwassersystemen und die ineffiziente Müllentsorgung. Schlecht gebaute Häuser an Orten mit eingeschränkter Zugänglichkeit „haben die Not der in diesen Gebieten lebenden Rückkehrer, Wirtschaftsmigranten und Binnenvertriebenen noch verschlimmert“. Ein Programm „Stadt für alle“, das von der Regierung durchgeführt und von UN-Habitat unterstützt wird, untersuchte Immobilien in Kabul und stellte fest, dass es nur für 14 % hiervon eine förmliche Eigentumsurkunde gibt, was niedriger ist als in anderen Provinzstädten (17 %). Der Kaufpreis für formellen Wohnraum in Kabul lag bei etwa 35.000 bis 500.000 USD, während das durchschnittliche monatliche Haushaltseinkommen in Kabul und der Region Zentrum im Jahr 2017 auf 208 USD geschätzt wurde. Das Mieten von Wohnraum nimmt in den städtischen Gebieten Afghanistans zwar zu, gilt aber nur in Kabul als gängige Praxis. Von den privaten Haushalten in Kabul besitzen etwa 64,9 % ihre Wohnung und 27,6 % leben zur Miete. Laut dem Analysten Foschini gibt es bei Neusiedlern die Tendenz, sich an ihrem Herkunftsort niederzulassen, was ihnen die Möglichkeit gibt, in den Genuss von qawmi, dh Unterstützung durch ihre sozialen Netzwerke, für die Nutzung und den Erhalt von Grundstücken zu erhalten. Viele städtische Haushalte beherbergen Mitglieder ihrer Großfamilie aus ländlichen Gebieten, die in die Stadt gekommen sind, um Arbeit zu suchen, vor allem in Kabul. Solche Haushalte sind in der Regel generationenübergreifend und geben auch älteren Verwandten Unterkunft. Die Bereitstellung von Grundversorgungsleistungen wie Wasser, Abwasser und Strom war für die wachsenden informellen Siedlungen, die sich in den zentral gelegenen Hügeln von Kabul herausgebildet haben, schwierig (grundsätzlich in EASO Country Guidance, S 132 f, der auf die hier zitierten detaillierteren Angaben in EASO COI Reports, Key socio-economic indicators, S 65 ff verweist).

Wohnraum bieten darüber hinaus „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. EUR 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. EUR 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO Country Guidance, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Arbeitsmarkt:

Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung. Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten. Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. (LIB Kapitel 22)

Ergebnisse einer Studie ergaben, dass Kabul unter den untersuchten Provinzen den geringsten Anteil an Arbeitsplätzen im Agrarsektor hat, dafür eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul am größten (49,6 Prozent) (LIB, Kapitel 22).

Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.6.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge, gibt es keine Hinweise darüber, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).

1.2.8. Zum Risiko von Zivilisten, die mit den internationalen Streitkräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen:

Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) bedrohen und greifen afghanische Zivilisten an, die für die internationalen Streitkräfte als Dolmetscher, Wächter, Auftragnehmer, Verwalter, im Bereich der Logistik oder in anderen zivilen Funktionen arbeiten oder gearbeitet haben. (UNHCR S 49 und EASO S 51)

Personen die für ausländische militärische Truppen arbeiten, im Besonderen Dolmetscher und Wächter, werden von den Taliban als vorrangige Ziele angesehen. Die Taliban haben auch lokale Gemeinschaften gezwungen, Familien, die sie als Verbündete der internationalen Streitkräfte angesehen haben, zu verstoßen. Individuen, die nicht von den ausländischen Streitkräften bezahlt werden aber allgemeine Wartungsarbeiten durchführen, können ebenfalls angegriffen werden, sie werden aber nicht systematisch verfolgt. (EASO S 51)

2. Die Feststellungen gründen in der folgenden Beweiswürdigung:

2.1. Zu den allgemeinen Feststellungen:

Die Feststellungen zu den persönlichen Daten, zum Leben und zur Ausreise des BF aus Afghanistan und zur Einreise in das Bundesgebiet ergeben sich aus den im Wesentli

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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