Entscheidungsdatum
05.02.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W226 2111863-3/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. WINDHAGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX StA. Ukraine, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.01.2021, Zl. 1020071800-200933859 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Vorverfahren:
Der Beschwerdeführer, ein ukrainischer Staatsangehöriger, stellte am 28.05.2014 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz und wurde dazu durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich einvernommen.
Zu seinem Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer im Zuge der Erstbefragung vor, dass er von bewaffneten Separatisten aufgefordert worden sei für die Unterstützung der Republik Donezk zu kämpfen. Er wolle jedoch niemanden Unschuldigen töten und nicht am Krieg teilhaben. Der Beschwerdeführer befürchte, im Falle seiner Rückkehr hingerichtet zu werden.
Mit Bescheid vom 06.07.2015, Zahl 1020071800/14663042, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gem. § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine (Spruchpunkt II.) ab, erteilte einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG nicht, erließ gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte fest, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei. Gem. § 55 Abs. 1–3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.).
Begründend führte das Bundesamt zu Spruchpunkt I. aus, dass der Beschwerdeführer keinen Einberufungsbefehl erhalten habe und es zudem im betreffenden Gebiet möglich sei, von Separatisten zur Teilnahme am Krieg aufgefordert zu werden. Im Übrigen bestehe im restlichen Gebiet der Ukraine allerdings keine Verfolgungsgefahr, sondern werde der Beschwerdeführer dort sogar willkommen geheißen. Auch hinsichtlich der Prüfung des subsidiären Schutzes stehe dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative offen und könne der Beschwerdeführer seine Grundbedürfnisse befriedigen. Mangels Vorliegen von Anhaltspunkten, die für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung nach § 57 AsylG 2005 sprechen, wurde eine solche nicht erteilt. Der Beschwerdeführer habe keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet, es bestehe kein Eingriff in sein Familienleben. Weiters führte das Bundesamt eine Abwägung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK durch und kam zu dem Schluss, dass die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung die privaten Interessen des Beschwerdeführers überwiegen würden, sodass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig sei. Da eine Gefährdung im Sinne des § 50 FPG nicht vorliege, sei im Falle der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung sowie bei Vorliegen der in § 46 Abs. 1 Z 1–4 FPG genannten Voraussetzungen seine Abschiebung in die Ukraine zulässig. Die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides betrage, weil im gegenständlichen Fall keine Gründe für eine längere Frist hätten festgestellt werden können.
Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid des Bundesamtes fristgerecht Beschwerde und brachte vor, die Länderinformationen seien veraltet, da die Einberufungspraxis der ukrainischen Behörden nicht behandelt worden sei und werde er in der Westukraine als ethnischer Russe von Anhängern einer Partei gefoltert und hingerichtet.
Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.12.2015, Zl. W226 2111863-1/6E, wurde die Beschwerde gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG sowie §§ 46, 52 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.
Der Beschwerdeführer habe versucht im Verfahren die Nachvollziehbarkeit seiner Angaben über seine persönlichen Verhältnisse, die konkrete Herkunft und sein Vorleben sowie seine sozialen und familiären Bindungen zu verschleiern, weshalb auch sein Fluchtvorbringen als unglaubhaft beurteilt wurde. So habe der Beschwerdeführer jegliche Kontakte in seinen Herkunftsstaat verneint. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder der Unversehrtheit sei trotz der bürgerkriegsartigen Zustände in den Regionen der Ostukraine aufgrund der innerstaatlichen Fluchtalternative im Westen der Ukraine nicht anzunehmen.
Dabei wurde auch berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer wegen Hepaditis-C keine Medikamente nehme, aber regelmäßig Kontrollen wahrnehme. Der Beschwerdeführer habe zudem eine Behandlung wegen Thrombose und seine Teilnahme an einem Substitutionsprogramm vorgebracht.
Mit Schreiben des Bundesamtes vom 10.06.2016 wurde für den Beschwerdeführer bei der Botschaft der Ukraine in Österreich um Ausstellung eines Heimreisezertifikates ersucht.
Am XXXX stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf unterstützte freiwillige Rückkehr bei einer Rückkehrberatungseinrichtung.
Mit Email vom XXXX hat der Beschwerdeführer sein Ansuchen auf unterstützte freiwillige Rückkehr widerrufen.
2. Vorverfahren:
Am 23.03.2019 stellte der Beschwerdeführer einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer gab in seiner am selben Tag aufgenommenen Erstbefragung an, dass seine alten Fluchtgründe aufrecht bleiben würden und er bei der ukrainischen Botschaft die Auskunft erhalten habe, dass seine Herkunftsregion Donezk weder zur Ukraine noch zur Russischen Föderation gehöre, weshalb er seine Heimreise nicht antreten könne und staatenlos sei.
Mit Verfahrensanordnung gem. § 29 Abs. 3 und § 15a AsylG wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass beabsichtigt sei seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, da das Bundesamt davon ausgehe, dass eine entschiedene Sache i.S.d. § 68 AVG vorliege.
Mit Verfahrensanordnung wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass dieser gem. § 52a Abs. 2 BFA-VG verpflichtet sei ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
Am 05.04.2019 fand beim Bundesamt eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers im Beisein seines Rechtsberaters statt, in welcher der Beschwerdeführer im Wesentlichen angab, dass seine Fluchtgründe aufrecht seien und sich die Situation in seiner Herkunftsregion verschlechtert habe. Die Botschaft der Ukraine könne keine Unterlagen und identitätsbezeugenden Dokumente besorgen und wolle der Beschwerdeführer zudem in Österreich bleiben.
Mit Schreiben von 24.04.2019 brachte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu den Länderinformationen ein und beantragte die Einvernahme seiner Lebensgefährtin als Zeugin.
Das Bundesamt hat mit undatierter Verfahrensanordnung gem. § 15b AsylG 2005 iVm § 7 1 Abs. 1 VwGVG die Unterkunftnahme in einer Betreuungsstelle angeordnet und die Anreise binnen 3 Tagen vorgesehen.
Am 18.07.2019 erfolgte eine ergänzende Einvernahme des Beschwerdeführers beim Bundesamt im Wesentlichen hinsichtlich seines Gesundheitszustandes. Ebenfalls wurde die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers als Zeugin einvernommen.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 22.09.2019, Zl. 1020071800-190297102 wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 23.03.2019 gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Gleichzeitig wurde der Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gem. § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei, sowie dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für eine freiwillige Ausreise bestehe und die Unterkunftnahme gemäß § 15b Abs. 1 AsylG 2005 aufgetragen.
Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass über das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers im Vorverfahren bereits mit dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.1021.12.2015, Zl. W226 2111863-1/6E, 2018 rechtskräftig entschieden worden sei. In der Erstbefragung am 23.03.2015 habe der Beschwerdeführer keinen neuen Fluchtgrund angegeben, sondern konkret dargelegt, dass seine alten Fluchtgründe aufrecht bleiben würden und er nunmehr aufgrund der Lage in der Ostukraine staatenlos sei. im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesamt habe er eine Lebensgefährtin ins Treffen geführt. Im Vorbringen des Beschwerdeführers könne kein neuer, entscheidungsrelevanter asyl- bzw. refoulmentrelevanter Sachverhalt festgestellt werden. Nur eine wesentliche Änderung des Sachverhaltes – nicht bloß von Nebenumständen – könne zu einer neuerlichen Entscheidung führen. Ein neuer Sachverhalt, der eine anderslautende Entscheidung der Sache rechtfertigen würde, liege nicht vor, die ins Treffen geführte Lebensgefährtin sei mit einem Österreicher verheiratet.
Mit der fristgerecht eingebrachten Beschwerde des bevollmächtigten Vertreters des Beschwerdeführers wurde der Bescheid vom 22.09.2019 angefochten und die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde beantragt. Der Bescheid sei mit Rechtswidrigkeit belastet, da dem Beschwerdeführer aufgrund der Verweigerung der Wehrpflicht asylrelevante Verfolgung und eine bis zu 5jährige Freiheitsstrafe drohe. Aufgrund der prekären Sicherheitslage in der Ukraine im Falle der Rückkehr drohe ihm überdies eine Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK, was eine wesentliche Änderung des Sachverhaltes darstelle. Auch sei es zur Verletzung von Verfahrensvorschriften gekommen, da das Bundesamt den Sachverhalt nicht ordnungsgemäß ermittelt habe. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde wurde unter Hinweis auf die reale Gefahr der Verletzung von Art 2 und 3 EMRK im Falle einer Abschiebung nach „Afghanistan“ begründet.
Mit Meldung vom 29.10.2019 wurde von der zuständigen Polizeiinspektion mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer bei der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Entwendung (Tatzeit XXXX ) angezeigt wurde.
Mit Email vom 07.11.2019 wurde das Bundesverwaltungsgericht in Kenntnis gesetzt, dass über den Beschwerdeführer rechtskräftig eine Geldstrafe iHv € 100,00 gemäß § 121 Abs. 1a FPG iVm § 15b AsylG wegen der Nichtbefolgung der angeordneten Unterkunftnahme verhängt wurde.
Mit Erkenntnis vom 26.11.2019, Zl. W212 2111863-2/5E, wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen den Bescheid vom 22.09.2019 vollinhaltlich ab. Das Bundesverwaltungsgericht verwies darauf, dass der Beschwerdeführer kein neues, entscheidungsrelevantes, individuelles Vorbringen glaubhaft dargetan habe, er habe einzig auf seine alten Fluchtgründe verwiesen. Der Beschwerdeführer leide unverändert an keiner zwischenzeitlich aufgetretenen, lebensbedrohlichen oder im Herkunftsland nicht behandelbaren Krankheit, in der Ukraine sei auch in der Zwischenzeit keine entscheidungswesentliche Veränderung der Situation eingetreten. Auch unter Berücksichtigung der bereits im ersten Verfahren vorgebrachten Erkrankungen und seines aktuellen Gesundheitszustandes könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer an einer dermaßen schweren, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankung leide. Zum Beschwerdeführer wurde festgehalten, dass dieser arbeitsfähig und in der Lage sei, im Herkunftsstaat den notwendigen Unterhalt zu sichern. In Österreich sei er weder in Vereinen noch Organisationen tätig und verfüge auch über keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen im Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer sei seit 2014 mit einer ukrainischen Staatsangehörigen, die mit einem Österreicher verheiratet ist, befreundet. Es sei nicht feststellbar, aber auch nicht auszuschließen, sondern wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer über familiäre und soziale Bindungen in der Ukraine verfüge.
Dieses Erkenntnis vom 26.11.2019 ist in Rechtskraft erwachsen.
3. Gegenständliches Verfahren:
Am 29.09.2020 stellte der Beschwerdeführer nunmehr den bereits dritten Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. In der am 30.09.2020 durchgeführten Erstbefragung verwies der Beschwerdeführer darauf, dass er bereits seit vier Jahren in einer Drogentherapie sei. Er nehme auch regelmäßig Medikamente als Drogenersatz. Er halte seine alten Fluchtgründe aufrecht. Er könne nicht zurück in die Ukraine, weil er der russischen Volksgruppe angehöre und die ukrainische Botschaft in Österreich für ihn kein Heimreisezertifikat ausgestellt habe und auch nicht ausstellen werde. Seine alten Fluchtgründe würden immer noch bestehen, es sei kein neuer Fluchtgrund hinzugekommen. Diese Änderung der Situation der Fluchtgründe sei ihm seit der Ausreise aus der Ukraine im Jahr 2014 bekannt.
In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde am 03.11.2020 verwies der Beschwerdeführer einerseits auf eine Thromboseoperation vor längerer Zeit, vor drei Jahren. Seitdem nehme er Substitol als Drogenersatz. Wegen der Thrombose müsse er einmal im Monat zur Blutuntersuchung wegen der Werte. Er nehme täglich eine Tablette namens Marcumar und Substitol. Er habe keine Krankenversicherung gehabt, deshalb habe er den dritten Asylantrag gestellt. Bei einem behandelnden Arzt sei er zuletzt vor drei oder vier Monaten gewesen, in der Betreuungsstelle XXXX habe er ein Rezept für Substitol erhalten. Der Beschwerdeführer schilderte, dass er in der letzten Zeit, während der Corona-Pandemie von der Polizei angehalten worden sei, dann sei er für vier oder fünf Monate in ein Gefängnis gekommen, habe dann bei einer Freundin namens Svetlana in Berndorf gelebt.
Ab und zu habe er schwarz auf einer Baustelle gearbeitet, er arbeite immer mit Unterbrechungen auf verschiedenen Baustellen. Er lebe bei seiner Freundin, sie würden manchmal Essen vom Roten Kreuz abholen, Unterstützung habe er keine bekommen. In Österreich habe er keine Verwandten, auch nicht in der Ukraine, dort sei er im Kinderheim gewesen. Zu sozialen Kontakten in Österreich befragt, vermeinte der Beschwerdeführer einzig, dass er Kontakt zu ein paar Georgiern gehabt habe, diese seien Asylwerber gewesen, dann aber abgereist. Welche Staatsbürgerschaft seine Freundin habe, das wisse er nicht, über deren Privatleben wolle er nicht reden.
Auf die Frage, warum er erwähnt habe, dass er jeden Monat eine Blutuntersuchung habe, wenn er zuletzt vor vier Monaten beim Arzt gewesen sei, vermeinte der Beschwerdeführer, dass ihm schlecht geworden sei, er sei ins Krankenhaus XXXX gekommen. Diese hätten dann gesagt, er solle sich bei den Ärzten in der Betreuungsstelle melden. Dort sei er aber noch gar nicht gewesen, er habe gedacht, er müsse die Einvernahme abwarten. Sonst mache er Deutschkurse beim Roten Kreuz, er habe dazu irgendwelche Unterlagen, diese aber zu Hause oder beim Roten Kreuz. Seine Asylgründe würden aufrecht sein, die Rückkehrberatung habe gesagt, er solle den Asylantrag zurückziehen. Bei der ukrainischen Botschaft sei er nicht einmal eingelassen worden. Er habe dann doch einen Mitarbeiter dort gefragt, der habe gesagt, dass die Botschaft keinen Zugang zu den Archiven in Donezk haben. Er selbst habe einen ukrainischen Inlandspass gehabt, alle seine Unterlagen seien ihm abgenommen worden. Er habe die Hoffnung, dass er hier in Österreich bleiben könne, er könne auch arbeiten. Er bitte nur um eine Versicherung und eine Arbeitserlaubnis, damit er sich selbst versorgen könne. Der Grund für den neuerlichen Asylantrag sei, dass er keine Krankenversicherung habe. Er müsse sich legalisieren in Österreich, habe auch keine Medikamente. Ein Mann, der ihn illegal beschäftigt habe, habe eine Strafe von der Finanzpolizei bekommen. Der Beschwerdeführer verstehe, dass es rechtlich schlecht aussehe, weil er keine Dokumente und Beweise habe, aber er bitte, seine Angelegenheit von der menschlichen Seite zu betrachten.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 12.01.2021 wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 29.09.2020 sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Erneut wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Erneut wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Ukraine zulässig sei und wurde gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt.
Nach allgemeinen Feststellungen zum behaupteten Herkunftsstaat, auch zur aktuellen Corona-Pandemie, stellte die belangte Behörde fest, dass der Beschwerdeführer keine neu entstandenen Fluchtgründe geltend gemacht habe. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass er im Falle einer Rückkehr in die Ukraine in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Eine lebensgefährliche oder im Herkunftsstaat nicht behandelbare Krankheit könne nicht festgestellt werden. Zum Privatleben im Bundesgebiet führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer seit 2014 mit einer ukrainischen Staatsangehörigen, die mit einem Österreicher verheiratet ist, befreundet sei. In Österreich sei der Beschwerdeführer nicht berufstätig und auch nicht selbsterhaltungsfähig.
In der Beweiswürdigung führte die belangte Behörde aus, dass eine Behandlung hinsichtlich Drogenersatzprogramm in der Ukraine grundsätzlich vorfügbar sei, bezüglich des Medikamentes Substitol sei anzumerken, dass wirkstoffgleiche Medikamente in der Ukraine vorhanden seien. Auch hinsichtlich der derzeitigen Corona-Pandemie sei der Beschwerdeführer wegen Nichtvorhandenseins schwerer oder chronischer Vorerkrankungen keiner Risikogruppe zugehörig. Der Beschwerdeführer habe sich im gegenständlichen Verfahren auf die alten Fluchtgründe berufen, einen nach Rechtskraft des Vorverfahrens entstandenen Fluchtgrund habe er somit nicht glaubhaft machen können bzw. habe er einen solchen auch gar nicht behauptet. In den bisher ergangenen Entscheidungen des BVwG sei der Fluchtgeschichte kein Glauben geschenkt worden, weshalb die Antragstellung offenbar die Überprüfung eines bereits rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens und die Legalisierung des Aufenthaltes im Bundesgebiet bewirken solle.
In der fristgerecht eingebrachten Beschwerde wird im Wesentlichen auf das Vorbringen im ersten Asylverfahren verwiesen. Der Beschwerdeführer befinde sich in medizinischer Betreuung und müsse einmal im Monat zur Blutuntersuchung wegen seiner Werte gehen. Nebst allgemeinen rechtlichen Ausführungen betreffend „res judicata“ habe sich aus Sicht des Beschwerdeführers der maßgebliche Sachverhalt seit Rechtskraft des ersten Asylverfahrens maßgeblich geändert. Die belangte Behörde habe nämlich im Hinblick auf den Gesundheitszustand es unterlassen, sich hinreichend mit den eigenen Länderberichten auseinanderzusetzen. Sie würden gerade im Hinblick auf die medizinische Versorgung in der Ukraine und den gesundheitlichen Zustand des Beschwerdeführers ein sehr schlechtes Bild zeigen. Hätte die belangte Behörde den entscheidungsrelevanten Sachverhalt ermittelt, so hätte sie festgestellt, dass dem Beschwerdeführer nunmehr eine asylrelevante Verfolgung drohe. Die Behörde hätte weites festgestellt, dass dem Beschwerdeführer nunmehr, im Falle einer Abschiebung in die Ukraine, eine Verletzung seiner von Artikel 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte drohe. Eine Abschiebung würde den Beschwerdeführer in eine aussichtslose Lage bringen, er könne in der Ukraine nicht mit Sicherheit ausreichend medizinisch versorgt werden. Fallbezogen sei somit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer angesichts des ihn betreffenden Verfolgungsrisikos keinen ausreichenden Schutz finden könne, ihm stehe keine Fluchtalternative offen und sei somit der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Zu subsidiärem Schutz wurde ausgeführt, dass der fehlende tatsächliche Zugang zu adäquater medizinischer Behandlung zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen würde. Bei der Beurteilung des Zugangs zur notwendigen Behandlung seien die Kosten der Behandlung und Medikamente, sowie das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerkes zu berücksichtigen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Ukraine und der russischen Volksgruppe zugehörig. Die Identität des Beschwerdeführers steht mangels Vorlage entsprechender Dokumente nicht fest. Er spricht Russisch als Muttersprache.
1.2. Im Mai 2014 hat der Beschwerdeführer seinen Herkunftsstaat verlassen und reiste schließlich in das Bundesgebiet ein, wo er am 28.05.2014 den ersten Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Als Fluchtgrund brachte er im Vorverfahren im Wesentlichen vor, dass er von Separatisten zur Teilnahme an Kampfhandlungen aufgefordert worden sei und ihm auch die Einberufung durch die ukrainische Regierung drohe. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 06.07.2015 abgewiesen.
1.3. Eine dagegen eingebrachte Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis als unbegründet abgewiesen und erwuchs dieses Erkenntnis in der Folge am 22.12.2015 in Rechtskraft.
1.4. Am 26.03.2019 stellte der Beschwerdeführer den zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit dem Bescheid vom 22.09.2019 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen, eine Beschwerde durch das BVwG mit Erkenntnis vom 26.11.2019 abgewiesen.
1.5. Der Beschwerdeführer konnte seit Rechtskraft der Entscheidung über seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz vom 28.05.2014 kein neues entscheidungsrelevantes individuelles Vorbringen glaubhaft dartun. Der Beschwerdeführer verweist unverändert auf seine alten Fluchtgründe.
1.6. Nicht festgestellt werden kann des Weiteren, dass in der Zwischenzeit Umstände eingetreten sind, wonach dem Beschwerdeführer in der Ukraine aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder ihm im Falle einer Rückkehr in die Ukraine die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Der Beschwerdeführer leidet an keiner zwischenzeitlich aufgetretenen lebensbedrohlichen oder im Herkunftsland nicht behandelbaren Krankheit. Außerdem kann nicht festgestellt werden, dass zwischenzeitlich eine entscheidungswesentliche Änderung der Situation in der Ukraine eingetreten ist.
1.7. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer – auch unter Berücksichtigung der bereits in den Vorverfahren vorgebrachten Erkrankungen – und seines aktuellen Gesundheitszustandes – an einer dermaßen schweren, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankung leidet.
Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und in der Lage im Herkunftsstaat seinen notwendigen Unterhalt zu sichern. Der Beschwerdeführer ist vor der Ausreise einer Beschäftigung nachgegangen, mit der er seinen Lebensunterhalt sichern konnte. Er spricht als Muttersprache Russisch. Er ist weder in Vereinen noch Organisationen tätig und verfügt auch über keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen im Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer ist seit 2014 mit einer ukrainischen Staatsangehörigen, die mit einem Österreicher verheiratet ist, befreundet. Es ist nicht feststellbar, aber auch nicht auszuschließen, sondern wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer über familiäre und soziale Bindungen in der Ukraine verfügt. Der Beschwerdeführer verfügt über keine Deutschkenntnisse und hat bis dato unverändert keine Deutschkurse besucht oder Deutschprüfungen abgelegt.
1.8. Der Beschwerdeführer ist seit seiner illegalen Einreise ins Bundesgebiet im Mai 2014 nicht mehr in sein Heimatland zurückgekehrt. Der Beschwerdeführer stellte nunmehr den verfahrensgegenständlichen (dritten) Antrag auf internationalen Schutz.
1.9. Der Beschwerdeführer wurde bei der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Entwendung (Tatzeit XXXX ) angezeigt. Über den Beschwerdeführer wurde eine Geldstrafe iHv € 100,00 gemäß § 121 Abs. 1a FPG iVm § 15b AsylG wegen der Nichtbefolgung der angeordneten Unterkunftnahme rechtskräftig verhängt.
1.10. Zur Lage im Herkunftsstaat Ukraine werden die vom Bundesamt herangezogenen Länderfeststellungen dem Verfahren zugrunde gelegt:
Länderspezifische Anmerkungen:
Letzte Änderung: 16.10.2020
Durch die Ereignisse der letzten Jahre hat die ukrainische Regierung de facto nicht die vollständige Kontrolle über ihr Staatsgebiet.
Die Halbinsel Krim wurde am 16.3.2014 durch ein international nicht anerkanntes Referendum von Russland völkerrechtswidrig annektiert. Außerdem haben sich Teile der Ostukraine als von der Ukraine unabhängig erklärt. Diese separatistischen Gebiete bezeichnen sich selbst als die Volksrepubliken Donezk und Luhansk.
Grundsätzliche Aussagen zur Ukraine gelten vorerst nicht für die Halbinsel Krim und die Gebiete der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, außer es wird ausdrücklich anderes angemerkt!
In den westlichen Landesteilen ist die Lage grundsätzlich ruhig – nähere Informationen sind den Länderinformationen zu entnehmen.
Hinweis:
Die Länderinformationen gehen auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sowie auf eventuelle Maßnahmen gegen diese nur insoweit ein, wie sie der Staatendokumentation für asyl- und fremdenrechtliche Verfahren in Österreich relevant erscheinen. Betreffend die aktuelle Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in der Ukraine empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende - täglich aktualisierte - Websites zu kontaktieren:
https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports(WHO), https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 (Johns-Hopkins-Universität).
COVID-19
Letzte Änderung: 16.10.2020
Die ukrainische Regierung verlängerte am 13.10.2020 die angepassten Quarantäne-Maßnahmen bis mindestens 31.12.2020. Mit dieser abermaligen Quarantäne-Verlängerung gehen geplante zusätzliche Beschränkungen einher, um COVID-19 einzudämmen (verringerte Teilnehmerzahlen bei Großveranstaltungen etc.). Die aktuelle Quarantäne-Verlängerung stellt eine Reaktion auf die in der Ukraine stark steigenden COVID-Fallzahlen dar (Gov 13.10.2020; vgl. KP 13.10.2020; vgl. Reuters 13.10.2020).
Die sogenannte angepasste Quarantäne (Ampelsystem) wurde im Juli 2020 von der ukrainischen Regierung eingeführt (UA 25.9.2020) und beruht auf Faktoren wie Fallzahlen pro 100.000 Einwohner während der letzten 14 Tage und Bettenauslastung in Krankenhäusern (KP 13.10.2020). Insgesamt stehen in der Ukraine 52.000 Krankenhausbetten für COVID-19- Patienten zur Verfügung, wovon 34.154 Betten derzeit belegt sind (KP 13.10.2020). Die regierungseigene COVID-Homepage verlautbart, bisher (Stichtag 13.10.2020) insgesamt 2.630.988 COVID-Tests durchgeführt zu haben (CMU 13.10.2020).
Die ukrainische Regierung beschloss im April 2020 einen 66 Mrd. Hrywnja (ca. 2,2 Mrd. Euro) umfassenden Fonds zum Kampf gegen COVID-19 und entwickelte sozialpolitische Maßnahmen, um die Quarantäne-Folgen für Haushalte abzufedern: Im April 2020 veranlasste die Regierung eine Einmalzahlung von 1.000 Hrywnja (etwa 30 Euro) an einkommensschwache Rentner und führte eine allgemeine Zuzahlung von 500 Hrywnja an Rentner ein, die älter als 80 Jahre sind (insgesamt ca. 1,5 Millionen Menschen). Im Mai 2020 trat die ohnehin bereits geplante Rentenanpassung vorzeitig in Kraft. Die Regierung gewährt Arbeitnehmern, denen aufgrund von Quarantäne-Maßnahmen der Verlust ihres Arbeitsplatzes droht, Kurzarbeitergeld. Die Mindesthöhe der Arbeitslosenunterstützung wurde von 1.630 auf 1.800 Hrywnja (etwa 54 Euro) angehoben. Zum 1. September 2020 wurde der Mindestlohn um 6% von 4.723 auf 5.000 Hrywnja (ca. 150 Euro) erhöht (UA 25.9.2020). Im September 2020 wies der ukrainische Präsident Selenskyj die Regierung an, die Gehälter/Löhne von Arbeitskräften im medizinischen Bereich zu erhöhen (WP 8.10.2020).
Seit Mai 2020 wurden mehrere Beschränkungen aufgehoben, beispielsweise sind der Betrieb von Kosmetiksalons und Fitnesscentern und Bewirtungen in Außenbereichen von Cafés und Restaurants wieder erlaubt. Seit Ende Mai 2020 fahren U-Bahnen in den Großstädten wieder, und einige Zugstrecken sind erneut aktiv. Im Juni 2020 starteten zuerst die Inlandsflüge, und kurze Zeit später fanden auch einige internationale Flüge wieder statt (UA 25.9.2020).
Laut jüngsten Zahlen des Ukrainischen Statistikamts ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im 2. Quartal 2020 im Vergleich zum Wert des Vorjahres um 11,4 % gesunken (SSSU o.D.; vgl. UA 25.9.2020).
Quellen:
• UA - Ukraine-Analysen (25.9.2020): Armut und soziale Ungleichheit: negative Auswirkungen von Covid-19, https://laender-analysen.de/ukraine-analysen/239/UkraineAnalysen23 9.pdf, Zugriff 8.10.2020
• WP - The Washington Post (8.10.2020): ‘Catastrophically short of doctors’: Virus wallops Ukraine, https://www.washingtonpost.com/world/europe/a-virus-surge-in-ukraine-puts-hospitals-under-strain-again/2020/10/08/ceb23956-0930-11eb-8719-0df159d14794_story.h tml, Zugriff 13.10.2020
• CMU - Cabinet of Ministers of Ukraine (13.10.2020): COVID-19 pandemic in Ukraine: Current information about coronavirus and quarantine, https://covid19.gov.ua/en/, Zugriff 13.10.2020
• Gov - Government Portal of Ukraine (13.10.2020): Denys Shmyhal: Extending adaptive quarantine is a crucial step aimed to ensure a safe environment for Ukrainian citizens, https://www.kmu.gov.ua/en/news/denis-shmigal-podovzhennya-diyi-adaptivnogo-karan tinu-ce-potribnij-krok-dlya-garantuvannya-bezpechnogo-seredovishcha-ukrayincyam, Zugriff 14.10.2020
• KP – Kyiv Post (13.10.2020): Ukraine extends quarantine until end of year, https://www. kyivpost.com/ukraine-politics/ukraine-extends-quarantine-until-end-of-year.html, Zugriff 14.10.2020
• Reuters (13.10.2020): Ukraine extends coronavirus lockdown to December 31, https://www.reuters.com/article/idUSKBN26Y20Z, Zugriff 14.10.2020
• SSSU - State Statistics Service of Ukraine (o.D.): Grafik „Macroeconomic indicators: Real GDP change“, https://ukrstat.org/en, Zugriff 13.10.2020
Politische Lage
Letzte Änderung: 09.07.2020
Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20. Mai 2019 Präsident Wolodymyr Selenskyj(AA6.3.2020). Beobachtern zufolge verlief die Präsidentschaftswahl am 21. April 2019 im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Auf der russisch besetzten Halbinsel Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbas fanden keine Wahlen statt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
2019 war ein Superwahljahr in der Ukraine. Am 31. März fanden die Präsidentschaftswahlen statt; Parlamentswahlen waren ursprünglich für den 27. Oktober 2019 angesetzt. Nach der Inauguration des Präsidenten Selenskyj wurde das Parlament aufgelöst. Die vorgezogenen Parlamentswahlen fanden am 21. Juli 2019 statt (GIZ 3.2020a). Selenskyjs Partei „Sluha Naro- du“ (Diener des Volkes) gewann 254 von 450 Sitzen. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (FH 4.3.2020; vgl. BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019). Es wurden sechs Fraktionen gebildet: „Diener des Volkes“ mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion „Für die Zukunft“ mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019). Auf der Krim und in den von Separatisten kontrollierten Teilen des Donbas konnten die Wahlen nicht stattfinden; folglich wurden nur 424 der 450 Sitze im Parlament besetzt. Darüber hinaus sind rund eine Million ukrainische Bürger nicht wahlberechtigt, weil sie keine registrierte Adresse haben (FH 4.3.2020).
Die nach der „RevolutionderWürde“aufdemKiewerMaidanimWinter2013/2014undderFlucht von Wiktor Janukowytsch von Präsident Poroschenko verfolgte europafreundliche Reformpolitik wird durch Präsident Selenskyj verstärkt fortgesetzt. Grundlage bildet ein ambitioniertes Programm für fast alle Lebensbereiche. Schwerpunkte liegen u.a. auf Korruptionsbekämpfung, Digitalisierung, Bildung und Stimulierung des Wirtschaftswachstums. Selenskyj kann sich dabei auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Diese Politik, maßgeblich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, hat über eine Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren zu einer Annäherung an europäische Verhältnisse geführt (AA 29.2.2020).
Während des ersten Jahres seiner Amtszeit war Präsident Selenskyj mit einigen Herausforderungen konfrontiert (RFE/RL 20.4.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Zwar liegt seine Popularität nicht mehr bei den historischen 70% Unterstützung, die er einst genoss; Umfragen zeigen jedoch, dass seine Zustimmungswerte immer noch höher sind als die aller seiner Vorgänger (RFE/RL 25.4.2020). Im März 2020 gestaltete er die Regierung um, nachdem Ministerpräsident Hon?aruk seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte (DW 3.3.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Seit 4. März 2020 ist Denys Schmyhal neuer Ministerpräsident und somit Regierungschef (AA 6.3.2020). Dem neuen Kabinett fehlt jedoch die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Reformen und Mitglieder der alten Eliten sind in Machtpositionen zurückgekehrt. Ob und wie stark das Kabinett Veränderungen durchsetzen wird, muss sich erst zeigen (Brookings 20.5.2020).
Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wurde bisher über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt. Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus (FH 4.3.2020). Im Dezember 2019 wurde vom Parlament ein neues Wahlgesetz beschlossen. Es sieht teils ein Verhältniswahlsystem mit offenen Parteilisten sowohl für Parlaments- als auch für Kommunalwahlen vor (FH 4.3.2020).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt (6.3.2020): Ukraine: Steckbrief, https://www.auswaertigesamt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-ode/steckbrief/201830, Zugriff 25.5.2020
• AA–Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
• BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (22.7.2019): Briefing Notes, per E-Mail
• Brookings Institution (20.5.2020): Zelenskiy’s first year: New beginning or false dawn?, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2020/05/20/zelenskiys-first-year-new-beginning-or-false-dawn/ , Zugriff 22.5.2020
• DS – Der Standard (22.7.2019): Diener des Volkes werden Kiew regieren, https://www. derstandard.at/story/2000106566433/diener-des-volkes-werden-kiew-regieren, Zugriff 25.5.2020
• DW – Deutsche Welle (3.3.2020): Ukraine Prime Minister Oleksiy Honcharuk resigns for second time, https://www.dw.com/en/ukraine-prime-minister-oleksiy-honcharuk-resigns-f or-second-time/a-52628402, Zugriff 25.5.2020
• FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
• FH - Freedom House (6.5.2020): Nations in Transit 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2029666.html, Zugriff 25.5.2020
• GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinfor- mationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/ukraine/geschichte-s taat/#c4037, Zugriff 22.5.2020
• Jamestown Foundation (24.2.2020): Looming Confrontation in President Zelenskyy’s En- tourage Could Lead to Reset of Ukrainian Government, https://jamestown.org/program/lo oming-confrontation-in-president-zelenskyys-entourage-could-lead-to-reset-of-ukrainian-government/, Zugriff 25.5.2020
• KP – Kyiv Post (29.8.2019): Ukraine’s new parliament sworn in, Dmytro Razumkov beco- mes speaker, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/ukraines-new-parliament-sworn- in.html?cn-reloaded=1 , Zugriff 25.5.2020
• RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (30.8.2019): Ukraine’s Zelenskiy Inducts Politically Untested Government, https://www.rferl.org/a/ukraine-zelenskiy-new-govern ment-honcharuk/30137220.html, Zugriff 25.5.2020
• RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (25.4.2020): Zelenskiy’s First Year: He Pro- mised Sweeping Changes. How’s He Doing?, https://www.rferl.org/a/zelenskiys-first-yea r-he-promised-sweeping-changes-how-s-he-doing-/30576329.html , Zugriff 25.5.2020
• USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 09.07.2020
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).
Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).
Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).
Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am
26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).
Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).
Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).
Quellen:
• AA–Auswärtiges Amt (29.2.2020):Berichtüberdieasyl-undabschiebungsrelevanteLage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf , Zugriff 19.5.2020
• FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj, https://www. faz.net/aktuell/politik/putin-verteidigt-russische-staatsbuergerschaft-fuer-ukrainer-16157482.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 , Zugriff 25.5.2020
• FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
• KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028885/Ukrainische+Politik+im+Schatten+der +Pandemie.+Teil+1.pdf , Zugriff 25.5.2020
• SO – Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation, https://www.spiegel.de/politik/aus land/ukraine-wladimir-putin-kuendigt-an-russische-paesse-im-besetzten-donbass-auszut eilen-a-1264280.html , Zugriff 25.5.2020
Halbinsel Krim
Letzte Änderung: 09.07.2020
Auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).
Im Februar 2014 besetzten russische Truppen die Halbinsel Krim militärisch. Im März wurde die Krim nach einem Scheinreferendum schließlich annektiert und zum Teil der Russischen Föderation erklärt. Die Vereinten Nationen verurteilten diesen Schritt und riefen dazu auf, dies nicht anzuerkennen. Auf der Krim gilt seither de facto russisches Recht, es wurde eine russische Regierung installiert, die von Sergey Aksyonov als ’Premierminister’ des ’Staatsrats der Republik Krim’ geführt wird. Der ’Staatsrat’ ist für die tägliche Verwaltung und andere Regierungsfunktionen zuständig. Die schwerwiegendsten Probleme in Bezug auf die Einschränkung der Menschenrechte beinhalten: Verschwindenlassen; Folter, einschließlich strafweise psychiatrische Einweisung; Misshandlung von Inhaftierten als Strafe oder zur Erpressung von Geständnissen; harte Haftbedingungen und Überführung von Gefangenen nach Russland; willkürliche Festnahme und Inhaftierung, auch aus politischen Gründen; allgegenwärtige Missachtung der Privatsphäre; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungsfreiheit und der Medien ein- schließlich Schließungen und Gewalt gegen Journalisten; Beschränkungen des Internets; grobe und weit verbreitete Unterdrückung der Versammlungsfreiheit; Einschränkung der Religionsfreiheit; starke Einschränkung der Vereinigungsfreiheit, einschließlich Verbot der Selbstverwaltung (Mejlis) der Krimtataren; Einschränkung von Bewegungsfreiheit und Teilnahme am politischen Prozess; systemische Korruption; sowie Gewalt gegen und systematische Diskriminierung von Krimtataren und ethnischen Ukrainern. Die russischen Behörden unternehmen kaum Schritte, um Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich zu verfolgen, wodurch eine Atmosphäre der Straflosigkeit und Gesetzlosigkeit geschaffen wurde (USDOS 11.3.2020b).
Auf der Krim werden seit der völkerrechtswidrigen Annexion durch Russland im März 2014 staatliche Aufgaben von russischen Behörden ausgeübt. Die Einwohner wurden pauschal eingebürgert, es wurde begonnen, sie mit russischen Inlandspässen, seit September 2014 auch mit russischen Reisepässen, auszustatten. Die Einwohner der Krim werden von der Russischen Föderation, wenn sie nicht ihr Widerspruchsrecht genutzt und damit u.a. den Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung verloren haben, als eigene Staatsangehörige behandelt. Die Minderheit der Krimtataren unterliegt erheblichen Restriktionen. Besorgniserregend sind weiterhin Meldungen, wonach exponierte Vertreter der tatarischen Minderheit aufgrund politisch motivierter Vorwürfe inhaftiert werden, verschwinden, nicht mehr auf die Krim zurückreisen dürfen bzw. vielfältigen Diskriminierungen wie willkürlichen Hausdurchsuchungen oder wirtschaftlichem Druck ausgesetzt sind. Außerdem werden tatarische Vereine in ihrer Handlungsfähigkeit beschnitten und unter Druck gesetzt, teilweise auch kriminalisiert oder zur Auflösung gezwungen. Die gewählte Versammlung der Krimtataren (Mejlis) wird von den de-facto-Behörden als terroristische Vereinigung eingestuft, ihre Mitglieder verfolgt. Es gibt Berichte über systematische Diskriminierungen ukrainisch-orthodoxer und muslimischer Gemeinden. Unabhängige Medien werden unterdrückt, dem unabhängigen Fernsehsender der Tataren ATR wurde die Lizenz entzogen; er hat seinen Sitz nach Kiew verlegt. Seine, sowie Sendungen anderer ukrainischer Sender, können auf der Krim nur noch sehr eingeschränkt verfolgt werden. Eine offene Zivilgesellschaft gibt es nicht mehr, Auskunftspersonen haben die Krim verlassen. Religiöse Literatur gilt den Behörden als extremistisch. Auch jüngste Berichte von UNHCR, Amnesty International sowie des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte listen eine Reihe von Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf der Krim auf, die von einer Einschränkung des Versammlungsrechts über willkürliche Verhaftungen bis hin zu Entführungen, Folter und willkürlichen Tötungen reicht. Versuche der UN, der OSZE oder des Europarats eine kontinuierliche Beobachtung der Menschenrechtssituation auf der Krim vor Ort vorzunehmen, sind bisher gescheitert (AA 29.2.2020).
Seit der russischen Annexion der Halbinsel Krim häufen sich Berichte über den Versuch der systematischen Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch die russischen Behörden unter dem Vorwand sicherheitspolitischer Erwägungen. Dies wirkt sich insbesondere auf die Aktivitäten der Krimtataren, jedoch auch auf Vertreter der ukrainischen Minderheit aus (ÖB 2.2019; vgl. HRW 17.1.2019). Während des Jahres 2019 setzten die russischen Behörden die Schikanen gegen Krimtataren fort und verfolgten Dutzende von ihnen wegen erfundener Terrorismusvorwürfe (HRW 14.1.2020).
Seit2014sindkonstantMenschenrechtsverletzungenseitensderrussischenBehördenzubeobachten: Gefangene legen Geständnisse ab, die durch Misshandlung und Folter erlangt wurden. Individuen bestimmter Gruppen werden in psychiatrische geschlossene Anstalten zwangseingewiesen. Anwälte können nicht uneingeschränkt ihrer Arbeit nachgehen. Menschen, die keinen russischen Pass haben, wird der Zugang zu staatlichen Dienstleistungen verwehrt. Weiters besteht Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Genderidentität. Menschen mit abweichender politischer Meinung werden verhaftet und unter Bezugnahme auf russische Anti-Terror-Gesetzgebung zu Haftstrafen verurteilt. Auch werden Personen entführt oder verschwinden plötzlich. Wenige bis keine dieser Fälle werden ausreichend strafverfolgt. Besonders die ethnische Gruppe der Krimtataren, aber auch Ukrainer anderer ethnischer oder religiöser Gruppen, sind von Menschenrechtsverletzungen betroffen. Die Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wird massiv eingeschränkt (ÖB 2.2019).
Quellen:
• AA–Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutsch land___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebu ngsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
• HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): World Report 2019 – Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002209.html , Zugriff 26.5.2020
• HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022722.html , Zugriff 20.5.2020
• ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc , Zugriff 12.4.2019
• USDOS – US Department of State (11.3.2020b): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Ukraine – Crimea, https://www.state.gov/reports/2019-country-reports-on-human-rights-practices/ukraine/crimea/ , Zugriff 26.5.2020
Ukrainer von der Krim mit russischen Reisepässen
Letzte Änderung: 09.07.2020
Die Gesetzgebung der Ukraine sieht die einzige Staatsbürgerschaft vor. Wenn ein ukrainischer Staatsbürger legal die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation annehmen möchte, muss er auf die ukrainische Staatsbürgerschaft verzichten. Von den russischen Behörden werden jedoch, entgegen ukrainischen und internationalen rechtlichen Normen, russische Reisepässe an die Bevölkerung der Krim mit ukrainischer Staatsbürgerschaft ausgegeben. Diese Reisepässe der Russischen Föderation für Einwohner der Krim, werden international nur von einigen Ländern anerkannt (Nordkorea, Bolivien, Nicaragua, Armenien) (VB 28.1.2019). Die Frage der Staatsangehörigkeit der Einwohner der Krim ist damit eigentlich ungeklärt. Da die Beendigung der Staatsbürgerschaft der Ukraine erst durch einen entsprechenden Erlass des Präsidenten der Ukraine erfolgen kann, ist davon auszugehen, dass nach ukrainischem Recht die Einwohner der Krim Staatsbürger der Ukraine geblieben sind (BFH 30.6.2016).
Krim-Bewohner, die über keinen ukrainischen Reisepass, sondern nur über von russischen Behörden auf der Krim ausgestellte Reisedokumente verfügen, haben Schwierigkeiten bei der Einreise auf das ukrainische Festland, da diese Dokumente nicht anerkannt werden. Alle Krim-Bewohner wurden von der Russischen Föderation zu russischen Staatsbürgern erklärt. Krim-Bewohner, welche die russische Staatsbürgerschaft nicht annehmen, gelten als Ausländer und benötigen eine Aufenthaltserlaubnis. Personen, die eine Aufenthaltsgenehmigung ohne russische Staatsbürgerschaft besitzen, werden wichtiger Rechte beraubt und dürfen weder landwirtschaftliches Land besitzen, noch wählen oder kandidieren, noch eine religiöse Gemeinde registrieren oder ein Fahrzeug anmelden. Die Behörden verweigern denjenigen, welche die russische Staatsbürgerschaft ablehnten, unter anderem den Zugang zu staatlichen Jobs, Bildung und Gesundheitsversorgung sowie die Möglichkeit, Bankkonten zu eröffnen und Versicherungen abzuschließen. Die Ablehnung der russischen Staatsbürgerschaft kann zur Ausweisung bzw. Abschiebung führen. Nach Angaben der Crimean Human Rights Group wurden in den fünf Jahren der russischen Besatzung mehr als 1.500 Ukrainer wegen fehlender russischer Dokumente strafrechtlich verfolgt und 450 Personen zur Deportation verurteilt. In einigen Fällen wurden Krim-Bewohner von den Behörden gezwungen, ihren ukrainischen Reisepass abzugeben, was Auslandsreisen entsprechend erschwert (USDOS 11.3.2020b; vgl. IRB 28.2.2020).
Im November 2018 wurde ein Einreiseverbot in die Ukraine für männliche russische Staatsbürger im Alter von 16 bis 60 Jahren verhängt, das weiterhin gilt. Wenn Einwohner der Krim die Grenze als Bürger der Russischen Föderation passieren wollen, gilt dieses Verbot auch für sie. Wenn sie jedoch noch einen gültigen ukrainischen Pass vorweisen können, gilt dieses Verbot für sie nicht (VB 28.1.2019).
Quellen:
• BFH - Bergmann/Ferid/Henrich (30.6.2016): Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht mit Staatsangehörigkeitsrecht – Ukraine, https://www.vfst.de/apps/elbib/media/IEK_UKR -img-ukr218_20160630-pdf.pdf , Zugriff 26.5.2020
• IRB – Immigration and Refugee Board of Canada (28.2.2020): Russia and Ukraine: Issuance of Russian passports and citizenship rights to Ukraine citizens living in the ter- ritories of Crimea and Donbas [Donbass] (2014-February 2020) [ZZZ106331.E], https: //www.ecoi.net/de/dokument/2027872.html , Zugriff 26.5.2020
• USDOS – US Department of State (11.3.2020b): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Ukraine – Crimea, https://www.state.gov/reports/2019-country-reports-on-human-rights-practices/ukraine/crimea/, Zugriff 26.5.2020
• VB des BM.I für Ukraine (28.1.2019): Bericht des Vertrauensanwalts, per E-Mail
Ostukraine
Letzte Änderung: 09.07.2020
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. IDPs sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer geflohen (AA 29.2.2020). An der Dynamik des Konfliktes hat sich wenig verändert, obwohl 2019 einige Durchbrüche gelangen, wie der mehrmalige Austausch von Gefangenen, die Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, und eine relativ erfolgreiche Waffenruhe im August 2019 (KAS 4.2020). Auch im April 2020 kam es wieder zu einem Gefangenenaustausch (RFE/RL 16.4.2020).
In den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk kam es besonders 2014/15 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die SeparatistenseitherdieöffentlicheOrdnungundeinesozialeGrundversorgungimWesentlichen wiederhergestellt haben, werden zahlreiche Grundrechte (v.a. Meinungs- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrechte) weiterhin systematisch missachtet (AA 29.2.2020).
In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DPR) und Luhansk (LPR) gibt es seit 2014 keine unabhängige Justiz und das Recht auf ein faires Verfahren wird systematisch eingeschränkt. Es werden Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren berichtet. Bei Verdacht auf Spionage oder Verbindungen zur ukrainischen Regierung werden von Militärgerichten geheime Gerichtsverfahren abgehalten, gegen deren Urteile es nahezu keine Beschwerdemöglichkeit gibt und die Berichten zufolge lediglich dazu dienen, bei der Verfolgung von Personen einen Anschein von Legalität zu wahren. Willkürliche Verhaftung sind in der DPR und der LPR weit verbreitet. 2018 wurde die Möglichkeit der Präventivhaft für 30 bis 60 Tage geschaffen, wenn eine Person an Verbrechen gegen die Sicherheit von DPR oder LPR beteiligt gewesen sein soll. Die Präventivhaft wird Angehörigen nicht mitgeteilt (incommunicado) und kein Kontakt zu einem Rechtsbeistand und Verwandten zugelassen. Der Zustand der Hafteinrichtungen in den separatistisch kontrollierten Gebieten verschlechtert sich weiter und wird als hart und teils lebensbedrohlich bezeichnet. Berichten zufolge existiert in den Gebieten Donezk und Luhansk in Kellern, Abwasserschächten, Garagen und Industrieunternehmen ein umfangreiches Netz inoffizieller Haftstätten. Es gibt Berichte über schweren Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, sanitären Einrichtungen und angemessener medizinischer Versorgung. Es gibt Berichte über systematische Übergriffe gegen Gefangene, wie körperliche Misshandlung, Folter, Hunger, sexuelle Gewalt, öffentliche Demütigung, Verweigerung der medizinischen Versorgung und Einzelhaft sowie den umfangreichen Einsatz von Gefangenen als Zwangsarbeiter zur persönlichen Bereicherung der separatistischen Anführer (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020).
Im Donbas unterdrücken die Separatisten die Rede- und Pressefreiheit durch Belästigung, Einschüchterung, Entführungen und Übergriffe auf Journalisten und Medien (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020, ÖB 2.2019). Die Separatisten verhindern auch die Übertragung ukrainischer und unabhängiger Fernseh- und Radioprogramme in von ihnen kontrollierten Gebieten. In der LPR sollen die Websites von mehr als 50 ukrainischen Nachrichtenagenturen blockiert worden sein. Journalisten werden in der DNR genau überwacht, müssen die „Behörden“ der Separatisten z.B. über ihre Aktivitäten informieren oder werden von Mitgliedern bewaffneter Gruppen begleitet, wenn sie sich in der Nähe der Kontaktlinie bewegen. Es sind nur Demonstrationen zulässig, welche von den lokalen „Behörden“ unterstützt oder organisiert werden; oft mit erzwungener Teilnahme. In der DNR/LNR können nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen nicht frei arbeiten. Es gibt eine steigende Zahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von den Separatisten gegründet wurden (USDOS 11.3.2020).
Es gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen waren und bleiben weiterhin betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen oder nur zeitweise gesichert, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Aufgrund der fehlen