TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/8 W140 1436091-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.02.2021
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Entscheidungsdatum

08.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §53 Abs3
FPG §55

Spruch


W140 1436091-2/34E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Alice HÖLLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.01.2016, Zl. 830343802 - 2223227, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und §§ 52, 53 Abs. 3 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer (BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 17.03.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 06.06.2013 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurde festgestellt, dass dem Genannten der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zuerkannt wird (Spruchpunkt II). Gleichzeitig wurde der Antragsteller gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen (Spruchpunkt III). Einer dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 30.06.2014 statt und verwies die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurück.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX , vom 10.11.2015 (RK 16.11.2015) wurde der BF gemäß §§ 27 (1) Z 1 2. Fall, 27 (2) SMG, §§ 28a (1) 5. Fall, 28a (3) 1. Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten - davon 10 Monate bedingt - verurteilt.

Mit Bescheid des BFA vom 25.01.2016 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 17.03.2013 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Es wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV). Gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, wurde gegen den BF ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt V). Dagegen erhob der BF Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 09.12.2016 eine mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ein Dolmetscher der Sprache Paschtu und der Vertreter des BF teilnahmen. Die Verhandlung gestaltete sich u. a. wie folgt:

„(…)R: Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?

BF: Afghanistan.

R: Woher aus Afghanistan stammen Sie?

BF: Ich bin aus der Provinz Kunar, XXXX und aus dem gleichnamigen Dorf.

R: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollständigen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort sowie Ihre Staatsangehörigkeit.

BF: Ich heiße XXXX , mein Gebursdatum lautet XXXX ich bin afghanischer Staatsangehöriger.

R: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF: Ich bin Paschtune.

R: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?

BF: Ich bin sunnitischer Moslem.

R: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?

BF: Ich bin nicht verheiratet.

R: Sind Sie verlobt, oder beabsichtigen Sie, in nächster Zeit zu heiraten?

BF: Ich bin verlobt.

R: Haben Sie Kinder?

BF: Ich habe keine Kinder.

R: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF: Ich bin nicht zur Schule gegangen, ich habe den Beruf Maler erlernt.

R: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen? Wovon lebt Ihre Familie in Afghanistan?

BF: In Pakistan haben meine Eltern für die Familie gesorgt. Nachdem meine Mutter in Pakistan verstorben ist, ist mein Vater mit der Familie nach Afghanistan zurückgekehrt, wo er uns versorgt hat. Nach dem Tod meines Vaters, war ich für die Familie verantwortlich. Ich habe eine Schwester sowie einen jüngeren Bruder. Meine Schwester ist verheiratet, mein jüngerer Bruder lebt derzeit gemeinsam mit meiner Schwester in Kabul. Derzeit sorgt mein Schwager für meinen Bruder. Meine Schwester hat selbst fünf Kinder, die finanzielle

Situation meiner Angehörigen ist nicht gut.

R: Haben Sie noch Familienangehörige in Afghanistan? Wenn ja, wo? Haben Sie Kontakt zu Ihren Familienangehörigen?

BF: Abgesehen von meinen Geschwistern, habe ich noch Onkel und Tanten mütterlicherseits, die in Kunar aufhältig sind, es besteht aber kein Kontakt zu diesen Angehörigen. Ich weiß nicht, wovon sie leben.

R: Können Sie heute Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen, die Ihre Angaben zu Ihrer Identität belegen (zB. Reisepass, Personalausweis, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde)?

BF: Ich habe keine diesbezüglichen Dokumente, ich habe nie Dokumente vorgelegt.

R: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?

BF: Nein.(…)

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

R: Nennen Sie jetzt bitte abschließend und möglichst umfassend alle Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe). Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.

BF: Ich habe Afghanistan verlassen, weil in meiner Heimat Krieg herrscht. Meine Heimatprovinz wird von den Taliban beherrscht. Bis 16 Uhr wird meine Heimatregion von der Regierung kontrolliert, danach kommen die Taliban. Wenn die Taliban die Herrschaft übernehmen, ist es den Dorfleuten nicht möglich, ihre Häuser zu verlassen. In Afghanistan war ich für meine Familie verantwortlich. Ich konnte auf Grund der schlechten Sicherheitlage keine Arbeit finden. Wenn ich mich dem Militär angeschlossen hätte, hätte ich an der Front kämpfen müssen. Wenn ich mich den Taliban angeschlossen hätte, hätten sie mich ebenfalls in den Kampf geschickt und ich wäre mit ziemlicher Sicherheit von Regierungstruppen getötet worden. Die finanzielle Situation meiner Familie war nicht besonders gut. Ich hatte daher auch nicht die Möglichkeit, in ein kleines Geschäft zu finanzieren, um eventuell Lebensmittel zu verkaufen. Als ich nach Österreich gekommen bin und hier um Schutz angesucht habe, hatte ich die Hoffnung um ein besseres Leben, mir ist klar, dass ich in Österreich Fehler gemacht habe. Ich möchte mich aber bemühen, mein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen und etwas hier zu machen. Ich kann nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil ich dort keine Angehörigen habe, die mich unterstützen könnten. Mein Schwager ist bei der Nationalarmee und er versorgt mit großen Schwierigkeiten seine eigene Familie. Es ist ihm nicht möglich, mich ebenfalls finanziell zu unterstützen.

R: Was sind Ihre Fluchtgründe?

BF: In Kunar war ich in meinem Heimatdorf wie ein „Gefangener“. Wenn ich das Dorf verlassen hätte, hätten mich die Taliban außerhalb des Dorfes angehalten und sie hätten versucht mich zu rekrutieren. Abgesehen davon hätten die Dorfleute, mir die Zusammenarbeit mit den Taliban unterstellt, weil sie sonst keine Erklärung dafür hätten, weshalb ich das Dorf verlasse. Ich befand mich in einer „Zwickmühle“, ich wusste nicht, was

ich tun solle, damit ich für meine Familie sorgen kann. Ich habe diese schwierige Situation nicht mehr ausgehalten. Ich wollte in einem Land leben, wo ich mich frei bewegen konnte. In Afghanistan hatte ich auch nicht die Möglichkeit zur innerstaatlichen Fluchtalternative. Wenn ich nach Nangarhar gegangen wäre, hätte ich dort damit zu rechnen, dass entweder die Taliban oder die Daesh (IS) mich töten. Nach Kabul konnte ich nicht gehen, weil ich mir das Leben dort nicht leisten konnte. Abgesehen davon bin ich der Meinung, dass auch Kabul nicht sicher ist, weil es dort regelmäßig zu Selbstmordattentaten kommt.

R: Wann waren Sie das letzte Mal in Ihrem Heimatdorf?

BF: Das letzte Mal war ich ca. einen Monat vor meiner Einreise nach Österreich im Jahr 2013 in meinem Heimatdorf.

R: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihre Heimatprovinz zurückkehren müssten? Wenn Sie jetzt in Ihre Heimatprovinz zurückkehren würden, was hätten Sie konkret zu befürchten?

BF: Wenn ich von Europa in meine Heimatprovinz zurückkehren müsste, würden einerseits die Leute annehmen, ich wäre „vom Glauben abgefallen“ und andererseits könnten sie annehmen, ich wäre in Europa reich geworden und sie könnten sich an meinem Geld berreichern, in dem sie mich entführen und Geld erpressen. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, wird in meinem Heimatdorf fast täglich gekämpft. Es gibt vorallem Angriffe der Taliban von der pakistanischen Seite. Die Gefahr in meiner Heimatprovinz binnen kürzester Zeit getötet zu werden ist sehr hoch. Ich möchte auf keinen Fall dorthin zurückkehren müssen.

R: Warum können Sie nicht nach Kabul?

BF: In Kabul habe keine Möglichkeit bei jemandem unterzukommen. Wegen der schlechten

Wirtschaftssituation werde ich keine Arbeit finden. Ich weiß auch, dass mein Schwager nicht in der Lage ist, mich bei sich aufzunehmen, weil er selbst fünf Kinder hat und er sich zusätzlich um meinen jüngeren Bruder kümmern muss. Abgesehen von diesen Problemen ist Kabul ebenfalls unsicher. Selbst bewachte Personen, die bei der Regierung arbeiten oder für die Sicherheitsbehörden tätig sind, werden von den Taliban getötet. Ich bin eine einfache, schutzlose Person, die jederzeit überall getötet werden kann.

R: Ich werde Ihre Angaben im Verfahren überprüfen lassen. Haben Sie noch irgendwelche Eckdaten, die wichtig sind für die Überprüfung.

BF: Ich könnte die Kontaktdaten meines Schwagers bekanntgeben, abgesehen davon besteht die Möglichkeit, die Dorfbewohner zu meinen Fall bzw. zu meinem Vater zu befragen.

BF gibt Eckdaten bekannt (werden zum Akt genommen).(…)“

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.12.2016 wurde eine Sachverständige aus dem Fachgebiet Allgemeine Informationen über Afghanistan bestellt.

Mit Urteil des Bezirksgerichtes Graz-West, 015 U 60/2019h, vom 16.09.2019 (RK 20.09.2019) wurde der BF gemäß § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten - bedingt - verurteilt.

Mit Parteiengehör vom 24.04.2019 wurde dem BF die Möglichkeit zur Vorlage weiterer Unterlagen gegeben.

Seit dem Jahr 2019 wurde der BF mehrfach aufgrund seines unbekannten Aufenthaltes von der Grundversorgung abgemeldet.

Mit Eingabe der Vertretung des BF vom 19.09.2019 wurde eine Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs des Weichenstellwerkes Graz (datiert mit 27.05.2019) sowie eine Bestätigung der Caritas (SIQ+ Sport-Integration-Qualifikation) Diözese Graz-Seckau für den BF - wonach dieser in einem Ringer-Verein aktiv ist - übermittelt.

Mit Eingabe vom 19.01.2021 erstattete die Sachverständige nachstehendes Gutachten:

„1.      Einleitung

Das vorliegende Rechercheergebnis basiert auf den Angaben des Beschwerdeführers, Herrn XXXX , welche er im Rahmen seines Asylverfahrens vor den zuständigen österreichischen Behörden getätigt hat. Zunächst wird eine Zusammenfassung des Fluchtvorbringens des Beschwerdeführers wiedergegeben. Im Anschluss wird die Lage in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers erörtert. Abschließend wird auf das Ergebnis der Vorort-Recherchen bezüglich der Angaben des Beschwerdeführers eingegangen.

2. Zusammenfassung der Angaben zur Identität und Herkunft des Beschwerdeführers

Herr XXXX brachte in seinem Asylverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zu seiner Person vor, am XXXX geboren worden zu sein und er aus der Provinz Kunar, dem Distrikt XXXX und dem gleichnamigen Dorf XXXX stamme. Er gehöre der Volksgruppe der Pashtunen an und sei Moslem sunnitischer Glaubensrichtung. Er sei nicht verheiratet und habe keine Kinder, jedoch sei er verlobt. Zu seiner Ausbildung gab Herr XXXX an, dass er keine Schule besucht habe, jedoch den Beruf des Malers erlernt habe. Herr XXXX führte aus, dass er einen jüngeren Bruder und eine Schwester habe, wobei die Schwester verheiratet sei und der jüngere Bruder gemeinsam mit der Schwester in Kabul leben würde. Die Schwester habe fünf Kinder und die wirtschaftliche Lage der Familie der Schwester sei nicht gut. Zu weiteren Verwandten gab Herr XXXX an, dass in Kunar noch Onkel und Tanten leben würden, mit denen Herr XXXX aber nicht in Kontakt stehe.

3. Zusammenfassung der Angaben zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Herr XXXX gab an, dass er Afghanistan verlassen habe, weil in seiner Heimat Krieg herrsche. Seine Heimatregion sei unter Tags unter der Kontrolle der Regierung, danach jedoch würden die Taliban die Kontrolle über das Gebiet übernehmen, sodass es den Einheimischen nicht mehr möglich sei, außer Haus zu gehen. Herr XXXX gab überdies an, dass er aufgrund dieser schlechten Sicherheitslage keine Arbeit finden habe können. Im Falle eines Anschlusses am Militär habe Herr XXXX an der Front kämpfen müssen. Durch einen Anschluss an den Taliban, habe Herr XXXX befürchtet, dass man ihn ebenfalls in den Kampf geschickt hätte und er wäre mit Sicherheit von Regierungstruppen getötet worden. Aufgrund seiner schlechten wirtschaftlichen Lage sei Herr XXXX nicht in der Lage gewesen, in ein kleines Geschäft zu investieren. Darüber hinaus schilderte Herr XXXX in seinem Asylverfahren, dass er in seinem Heimatdorf in Kunar wie ein „Gefangener“ gelebt habe. Er habe eine Rekrutierung durch die Taliban befürchtet, wenn er sein Heimatdorf zu verlassen versucht hätte. Zudem hatte er Angst, dass die Dorfbewohner ihm eine Zusammenarbeit mit den Taliban unterstellen hätten können, wenn er das Dorf verlassen hätte. Herr XXXX führte überdies an, dass er im Falle eine Rückkehr in seine Heimatregion befürchte, dass man ihm unterstellen würde, dass er aufgrund seines Aufenthaltes in Europa vom Glauben abgefallen sei. Zudem befürchte er, dass man davon ausgehen würde, dass er in Europa reich geworden wäre und man würde ihn entführen, um Geld zu erpressen.

4. Die Provinz Kunar und die dort lebende Bevölkerung

Bei Kunar handelt es sich um eine im Osten liegende an Pakistan angrenzende Provinz Afghanistans. Die Einwohnerzahl wird laut aktuellen Informationen der Behörde für Registrierung der Bevölkerung auf etwa 530.000 geschätzt. Der Anstieg wird damit begründet, dass in den letzten Jahren und insbesondere den vergangen sieben Monaten eine enorm hohe Anzahl der afghanischen Bevölkerung, die wegen der schlechten Sicherheitslage und der Verfolgungsgefahr in Pakistan Schutz gesucht haben, nach Afghanistan zurückgeschoben wurden und sich wieder in ihren Heimatprovinzen angesiedelt haben. Aus der angewendeten Literatur geht hervor, dass in Kunar über 90% der Einwohner der ethnischen Gruppe der Pashtunen und zwischen 5% und 8% der Volksgruppe der Nurestani angehören. In der für die Recherchen relevanten Literatur findet sich ebenso die Information, dass die in Kunar lebende Bevölkerung der hanafitischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islam angehört und die Gesellschaft streng nach dem Ehrenkodex der Pashtunen, der Pashtunwali richtet. Die in Kunar gesprochene Sprache ist demnach Pashto und mangels Bildungseinrichtungen ist es für die Bevölkerung kaum möglich die zweite Amtssprache, nämlich Dari zu erlernen, was ein großes Problem darstellt. Denn jene pashtunischen Bevölkerungsgruppen, die keinen Zugang zur Bildung haben, nicht außerhalb der paschtunischen Regionen leben können. Man könne ihnen ein Leben in den Großstädten nicht zumuten, zumal dort im Alltag und in der Verwaltung überwiegend Dari angewendet werde und Menschen ohne Dari-Kenntnisse mit Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt und Diskriminierung in der Gesellschaft konfrontiert seien. Weitere Sprachen, die in einigen Orten von Kunar zur Anwendung kommen, sind, Nurestani und Pashai. Aus der angewendeten Literatur geht ferner hervor, dass in Kunar neben den wenigen aktiven staatlichen Schulen eine große Anzahl an Madrasas (Qoranschulen) sowie zahlreiche Moscheen existieren. Die Recherchen ergaben, dass in einem Großteil der Madrasas fundamentalistische und radikale Auslegung vertreten wird und vor allem Kinder von dieser Auslegung überzeugt und radikalisiert werden.

5. Rechercheergebnis bezüglich der Sicherheitslage in Kunar vor dem Hintergrund der Angaben des Beschwerdeführers in diesem Zusammenhang

Für die Recherchen bezüglich der Entwicklung der Lage in Kunar wurde die Bevölkerung im Heimatdistrikt des Beschwerdeführers, die Augenzeugen von unterschiedlichen Vorfällen geworden sind, befragt. Zunächst wurde von den meisten befragten Personen übereinstimmend angegeben, dass die Sicherheitslage in Kunar durch die permanente Präsenz der Taliban als äußerst schlecht zu bezeichnen sei. Der Regierung sei es trotz mehrmaliger Versuche, nicht gelungen, die Kontrolle über Kunar zu erlangen. Laut dem befragten Polizisten gebe es im Zentrum der Provinzhauptstadt zwar die Sicherheitskommandatur mit den Sicherheitskräften der Polizei, die aber nicht in der Lage seien, die Sicherheit in den Distrikten zu gewährleisten. Es sei ihnen auch nicht möglich, die Kontrolle in den Distrikten zu übernehmen, zumal die regierungsfeindlichen Gruppierungen über viel Macht verfügen. Es würde immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und den Aufständischen kommen, jedoch seien diese meistens erfolglos. Laut den befragten Personen seien bei Angriffen der Nationalarmee auf die Taliban immer wieder Zivilpersonen ums Leben gekommen. Es seien nicht nur Männer, sondern auch eine Vielzahl von Frauen und Kindern getötet worden. Zudem würden auch die Selbstmordattentate zivile Opfer fordern. Laut dem befragten Polizisten aus XXXX zähle Kunar zu den volatilen Provinzen. Bewaffnete regierungsfeindliche Gruppen, darunter die Taliban, seien aktuell in vielen Distrikten aktiv. Ein wesentliches Problem stellen überdies die pakistanischen Kämpfer dar, die über die Grenze problemlos nach Kunar gelangen können, da diese das Grenzgebiet zu Kunar kontrollieren. Bei diesen Kämpfern handele es sich um Taliban, um Mitglieder der Al-Qaeda, der Hezb-e Islami, der Gruppierung des Lashkar-e Taiba, sowie Mitglieder der Tehrik-e Taliban. Unter diesen Eindringlingen befinden sich auch Salafisten, deren Ziel es ist, die einheimische Bevölkerung zu radikalisieren.

Die im Zuge der durchgeführten Recherchen gewonnene Informationen im Hinblick auf die Sicherheitslage, der Präsenz der Aufständischen Gruppierungen und die damit verbundenen Probleme, decken sich mit den Angaben des Beschwerdeführers. Diese Probleme und Gefahren betreffen allerdings alle in Kunar lebenden Einwohner.

6. Ergebnis der vor Ort Recherchen

Für die Einholung der Informationen im Verfahren des Herrn XXXX wurde meine Kontaktperson, Herr (…) aus Kabul kontaktiert. Er fuhr in die Provinz Nangarhar und von dort weiter nach Kunar, um die Recherchen durchzuführen. In Kunar traf er einen Bekannten aus der XXXX , der allerdings aufgrund seiner Tätigkeit als Polizist gebeten hat, seine Identität geheim zu halten und aus diesem Grund nicht namentlich genannt wurde. Herr (…) konnte aufgrund der schlechten Sicherheitslage, die auf die Präsenz der Taliban und der Daesh (IS) in Kunar zurückzuführen ist, die Informationen nicht an einem Tag einholen und es war notwendig, mehrmals von Kabul nach Kunar zu reisen und Übernachtungen in Nachbarprovinz von Kunar in Kauf zu nehmen. Die Vorort-Recherchen ergaben jedenfalls, dass die Bewohner von Kunar sich über die Sicherheitslage beklagen. Aus den Erzählungen der befragten Einheimischen geht hervor, dass sie sich weitaus mehr vor dem in Kunar präsenten IS fürchte, als vor den Taliban. Sie behaupteten, dass die Taliban gegen die IS kämpfen und so auch die Bevölkerung vor dem IS geschützt wird. Ein älterer Herr, der sein ganzes Leben in Kunar verbracht hat, erzählte, dass der IS zwei Jahre lang die Provinz Kunar kontrolliert habe. Dem afghanischen Militär sei es gelungen, durch eine Mehrzahl von militärischen Operationen den IS zu schwächen und aus Kunar zu vertreiben. Die Bevölkerung habe aufgeatmet. Allerdings haben die Taliban nun ihren Platz eingenommen. Eine Großzahl der geflüchteten Bevölkerung sei in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt. Der ältere Herr gab überdies noch an, dass die Regierung und die USA bemüht seien, den 20-jährigen Konflikt zu beenden, was sich sehr verzögere, da die Nachbarländer Pakistan und der Iran alles daransetzen, die Friedensgespräche zu sabotieren. Eine weitere Gruppe von befragten Personen, die gerade die Mosche nach dem Mittagsgebet verlassen hatte, erörterte die Situation in Kunar als äußerst kritisch. Sie erzählten, dass bewaffnete Aufständische über die pakistanische Grenze nach Kunar eindringen und die Bevölkerung in Angst versetzen. Sie bedrohen Kinder, die eine Schule besuchen und entführen diese. Sie erklärten, dass sie große Angst um ihre Kinder haben, weil sie diese nicht an Aufständische verlieren wollen. Es sei aufgrund der Kontrollen durch diese eingedrungenen bewaffneten Gruppierungen kaum möglich, innerhalb, aber auch außerhalb der Provinz Kunar zu reisen. Die befragten Personen erzählten besorgt, dass es weder jenen Taliban, die den Frieden anstreben, noch dem afghanischen Militär gelinge, diese Aufständischen zu bewältigen oder zu vertreiben, zumal diese bereits weite Gebiete von Kunar besetzt haben und diese für Pakistan beanspruchen. Die Bevölkerung sei alles andere als sicher. Die kooperativen Bewohner der Distrikte von Kunar sagten, dass die „afghanischen“ Taliban keinen Jihad mehr führen wollen und den Friedensgesprächen positiv gegenüberblicken. Diese Taliban bezeichnen Afghanistan als ihre Heimat und wünschen, dass die Kämpfe endlich aufhören. Allerdings hätten die Kämpfe zwischen den afghanischen Streitkräften, den Taliban und dem IS Spuren hinterlassen, vor allem viele zerstörte Häuser und auseinandergebrochene Familien, deren Mitglieder entweder Opfer der kämpferischen Auseinandersetzungen worden wären oder aus Angst ins Ausland geflüchtet wären. Viele der befragten Personen erzählten, dass sie Zeugen der Brutalitäten des IS geworden seien. Die IS-Kämpfer, Daesh genannt, hätten Menschen festgehalten und abgeschlachtet, als wären sie Tiere gewesen. Sie hätten den Namen der Sharia missbraucht und so die Bevölkerung schikaniert. Nach der Vertreibung des IS durch die Taliban befürchten die Bewohner zwar keine öffentlichen Hinrichtungen mehr, aber sie fühlen sich weiterhin nicht sicher. Man habe nicht den Mut, etwas gegen die Taliban zu sagen. Die vulnerabelste Bevölkerungsgruppe seien Kinder. Meine Kontaktperson konnte beobachten, wie Kinder, die auf der Straße spielten, um ihre Oberarme weiße Tücher gebunden hatten. Nachgefragt gaben die befragenden Personen an, dass diese Kinder nichts Anderes kennen, als die Taliban. Großteils halten die Taliban für Helden, weil sie die Wohngebiete der Kinder vom IS befreit hätten und den Familien ermöglicht hätten, wieder in ihre Häuser zurückzukehren. Sie würden aber nach wie vor unter den strengen islamischen Gesetzen leben. Laut den befragten Personen warten nicht nur die Einwohner von Kunar, sondern die Gesamtbevölkerung von Afghanistan auf ein positives Ende der Friedensgespräche. Viele Menschen, vor allem Jugendliche, die einen Zugang zum Internet haben, appellieren in den Sozialen Medien, dass die Taliban ihre Waffen niederlegen sollen und an einem Frieden im Land mit der Regierung zusammenarbeiten sollen, zumal die Bevölkerung viele Verluste erlitten hätte. Es konnte aber aus den Gesprächen mit den Einheimischen eruiert werden, dass die Hoffnung auf einen Frieden schwindend gering sei, zumal die Sabotagen und Anschläge durch den IS, den Taliban und anderen Aufständische Gruppierungen täglich an Ausmaß gewinnen und nach wie vor die zivile Bevölkerung darunter leide. Befragt zu den konkreten Problemen des Herrn Beschwerdeführers, konnte niemand bestätigen, dass Herr XXXX persönlich von all diesen Problemen betroffen gewesen sei. Die Probleme seien allgemeiner Natur und würde nicht nur einzelne Bewohner persönlich oder gezielt betreffen.

Aus den vor Ort durchgeführten Befragungen, den Recherchen im Internet und in der angewendeten Literatur geht hervor, dass Kunar im Osten an Pakistan grenzt und über diese Grenze immer mehr Aufständische aus Pakistan nach Afghanistan gelangen und die Bevölkerung in Angst und Unsicherheit versetzen. Auch konnten die Angaben des Beschwerdeführers dahingehend bestätigt werden, als dass die Taliban die Kontrolle über Kunar dauerhaft besitzen, bis auf die Ausnahme, als der IS nach Kunar eingedrungen ist und über die Provinz geherrscht hat. Weiters konnte bestätigt werden, dass aufgrund der strengen Kontrollen es kaum möglich ist, innerhalb aber auch außerhalb der Provinz problemlos zu reisen. Im Zuge der Recherchen konnte nicht ermittelt werden, dass der Beschwerdeführer konkret und persönlich einer Bedrohung ausgesetzt gewesen wäre. Die Probleme, auf die diese schlechte Sicherheitslage zurückzuführen sei, seien allgemeiner Natur und betreffen die Gesamtbevölkerung der Provinz.“

Mit Parteiengehör vom 19.01.2021 wurde dem BF und dem BFA das Gutachten mit der Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme übermittelt. Seitens des BFA sowie des BF wurde dazu keine Stellungnahme abgegeben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF, ein afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen sowie dem sunnitischen Islam an. Er spricht Paschtu. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Der BF besuchte keine Schule im Herkunftsstaat. Der BF erlernte den Beruf des Malers und hat Berufserfahrung als Obstverkäufer. Der BF wurde in Pakistan geboren und kehrte im jugendlichen Alter mit der Familie nach Afghanistan zurück, wo er bis zu seiner Ausreise in der Provinz Kunar, XXXX lebte. Nach dem Tod seines Vaters war er für die Familie verantwortlich. Der BF hat eine Schwester sowie einen jüngeren Bruder. Die Schwester des BF ist verheiratet. Der jüngere Bruder des BF lebt gemeinsam mit der Schwester des BF in Kabul. Der Schwager des BF sorgt für den Bruder des BF. Der BF hat noch Onkel und Tanten mütterlicherseits, die in Kunar aufhältig sind. Der BF verfügt über aufrechte familiäre und soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan.

Der BF ist volljährig, gesund und im erwerbsfähigen Alter. Der BF leidet an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten. Der BF hat keine Verwandten oder Familienangehörigen im Bundesgebiet.

Der BF wurde in Österreich 2 Mal rechtskräftig verurteilt. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX , vom 10.11.2015 (RK 16.11.2015) wurde der BF gemäß §§ 27 (1) Z 1 2. Fall, 27 (2) SMG, §§ 28a (1) 5. Fall, 28a (3) 1. Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten - davon 10 Monate bedingt - verurteilt. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX , vom 16.09.2019 (RK 20.09.2019) wurde der BF gemäß § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten - bedingt - verurteilt.

Der BF nahm im Bundesgebiet an Deutschkursen teil und ist im Rahmen des sozialintegrativen Sportprojektes SIQ+ Sport-Integration-Qualifikation in einem Ringer-Verein aktiv.

Seit dem Jahr 2019 wurde der BF mehrfach aufgrund seines unbekannten Aufenthaltes von der Grundversorgung abgemeldet. Der BF geht keiner Erwerbstätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Gründe, die eine Verfolgung des BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat aus asylrelevanten Gründen maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden vom BF nicht glaubhaft gemacht und sind nicht hervorgekommen. Der vom BF vorgebrachten Bedrohung - durch die Taliban - konnte aufgrund des Sachverständigengutachtens keine Glaubwürdigkeit geschenkt werden. Dem BF ist es nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete Verfolgung maßgeblicher Intensität - die ihre Ursache in einem der GFK genannten Gründe hätte - glaubhaft zu machen.

1.3. Zur Rückkehrmöglichkeit nach Afghanistan:

Der BF ist in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt. Gründe, die eine Verfolgung oder sonstige Gefährdung des BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden vom BF nicht glaubhaft gemacht.

Es kann zudem nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan in seinem Recht auf Leben gefährdet wird, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wird oder eine Rückkehr für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.

Eine Rückkehr des BF in seine Heimatprovinz Kunar ist aufgrund der Volatilität der dortigen Sicherheitslage nicht zumutbar.

Eine Rückkehr des BF in die Stadt Kabul ist dem BF zumutbar. Der BF verfügt über familiäre Anknüpfungspunkte - Bruder, Schwester sowie Schwager - in Kabul.

Der BF kann sich außerdem im Rückkehrfall in einer der relativ sicheren Städte Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen und mittelfristig dort eine Existenz aufbauen.

Der BF hat die letzten Jahre bis zu seiner Ausreise in Afghanistan gelebt und ist daher mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Paschtu) vertraut, wuchs in einem afghanischen Familienverband auf und hat Berufserfahrung als Obstverkäufer. Zudem erlernte er den Beruf als Maler. In Zusammenschau mit seiner Arbeitsfähigkeit könnte sich der BF daher in Kabul, Mazar-e Sharif oder in Herat eine Existenz aufbauen und diese zumindest anfänglich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Ihm wäre der Aufbau einer Existenzgrundlage in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif möglich. Er ist in der Lage, in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Er hat die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Er kann die Städte Herat und Mazar-e Sharif auf dem Luftweg (via Kabul) sicher erreichen.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. In Afghanistan wurden (mit Stand 07.02.2021) 55 335 bestätigte Fälle sowie 2410 Todesfälle registriert.

Der BF ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.


1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 06.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.02.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.02.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.03.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt, um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.07.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.03.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.03.2020, AA 01.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa 4 Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.03.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Nach monatelangem erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.02.2020; vgl. FH 04.03.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.07.2020), und so ließen sich am 09.03.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.05.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.07.2020; vgl. NZZ 20.04.2020, DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.05.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.07.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.06.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004; USDOS 20.06.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.07.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.07.2020; vgl. DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.07.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist Personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020; REU 06.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida, keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.02.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 06.10.2020; vgl. AJ 05.10.2020, BBC 22.09.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 05.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Rgierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.09.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 06.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.09.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 05.10.2020).

(Auszug Länderinformation 16.12.2020, Kapitel 4).


Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar Bewegungsfreiheit2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).

Für den Berichtszeitraum 01.01.2020 - 30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.07.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonalen Trends gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.03.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes HalbJahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.01.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuss (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.07.2020).


High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 01.07.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kbul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.03.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).

Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (TN 26.03.2020 vgl.; BBC 25.03.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020, USDOD 6.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):


Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019), und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territ

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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