TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/8 W111 2213466-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.02.2021
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Entscheidungsdatum

08.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W111 2213466-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX alias XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.01.2018 (gemeint wohl: 04.01.2019), 1137001106-161629101, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 04.12.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, zu dem er am selben Tag niederschriftlich erstbefragt wurde.

Der Beschwerdeführer gab zusammengefasst und sinngemäß an, dass er nach muslimischen Recht verheiratet sei und einen Sohn habe; beide würden in XXXX wohnhaft sein.

Weiters sei er legal aus seinem Herkunftsland ausgereist.

Zum Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer sinngemäß an, dass er im Juni 2016 mit einem Cousin mit dessen Auto in „ XXXX “ unterwegs gewesen sei. Der Beschwerdeführer sei Beifahrer und nicht angegurtet gewesen. Die russische Verkehrspolizei habe von ihnen die „Papiere“ haben wollen. Der Beschwerdeführer und sein Cousin seien von der Kontrolle davongelaufen. Aus diesem Grund habe sich der Beschwerdeführer entschlossen, Russland zu verlassen. Weiters wolle er auch nicht in seinem Heimatland den Militärdienst leisten. Andere Gründe habe er nicht. Zu seinen Rückkehrbefürchtungen führte er aus, dass er Angst um sein Leben habe.

2. Am 04.06.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen.

Der Beschwerdeführer brachte anlässlich jener Einvernahme zusammenfassend und sinngemäß vor, dass er seine Ehegattin im Zuge einer Ferntrauung per Videochat geheiratet habe, da er seine Ehegattin nicht nach Russland habe bringen können.

Zudem ergänzte er, dass er nach islamischen Ritus verheiratet sei, standesamtlich sei er nicht verheiratet.

Weiters führte er aus, dass er Magenschmerzen habe, derzeit würde er keine Medikamente nehmen. Er sei deswegen bereits in der Russischen Föderation behandelt worden. Er fürchte jedoch, dass die Behandlung nichts gebracht habe. Ansonsten sei er gesund. Angesprochen auf seinen Befund vom 20.05.2017, wonach er eine Entzündung der Magenschleimhaut habe, führte er aus, dass er noch immer Schmerzen habe.

Gefragt, ob die Behandlung in Österreich nichts gebracht habe, führte der Beschwerdeführer aus, dass er die Gastritis zwei Jahre lang nicht behandeln habe lassen. Deshalb habe er eine chronische Gastritis bekommen. Die Heilung gestalte sich daher sehr schwierig. Im Vergleich zu seinem Zustand zu Hause, habe sich dieser in Österreich gebessert.

Seine Muttersprache sei Tschetschenisch, ansonsten spreche er fließend Russisch.

Gefragt, in welchen Teilen der Russischen Föderation er verfolgt werde, führte er aus, dass er in Tschetschenien und XXXX verfolgt werde. Ansonsten werde er nirgendwo in der Russischen Föderation verfolgt.

Zum Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, dass er und sein Cousin mit einem Auto unterwegs gewesen seien. Sie seien von einem Polizisten aufgehalten worden, weil sie nicht angegurtet gewesen seien. Er habe sie angehalten und habe ohne sich vorzustellen gleich gesagt, dass sie den Motor abschalten, aus dem Auto rauskommen und ihm die „Papiere“ und Schlüssel geben sollten. Sein Cousin habe sich geweigert und habe verlangt, dass sich der Polizist ausweisen solle. Daraufhin habe der Polizist gefragt, ob sie nicht wissen würden, dass in Tschetschenien jeder, der ohne angeschnallt zu sein fahre und angehalten werde, die Autopapiere und den Autoschlüssel abgeben müsse. Sein Cousin habe gewollt, dass der Polizist sich ausweise und offiziell einen Strafzettel ausstelle, wie es das Gesetz verlange. Daraufhin sei der Polizist wütend geworden und habe mit dem Fuß gegen die Fahrertür getreten. Er habe verlangt, dass sein Cousin aussteigen solle, ansonsten werde er ihn mit Gewalt rausholen. Daraufhin habe sich der Beschwerdeführer eingemischt. Sitzend im Auto, habe der Beschwerdeführer gesagt, dass wenn der Polizist nicht aufhöre, sich so zu verhalten, er sich an die Öffentlichkeit wenden werde und er von den Schikanen berichten werde. Daraufhin habe der Polizist gemeint, er werde sie schon dazu bringen, auszusteigen. Er sei daraufhin zu seinem Fahrzeug gegangen, das in einiger Entfernung gestanden sei. Sein Cousin sei in Panik geraten, weil er Angst gehabt habe, dass der Polizist vielleicht seine Waffe holen gegangen sei und deswegen sei er einfach weggefahren.

Sie seien dann zu einem Freund seines Cousins in ein anders Dorf gefahren. Sie hätten dort übernachtet und dann habe der Cousin dem Beschwerdeführer eine Fahrgelegenheit bis nach Moskau besorgt. Von Moskau aus sei der Beschwerdeführer dann nach XXXX gefahren. In XXXX habe er dann bei einem Freund gewohnt, weil er sich nicht getraut habe, zu Hause zu wohnen. Er habe seinen Vater berichtet, was passiert sei und habe ihn, um Hilfe gebeten. Der Vater habe gemeint, er werde ihm ein Schengen Visum besorgen, damit der Beschwerdeführer Russland verlassen könne.

„Leute“ hätten den Onkel dazu bringen wollen, dass er den Beschwerdeführer mit einer Täuschung dazu bringen solle, dass er zurückkehre. Sie hätten auch seinen Onkel bedroht und hätten ihm gesagt, dass sie den Beschwerdeführer schon finden würden und dass es ein schlechtes Ende für den Beschwerdeführer haben werde. Sie hätten ihm gesagt, wenn er ihnen nicht helfe, würden sie den Beschwerdeführer selber finden und ihm die Beine brechen und ihn nach Tschetschenien zurückschleifen. Das solle er dem Beschwerdeführer ausrichten.

Im Übrigen habe er von Österreich aus mit seinem Vater telefoniert, und dieser hätte ihm gesagt, dass zwei kräftige, sportliche Männer sich nach dem Beschwerdeführer erkundigt hätten.

Gefragt, ob er noch weitere Fluchtgründe habe, verneinte er dies.

Zudem führte er aus, dass Tschetschenen stolz seien und wenn sie sich angegriffen fühlen würden, würden sie entsprechend reagieren. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer dem Polizisten angedroht, dass er seine Taten an die Öffentlichkeit bringen werde. Das habe den Polizisten gegen den Beschwerdeführer aufgebracht.

Der Beschwerdeführer legte im Zuge der Einvernahme mehrere Dokumente vor.

3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 04.01.2018 (gemeint wohl: 04.01.2019) wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Im Spruchpunkt V. wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist. Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Der Begründung ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass die Identität des Beschwerdeführers feststehe.

Er sei nach islamischem Recht, nicht aber standesamtlich, verheiratet und habe einen Sohn, wobei der Beschwerdeführer über kein Sorgerecht verfüge.

Er leide an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung und nehme keine Medikamente zu sich. Feststehe, dass der Beschwerdeführer sein Herkunftsland verlassen habe, um mit seiner im Bundesgebiet wohnhaften Lebenspartnerin und dem gemeinsamen Sohn das Familienleben im Bundesgebiet zu begründen.

Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer als Beifahrer und sein Cousin als Fahrer eines Fahrzuges wegen Missachtung der Gurtpflicht im Straßenverkehr von einem Dorfpolizisten angehalten worden seien und sich der Feststellung der Identität durch Flucht entzogen hätten. In diesem Zusammenhang habe nicht festgestellt werden können, dass er aufgrund seines Verhaltens gegenüber dem Dorfpolizisten von diesem verfolgt werden würde, weil der Beschwerdeführer ihn in seiner Ehre verletzt habe. Es stehe fest, dass sein Fluchtvorbringen nicht auf einem Konventionsgrund basiere.

Es könne daher nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer einer Gefährdung oder Verfolgung im Sinne der GFK im Herkunftsland ausgesetzt gewesen sei bzw. eine solche zukünftig zu befürchten habe.

Zudem sei in einer Gesamtschau davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht in eine Notlage entsprechend Art 2 bzw. Art 3 EMRK gelange.

Angesichts der - im Bescheid näher dargestellten - Umstände des konkreten Falles sei unter Bedachtnahme der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes davon auszugehen, dass die Rückkehrentscheidung nach § 9 Abs. 1 – 3 BFA-VG zulässig sei und dem Interesse der Öffentlichkeit an einem geordneten Verzug des Fremdenwesens, insbesondere in Hinblick auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie dem wirtschaftlichen Wohl des Landes, mehr Gewicht einzuräumen sei als seinen privaten Interessen.

4. Dagegen wurde fristgerecht Beschwerde eingebracht, in welcher zusammengefasst ausgeführt wurde, dass ein ernsthaftes Interesse der Polizei an der Person des Beschwerdeführers bestehe. Nach seiner Flucht hätten diese seinen Vater und Onkel aufgesucht. Sie hätten Informationen über den Beschwerdeführer wollen. Auch wenn die Behörde der Meinung sei, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers keine asylrelevante Verfolgung darstelle, so sei ihm in eventu zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren, da die ihm drohende Strafe in der Russischen Föderation jedenfalls eine Verletzung von Art 2 und Art 3 EMRK darstellen würde. Weiters wäre zu berücksichtigten gewesen, dass der Beschwerdeführer seit zwei Jahren in Österreich sei und seine Frau, die er nach islamischen Recht geheiratet habe, sich mit dem gemeinsamen Kind in Österreich aufhalten würde. Primär sei es dem Beschwerdeführer natürlich wichtig gewesen, den Herkunftsstaat so schnell wie möglich zu verlassen. Da sich seine Frau aber bereits in Österreich aufgehalten habe, sei es wohl nahliegend und auch nachvollziehbar, dass er sich dazu entschieden habe, nach Österreich zu kommen. Der Beschwerdeführer wolle angeben, dass eine besondere Bindung an Österreich vorliege. Er habe sich durchaus um eine Integration in die österreichische Gesellschaft bemüht und während seines Aufenthalts einen engen Freundeskreis aufgebaut. Die Rückkehrentscheidung hätte zur Folge, dass ein gemeinsames Familienleben mit seiner Frau und ihrem gemeinsamen Sohn vereitelt werden würde.

5. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 23.01.2019 mitsamt den bezughabenden Verwaltungsakten beim Bundesverwaltungsgericht ein.

6. Am 13.08.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit einer Dolmetscherin und der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers eine mündliche Verhandlung durch. Das Bundesamt war ordnungsgemäß geladen worden, hatte jedoch bereits im Vorfeld schriftlich mitgeteilt, auf eine Teilnahme an der Beschwerdeverhandlung zu verzichten. Die erschienene Rechtsvertreterin gab bekannt, dass sie den Beschwerdeführer per Post von der Ladung informiert habe; eine Kontaktaufnahme per Telefon sei gescheitert. Nach Einsichtnahme in das ZMR stellte sich heraus, dass der Beschwerdeführer seit 04.05.2020 an einer neuen Adresse gemeldet ist. Der zuständige Richter vertagte die Verhandlung auf unbestimmte Zeit.

7. Am 31.08.2020 setzte das Bundesverwaltungsgericht die mündliche Verhandlung zur Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts in Anwesenheit einer Dolmetscherin und in Anwesenheit des Beschwerdeführers sowie dessen Rechtsvertreters fort.

Die gegenständlich relevanten Teile der Verhandlung gestalteten sich, wie folgt:

„Nachgefragt gibt BF an, dass der Verhandlung weder psychische, noch physische Gründe entgegenstehen.

Beginn der Befragung

R: Bitte schildern Sie mir in kurzen Worten Ihren Lebenslauf bis zu jenem Zeitpunkt an dem Ihre fluchtauslösenden Probleme begonnen haben.

BF: Vom Geburtstag bis zum Jahr 2000 lebte ich in Tschetschenien. Im Jahr 2000 – 2016 habe ich in Russland in der Stadt XXXX gelebt. Ich habe 11 Jahre die Grundschule abgeschlossen. Dann habe in einer Akademie eine weitere Ausbildung gemacht, das war eine humanwissenschaftliche Akademie. Dort war eine Wirtschaftsfakultät. Nachgefragt, ich habe dort studiert. Ich habe dort begonnen im Jahr 2013 und bis zum Jahr 2016 studiert. Da ich dann Probleme bekommen habe, konnte ich diese Ausbildung nicht abschließen. Nachgefragt, bin ich nach muslimischen Ritus verheiratet und habe standesamtlich in Österreich geheiratet. Nachgefragt, habe ich einen Sohn und meine Frau ist schwanger im 7. Monat. Ich habe die Mutter-Kind-Passkopien.

Der BFV legt diesbezüglich eine Heiratsurkunde vor die mit 08.04.2019 datiert ist, sowie einen Mutter-Kind Pass mit einem vorgesehenen Geburtstermin XXXX .

R: Waren Ihre Aussagen in der ersten Instanz vollständig und richtig?

BF: Ja.

R: Wurden Ihre Angaben rückübersetzt?

BF: Ja. Es hat zuerst eine Einvernahme über die Reiseroute gegeben. Dort ist es zu Fehlern gekommen und der D hat damals gemeint das dieser Fehler ausgebessert werden. Es ging zB um Geburtsdaten, genauer gesagt um mein Geburtsdatum. Ich habe mein richtiges Geburtsdatum genannt, das aber falsch protokolliert wurde. Später wurde mir vorgeworfen, dass ich die Behörde belogen habe, aber das hätte doch keinen Sinn gehabt, weil ich selbst meinen Pass vorgelegt habe. Bei der zweiten Einvernahme kam es auch zu einem Durcheinander, es gab Verwechslungen. Die zweite Einvernahme hat 5 Stunden gedauert, es wurde sehr viel aufgeschrieben, aber ich glaube, dass wir geschafft haben alle Korrekturen anzubringen, sodass das Protokoll jetzt richtig ist.

R: Bitte schildern Sie mir chronologisch richtig und detailliert aus welchen Gründen Sie Ihre Heimat verlassen haben.

BF: Im Mai 2016 bin ich nach Tschetschenien gefahren. Mein Vater hat mich darum gebeten, damit ich mich um meinen Onkel kümmere. Er war krank. Er hatte Diabetes und litt unter sehr starken Kopfschmerzen. Er hatte auch andere Erkrankungen. Er konnte nicht normal in Tschetschenien behandelt werden. Er hat mich darum gebeten, weil ich der jüngste in der Familie bin und laut unserer Tradition ist das die Pflicht des jüngsten. Also kümmerte ich mich um meinen Onkel. Er lebt noch und ein anderer Cousin kümmert sich um ihn. Ich habe 2 Onkel in einem Dorf. Nach einem Monat im Juni kam es zu einem Vorfall. Es ist bekannt, dass bei uns in Tschetschenien Gesetzesverletzungen vorkommen. Es werden oft russische Gesetzesbestimmungen missachtet und eigene Gesetze geschaffen. Es gibt immer wieder Vorfälle die auch auf Video dokumentiert wurden und sie sind auch ein Beweis dafür.

R: Was ist Ihnen passiert?

BF: Im Juni 2016 fuhr ich mit einem Cousin von mir mit dem Auto von seinem Haus weg. Wir wollten in ein anderes Dorf fahren. Wir wollten einen Freund besuchen. Dort war ein Geschäft und hinter dem Geschäft stand ein Polizeiwagen. Ich persönlich sah dieses Auto zuerst gar nicht, weil einige Leute zu dem Zeitpunkt das Geschäft verlassen haben. Als wir uns schon in der Nähe des Autos befunden haben, gab uns ein Polizist ein Zeichen, dass wir stehen bleiben sollen. Wir blieben auch ein Stück weiter stehen. Er kam zu uns und zwar von der Seite des Fahrers. Er fragte uns warum der Sicherheitsgurt nicht angelegt ist. Es hat vorher einige Vorfälle mit diesen Sicherheitsgurten gegeben und deswegen hat es diese Polizeieinsätze gegeben. Deswegen weil es bei uns in der Republik immer mehr Todesfälle im Straßenverkehr gibt, weil die Leute die Sicherheitsgurte nicht anlegen. Es gab viele Vorfälle und es sind dabei sogar schwangere Frauen ums Leben gekommen. Es wurde zwar nirgends offiziell vermerkt aber Kadyrov hat das persönlich angeordnet, dass das eben überprüft wird. Die Leute sollten dabei mit aller Strenge behandelt werden. Bei uns im Dorf hat es sogar 5 Fälle gegeben, bei denen sogar die Autos von den Leuten weggenommen wurden, das habe ich erst später erfahren. Der Polizist hat uns angehalten und kam dann auf uns zu, er hat sich nicht vorgestellt und sagte, dass das der Motor des Autos abgestellt werden soll. Er forderte uns auf aus dem Auto auszusteigen und ihm die Schlüssel und Papiere auszuhändigen. Mein Cousin hat ihn gebeten, dass er sich vorstellt, weil er das hätte tun sollen. Daraufhin hat ihm der Polizist gefragt, ob er nicht weiß, dass in der Republik sogar Autos beschlagnahmt werden, wenn sich die Menschen an die Sicherheitsgurtpflicht nicht halten. Mein Cousin hatte viel mit Autos in Russland gearbeitet und er kannte sich gut mit russischen Gesetzen aus. Er sagte ihm, dass der Polizist kein Recht hat ihm das Auto wegen dem Sicherheitsgurt wegzunehmen. Er hat ihn ersucht eine Strafe aufgrund der gesetzlichen Grundlage auszustellen. Daraufhin hat der Polizist gesagt, dass er uns gewaltsam aus dem Auto hinauszerren wird, wenn wir nicht freiwillig aussteigen. Mein Cousin hat ihm gesagt, dass die dortige Kadyrovpolitik ist und dass das nicht richtig ist. Daraufhin wurde der Polizist wütend, er hat dann einen Tritt dem Auto versetzt. Dann schloss ich mich an und sagte ihm, dass er damit aufhören soll, weil das Willkür ist und ich das sonst per Telefon aufnehmen werde, also ein Video mache das ich veröffentlichen werde. Der Polizist hat dann gesagt, schauen wir mal, ob ihr aus dem Auto aussteigt oder nicht und er ging schnell zu seinem Auto. Er hatte damals keine Waffe bei sich und mein Cousin bekam Angst, dass er zum Auto geht, um die Waffe zu holen. Mein Cousin hat die Gelegenheit genützt, dass der Polizist sich von uns entfernt hat und ist weggefahren. Das Auto des Polizisten war ca. 20 bis 30m von unserem entfernt. Als der Polizist ca. 2 oder 3m von unserem Auto wegging, sind wir losgefahren. Ich weiß nicht, ob er uns nachgefahren ist, weil wir Umwege genommen haben. Wir sind gleich abgebogen. Länger hat er uns jedenfalls nicht verfolgt, ob er es anfangs versucht hat, kann ich nicht sagen. Möglicherweise ist er hinter uns gefahren, aber dann hat er nicht gewusst wie wir weiter gefahren sind. Ich habe in Russland 15 Jahre gelebt und wusste nicht, dass man mit einem örtlichen Polizisten so nicht sprechen darf. Wir sind zuerst zu seinem Freund gefahren, wir haben dort übernachtet und dann hat er mich zu einem Taxi begleitet und mit dem Taxi bin ich nach Moskau gefahren. Als ich unterwegs war hat mich der Cousin angerufen und sagte mir das die Leute zu dem Onkel gekommen sind. Sie sind zu meinem Onkel gekommen der krank war und sein Name ist XXXX . Es sind 3 Personen zu ihm gekommen, sie sagte das sie von der Polizei sind. Sie haben nach mir gefragt wo ich mich befinde. Er sagte das ich weggefahren bin und weiß nicht wohin. Sie sagten daraufhin, dass das nicht möglich ist, dass er wissen muss wo ich mich befinde weil ich dort gelebt habe. Sie haben ihm nicht geglaubt und haben begonnen ihn anzuschreien. Sie haben ihn ersucht mich anzurufen und mir zu sagen das ich zurückkommen soll. Mein Onkel sagte der Polizei, dass wen ich vor diesem Problem geflüchtet bin, ich nicht zurückkommen werde. Daraufhin forderten ihn die Polizisten auf mich zu belügen und mich irgendwie zu einer Rückkehr zu bewegen. Der Onkel sagte aber, dass ich sowieso nicht zurückkommen werde auch wenn er mich belügen sollte. Daraufhin hat man ihn gesagt, dass er mich anrufen soll und sagen soll das man mich sowieso finden wird, die Beine brechen wird und mich zurückbringen wird. Sie sagte meinem Onkel auch, dass er keine Zweifel haben soll das sie mich wirklich finden werden. Sie sagten ihm, dass er mir ausrichten soll, dass man mir eben die Beine brechen wird und auf diese Weise mich zurückholen wird. Das hat mir mein Cousin per Telefon erzählt als ich nach Moskau fuhr.

R: Hatten Sie Probleme bei der Ausreise aus der russischen Föderation?

BF: Nein.

R: Ist Ihnen bekannt, dass nach Ihnen Russlandweit gefahndet wird?

BF: Nein, das weiß ich nicht.

R: Sind Sie in Russland irgendwelchen Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen?

BF: Ja.

R: Welchen?

BF: Danach sind die Leute nach XXXX gekommen, weil ich dort angemeldet war.

R: Was haben die Leute gemacht?

BF: Es sind 2 Männer gekommen, sie haben sportlich ausgeschaut. Sie waren ohne Uniform da. Dies war, als ich schon in Ö war.

R: Was haben diese Leute gemacht oder gesagt?

BF: Sie haben ihn gefragt, wo ich derzeit lebe, wenn ich nicht zuhause bin. Mein Vater sagte, dass er mich nicht gesehen hat seitdem ich nach Tschetschenien weggefahren bin. Er sagte, dass er über dieses Problem nichts weiß, das war besser für ihn. Dann sind sie gegangen, er sagte das ich nicht da bin, er sagte auch das ich nicht in Russland bin und mich nicht mehr gesehen hat.

R: Was wirft man Ihnen in der russischen Föderation vor?

BF: Offiziell wurde das nicht festgelegt. Inoffiziell sucht man nach mir, weil ich die dortige Politik bedroht habe. Weil man mich als Gefahr dort sieht. Wahrscheinlich hat der Polizist Angst gehabt, dass ich ihn mit einem Video aufgenommen habe. Solche Fälle bleiben nicht unbestraft.

R: Überschätzen Sie bei Ihrer Schlussfolgerung, dass Sie eine Gefahr für die Politik wären, nicht Ihre eigene Position bzw. überschätzen Sie nicht die Einflussmöglichkeiten eines Straßenpolizisten, wenn Sie meinen, dass er eine russlandweite Verfolgung veranlassen könnte.

BF: Das ist kein Problem, das kann wirklich passieren, weil das eine persönliche Angelegenheit war. Es gibt Leute die mit verschiedenen Leuten zusammenarbeiten zB Sportler.

R: Ich verstehe das nicht, bitte erklären Sie das näher. R erklärt abermals die Frage. Sowohl der Vorfall, als auch Ihre Person und die Person des beteiligten Polizisten sind wohl zu unbedeutend, um eine russlandweite Fahndung auszulösen die sich nicht im Rahmen der Gesetze bewegt.

BF: Der Polizist könnte seine Leute aus seiner Stadt zu mir schicken. Die Leute stehen miteinander in Verbindung. Er hätte nur seinem Offizier sagen müssen, dass ich eine Gefahr für die Republik bin.

R: Gibt es darüber hinaus irgendwelche Gründe die Sie bewogen haben die russische Föderation zu verlassen?

BF: Mir hat das auch nicht gefallen, dass die Leute dort in die Armee einberufen werden. Ich habe später erfahren, dass die Soldaten von dort in die Ukraine und in andere Kriegsgebiete geschickt werden. Ich wollte mich nicht an einem Krieg beteiligen. Man hätte mich aber einberufen nach dem ich mit meiner Ausbildung fertig geworden wäre.

R: Das heißt das wäre der reguläre Militärdienst gewesen?

BF: Ja.

R: Wären Sie in irgendeiner Form während des Militärdienstes möglicherweise diskriminiert worden?

BF: Möglicherweise nicht währen des Dienstes aber nach dem Abschluss des Dienstes, wenn ich dann zurückgekommen wäre. Aber es gab sehr viele Vorfälle das Tschetschenen währen des Armeedienste erniedrigt und stark verprügelt wurden.

R: Haben Sie zu Ihrem asylrelevanten Vorbringen noch etwas hinzuzufügen?

BF: Ja. Wenn ich zurückkomme, könnte ich verfolgt werden und ich habe große Angst um mein Leben. Ich müsste mein ganzes Leben dort auf der Flucht sein. Hier in Ö ist meine Familie.

R: Selbst, wenn Sie in Tschetschenien einer relevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt wären, könnten Sie in Anbedacht der Lage problemlos im russischen Kerngebiet leben, wo Sie ja sogar Verwandte (Eltern) haben.

BF: Könnte ich nicht, man weiß wo ich lebe.

R: Haben Sie Ihr Fluchtvorbringen abschließend geschildert?

BF: Ja.

R: Leiden Sie unter schweren oder chronischen Krankheiten?

BF: Außer chronischer Gastritis und Darmentzündung weiß ich von keinen Erkrankungen.

R: Haben Sie Verwandte in der russischen Föderation?

BF: In Russland nicht, alle sind in Tschetschenien. Nur meine Eltern sind in XXXX .

R: Sprechen Sie Deutsch?

BF: Ich verstehe nur einiges. Ein bisschen. Freisprechen kann ich nicht. Ich habe mich viel mit meiner Behandlung beschäftigt. Mit Gastritis und Kopfschmerzen, das steht alles in meiner medizinischen Karte.

R: Gehen Sie in Ö einer legalen Beschäftigung nach?

BF: Nein, aber ich würde gerne arbeiten. Bis jetzt habe ich keine Papiere und ich habe gehört das man das nicht darf. Ich kümmerte mich um meinen Sohn.

R: Wo und wann haben Sie Ihre Frau kennengelernt?

BF: Wir haben uns übers Internet kennengelernt im Sommer 2015.

R: Wie ging es dann weiter?

BF: Wir standen in Kontakt über Videoanruf. Wir haben uns dann im November 2015 in Weißrussland getroffen. Wir haben eine Woche dort miteinander verbracht nach dem wir geheiratet haben. Als wir uns getroffen haben wussten wir schon das wir heiraten wollen und wir haben über Video nachdem muslimischen Ritus geheiratet. Das hat ein Imam gemacht der sich in XXXX befunden hat.

R: Wann haben Sie geheiratet?

BF: Im November 2015.

R: Warum sind Sie eigentlich nicht nach Weißrussland gefahren und haben die Frau dort geehelicht?

BF: Wir haben dort geheiratet.

R: Wozu brauchten Sie dann einen Imam in XXXX ?

BF: Weil ich die Moschee in Weißrussland nicht gekannt habe dort und ich die dortige Sprache nicht kann.

R: Aus dem Eheschließungszeugnis geht nicht hervor, dass die Ehe außerhalb der Ortschaft XXXX geschlossen wurde.

BF: Ja, weil die Bestätigung in XXXX ausgestellt wurde. Für den Imam war das ausreichend meine Frau und mich über Video zu sehen und unser JA zu hören.

R: Ich halte fest, dass aus der Urkunde so ein Vorgehen nicht ersichtlich ist, vielmehr geht aus der Urkunde hervor, dass das Eheschließungszeremoniell in der Stadt XXXX vollzogen wurde.

BF: Das ist nicht so ein wichtiges Dokument, das ist nur für die Verwandten. Hier haben wir bei einem österreichischen Standesamt geheiratet.

R: Es war Ihnen aber zum Zeitpunkt der Eheschließung in Ö klar, dass Ihr Aufenthalt in Ö ein unsicherer ist.

BF: Ich wusste das nicht, aber was habe ich zu verlieren. Ich habe gedacht, dass das vielleicht helfen wird. Ich möchte hier bei meinen Kindern bleiben.

R: Können Sie abgesehen von Ihrer Ehe und den beiden Kindern weitere Sachverhalte angeben die für eine Integration in Ö sprechen?

BF: Während der Quarantäne habe ich nichts geschafft und vorher war ich in Behandlung. Ich hatte starke Magenschmerzen, das wurde alles dokumentiert, aber ich werde weiter lernen. Ich habe bisher keine weiteren Integrationsschritte gesetzt.

R: Wann ist Ihr erstes Kind geboren?

BF: Am XXXX .

R: Wo wollte Sie und Ihre Frau leben ursprünglich?

BF: Wir dachten vielleicht in Weißrussland.

R: Woran ist das gescheitert?

BF: Ich habe mit einem Menschen gesprochen, der sich damit beschäftigt. Er vergibt temporäre Aufenthaltsgenehmigungen. Er hilft dort, sich einzurichten gegen Entgelt. Er hat viele geholfen und man hat ihn dort gekannt. Man hat mir den Menschen empfohlen, aber dann hatte ich ja die Probleme und ich konnte das nicht machen.

R: Ab wann wollten Sie in Weißrussland leben?

BF: Bevor wir geheiratet haben, gab es den Plan das wir heiraten.

R: Was war der Plan?

BF: Der Plan war das wir dort leben werden und das ich dort mit meinem Auslandpass leben werde und das meine Frau dort auch sein kann. Sie könnte nach Ö wegen Ihren Terminen kommen und das hier erledigen.

R: Welche Termine?

BF: Irgendwelche.

R: Also haben Sie versucht in Weißrussland zu leben?

BF: Nein, habe ich nicht. Ich wollte dort später leben, es hat ja Wintersemester dort begonnen. Ich musste dann wegfahren. Ich habe mich aber sehr verliebt und wir wollten zuerst eine Fernbeziehung führen und dann zusammenleben, wenn ich mit der Ausbildung fertig bin. Ich wollte pendeln zwischen meinem Studienort und Weißrussland bis ich die Ausbildung abschließe.

R: Vorgelegt wird das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation betreffend die russische Föderation (Stand 21.07.2020)

RV verzichtet auf Nachfrage auf eine Stellungnahme.

R: Möchten Sie noch etwas hinzufügen?

BF: Ich verbringe die meiste Zeit mit meinem Kind. Was soll passieren, wenn es mich nicht mehr gibt. Es wird auch schwer für meine Frau alleine mit 2 Kindern zu sein, sie ist sehr mit mir verbunden, das wird für sie ein großer Stress.

RV verzichtet auf eine Stellungnahme.“

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Der Beschwerdeführer ist ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum islamischen Glauben bekennt. Seine Identität steht fest. Der Beschwerdeführer wurde in Tschetschenien geboren. Er lebte in Tschetschenien sowie in der Stadt XXXX in Russland. Er hat im Herkunftsstaat 11 Jahre die Schule besucht, anschließend hat er ein Studium begonnen, dieses aber nicht abgeschlossen. Zudem hat der Beschwerdeführer Gelegenheitsjobs verrichtet. Der Beschwerdeführer verfügt über Kenntnisse der russischen und tschetschenischen Sprache und ist mit den Gegebenheiten im Herkunftsstaat vertraut. Zudem leben seine Eltern in der Stadt XXXX in Russland. In Tschetschenien verfügt der Beschwerdeführer über weitere Verwandte.

Der Beschwerdeführerin reiste am 26.07.2016 nach Österreich, blieb drei Tage in Österreich und reiste dann wieder aus. Er reiste (erneut) am 04.12.2016 illegal in das Bundesgebiet ein, wo er am selben Tag seinen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2. Weder war der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation einer Verfolgung ausgesetzt noch droht eine solche aktuell. Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten bedroht.

Der Beschwerdeführer wäre im Fall einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation weder in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen noch von der Todesstrafe bedroht. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Dem Beschwerdeführer ist es möglich und zumutbar, sich alternativ zu einer Rückkehr nach Tschetschenien in einem anderen Teil der Russischen Föderation, etwa in Moskau oder XXXX niederzulassen, wo er bereits vor seiner Ausreise gelebt hat.

Der Beschwerdeführer hat chronische Gastritis und eine Darmentzündung. Er leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen, welche ihn im Alltag maßgeblich einschränken bzw. welche einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat entgegenstehen würden. In der Russischen Föderation respektive Tschetschenien besteht eine ausreichende medizinische Grundversorgung, weswegen der Beschwerdeführer hinsichtlich allfälliger psychischer und physischer Leiden ausreichend behandelt werden könnte.

In Österreich lebt seine Ehegattin sowie der gemeinsame Sohn im Alter von 4 Jahren. Der Sohn wurde am XXXX in Österreich geboren. Zudem hat der Beschwerdeführer angegeben, dass seine Ehegattin schwanger sei (Geburtstermin XXXX ). Der Beschwerdeführer ist mit seiner Ehegattin sowohl standesamtlich als auch nach muslimischen Ritus verheiratet. Die Eheschließung nach muslimischen Ritus erfolgte am 04.11.2015 außerhalb von Österreich. Die standesamtliche Eheschließung erfolgte am 08.04.2019 in Österreich. Seine Ehegattin, die Staatsangehörige der Russischen Föderation ist, verfügt über einen Daueraufenthalt-EU. Der Sohn des Beschwerdeführers, der ebenso Staatsangehöriger der Russischen Föderation ist, verfügt über eine Rot-Weiß-Rot-Karte plus. Der Beschwerdeführer hat die A1-Prüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz auf Niveau A1 und zu Werte- und Orientierungswissen (ÖIF) am 06.02.2019 bestanden. Im Übrigen hat er im Rahmen des Projektes „Start Wien Flüchtlinge – Integration ab Tag 1“ Deutschkurse in der Zeit von 08.10.2018 bis 18.01.2019 besucht. Er geht in Österreich keiner legalen Beschäftigung nach. Der Beschwerdeführer bestritt seinen Lebensunterhalt in Österreich durchgehend durch den Bezug staatlicher Unterstützungsleistungen. Der Beschwerdeführer ist unbescholten.

1.3. Zum Herkunftsland des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

-        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 21.7.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.6.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Tschetschenien und Dagestan

Letzte Änderung: 27.03.2020

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition de

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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