TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/12 I405 2016667-5

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.02.2021
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Entscheidungsdatum

12.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs3
BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §18 Abs5
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z3
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs4
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I405 1438595-6/3E

I405 1438597-6/3E

I405 1438596-6/3E

I405 2016667-5/3E

I405 2201756-4/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerde von

1.) XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, vertreten durch BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2020, Zl. 830349403 - 190868665,

2.) XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, gesetzlich vertreten durch seine Mutter Joy IMADE, diese vertreten durch BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2020, Zl. 830349501 - 190868711,

3.) XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, gesetzlich vertreten durch ihre Mutter Joy IMADE, diese vertreten durch BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2020, Zl. 830349610 - 190868738,

4.) XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria (BF4), gesetzlich vertreten durch ihre Mutter XXXX , diese vertreten durch den BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2020, Zl. 1028950904 – 190868673,

5.) XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria (BF5), gesetzlich vertreten durch seine Mutter XXXX , diese vertreten durch BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2020, 1192254303-190868762,

A) Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin ist Mutter des Zweit- bis Fünftbeschwerdeführers (im Folgenden: BF1 bis BF5).

2. Die BF1 reiste mit den BF2 und BF3 erstmals am 18.03.2013 unrechtmäßig ins Bundesgebiet ein und stellte am gleichen Tag für sich und als gesetzliche Vertreterin für den BF2 und die BF3 einen Antrag auf internationalen Schutz.

3. Das Bundesasylamt hat mit Bescheiden vom 11.10.2013, Zl. 13 03.494-BAI (ad. BF1), 13 03.495-BAI (ad. BF2), 13 03.496-BAI (ad. BF3), die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, in Spruchpunkt I. abgewiesen. In Spruchpunkt II. wurden die Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen und die BF in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria ausgewiesen.

4. Die dagegen gerichteten Beschwerden wurden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.09.2014, Zl. W168 1438595-1/5E (ad. BF1), W168 1438596-1/5E (ad. BF2), W168 1438597-1/6E (ad. BF3), gemäß § 3 Abs. 1 und § 8 Abs. 1 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen und die Verfahren gemäß § 75 Abs. 20 1. Satz, 2. Fall und 2. Satz AsylG 2005 idgF zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) zurückverwiesen.

5. In der Folge wurde die BF1 am 08.10.2014 vor dem BFA niederschriftlich einvernommen.

6. Mit Bescheiden des BFA vom 03.12.2014 wurden den BF Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß den §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG 2005 idgF erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen.

7. Die minderjährige BF4 wurde am 24.07.2014 in Österreich nachgeboren. Für sie wurde von ihrer gesetzlichen Vertretung am 22.08.2014 im Familienverfahren iSd § 34 AsylG 2005 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

8. Mit Bescheid des BFA vom 03.12.2014, Zl. 14-1028950904-14970433, wurde der Antrag der BF4 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG 2005 idgF erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF4 gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt I). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen.

9. Die dagegen gerichteten Beschwerden wurden mit Erkenntnis des BVwG vom 15.05.2015 als unbegründet abgewiesen.

10. Am 23.03.2017 stellte die BF1 und als gesetzliche Stellvertreterin für den BF2 und die BF3 sowie BF4 einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz.

11. Mit Bescheiden vom 06.07.2017, Zl. 13-830349403 – 170364468 (ad. BF1), 13-830349501 – 170364484 (ad. BF2), 13-830349610 – 170364492 (ad. BF3) und 14-1028950904 – 170364506 (ad. BF4), wies die belangte Behörde die Anträge der BF gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkt I). Zugleich erteilte sie den BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt II.). Es wurde keine Frist für eine freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt III) und ausgesprochen, dass gegen die BF ein zweijähriges Einreiseverbot erlassen werde (Spruchpunkt IV).

12. Die dagegen fristgerecht eingebrachten Beschwerden wurden mit Erkenntnis des BVwG vom 27.02.2018, Zl. I417 1438595 – 3/7E (ad. BF1), I417 1438597 – 3/7E (ad. BF2), I417 1438596 – 3/7E (ad. BF3), I417 2016667 – 2/7E (ad. BF4), mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, als die jeweiligen Spruchpunkte IV. (Einreiseverbot) behoben wurden.

13. Der minderjährige BF5 wurde am 27.04.2018 in Österreich nachgeboren. Für ihn wurde von seiner gesetzlichen Vertretung am 22.05.2018 im Familienverfahren iSd § 34 AsylG 2005 der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

14. Den gegen die Erkenntnisse des BVwG gerichteten Beschwerden wurde mit Erkenntnis des Verfassungsgerichthofes vom 09.10.2018 stattgegeben und die angefochtenen Erkenntnisse des BVwG vom 27.02.2018 aufgehoben.

15. Mit Erkenntnis des BVwG vom 28.02.2019, Zl. I405 1438595-3/30E (ad. BF1), I405 1438597-3/23E (ad. BF2), I405 1438596-3/22E (ad. BF3), I405 2016667-2/22E (ad. BF4) und I405 2201756-1/15E (ad. BF5) wurden die Beschwerden der BF erneut als unbegründet abgewiesen. Unter anderem erwuchs in weiterer Folge die Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot von zwei Jahren am 04.03.2019 in Rechtskraft.

16. Mit Formularvordruck "Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK - Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens" vom 19.06.2018 beantragten die BF die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß "§ 55 Abs. 1 AsylG".

17. Mit Bescheiden vom 02.05.2019 wies das BFA die Anträge der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK vom 19.06.2018 gemäß § 58 Abs. 10 AsylG 2005 zurück.

18. Die dagegen gerichteten Beschwerden wurden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.07.2019, Zl. I421 1438595-4/2E (ad. BF1), I421 1438597-4/2E (ad. BF2), I421 1438596-4/2E (ad. BF3), I421 2016667-3/2E (ad. BF4), I421 2201756-2/2E (ad. BF5), als unbegründet abgewiesen.

19. Am 23.08.2019 stellten die BF Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen gemäß § 56 Abs. 1 AsylG.

20. Mit rechtskräftigem Bescheid vom 05.12.2019 verhängte das BFA aufgrund des Antrages der BF vom 23.08.2019 über die BF1 eine Mutwillensstrafe, mit der Begründung, sie habe sich im Bewusstsein der Grund- und Aussichtslosigkeit ihres Anbringens an die belangte Behörde gewandt.

21. Mit Bescheiden vom 18.01.2020 wies das BFA die Anträge der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 Abs. 1 Asylgesetz 2005 vom 23.08.2019, Zl. 830349403 – 190868665 (ad. BF1), 830349501 – 190868711 (ad. BF2), 830349610 – 190868738 (ad. BF3), 1028950904 – 190868673 (ad. BF4), 1192254303-190868762 (ad. BF5), gemäß § 58 Abs. 10 AsylG 2005 zurück.

22. Die dagegen gerichteten Beschwerden wurden mit Erkenntnis des BVwG vom 27.02.2020, Zl. I406 1438595-5/3E (ad. BF1), I406 1438597-5/2E (ad. BF2), I406 1438596-5/2E (ad. BF3), I406 2016667-4/2E (ad. BF4), I406 2201756-3/2E (ad. BF5), als unbegründet abgewiesen.

23. Am 01.12.2020 wurde die BF1 einer niederschriftlichen Einvernahme unterzogen und dabei zu ihren privaten und familiären Verhältnissen befragt.

24. Mit angefochtenen Bescheiden vom 30.12.2020 wurde den BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Absatz 2 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF. wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 1 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF erlassen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 52 Absatz 9 FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 18 Absatz 2 Ziffer 1 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. Nr. 87/2012, (BFA-VG) idgF wurde einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.). Des Weiteren wurde gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt V.). Schließlich wurde gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 2 Ziffer 3 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, gegen die BF ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.).

25. Mit dem am 27.01.2021 beim BFA eingebrachten Schriftsatz erhoben die BF Beschwerde gegen die oben genannten Bescheide, worin inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für die BF günstigerer Bescheid erzielt worden wäre, geltend gemacht wurde. Begründend wurde zusammengefasst vorgebracht, dass die BF1 ihre Heimat vor langer Zeit verlassen habe und ab 2004 in Griechenland gelebt habe. Seit 2013 sei die BF1 mit ihren Kindern in Österreich. Die BF1 sei mit ihrem damaligen Mann nach Österreich gekommen. Der BF2 sei in Griechenland geboren und sei daher – wie die BF3, BF4 und BF5 – noch nie in seiner Heimat Nigeria gewesen. Für die Kinder sei Nigeria ein fremdes Land. Zwischenzeitlich sei die BF1 alleinerziehende Mutter mit 4 Kindern, die teilweise einen erhöhten Betreuungsbedarf aufweisen (BF2). Ihr sei es nicht möglich, in Nigeria eine Arbeit zu finden, da sie für ihre Kinder sorgen müsse. Es gebe in Nigeria keine Kinderbetreuung, weshalb die BF1 ihre Familie nicht ernähren könnte. Dies würde sie jedenfalls in eine existenzbedrohende Lage bringen. Die BF stellen daher die Anträge, das BVwG möge 1. eine mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumen; 2. Die angefochtenen Bescheide aufheben bzw. dahingehend abändern, dass die Rückkehrentscheidung und das Einreiseverbot aufgehoben, die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig erklärt werde und den BF einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK erteilten, 3. in eventu das Einreiseverbot verkürzen, 4. in eventu den angefochtenen Bescheid –im angefochtenen Umfang -ersatzlos beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückverweisen, 5. der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkennen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Die BF sind Staatsangehörige von Nigeria und somit Drittstaatsangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 10 FPG. Ihre Identität als nigerianische Staatsangehörige wurde am 22.10.2020 von der nigerianischen Botschaft bestätigt.

Die Identität der BF1 steht in Ermangelung entsprechender unzweifelhafter Dokumente mit Lichtbild nicht fest. Die Identitäten der in Griechenland geborenen BF2 und BF2 sowie der in Österreich geborenen BF4 und BF5 stehen fest.

Die BF1 ist Mutter der BF2 bis BF5, sie führen einen gemeinsamen Haushalt. Der Vater der BF2 bis BF5 und Ex-Ehemann der BF1 lebte mit diesen bis September 2019 im gemeinsamen Haushalt, von dem sich die BF1 am 05.09.2020 scheiden ließ. Gegen den Genannten liegen auch mehrere rechtskräftige Asyl- und Rückkehrentscheidungen vor.

Die BF2 reiste erstmals illegal mit den BF2 und BF3 am 18.03.2013 ins Bundesgebiet ein und stellte für sich und als gesetzliche Vertreterin für die BF2 und BF3 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zuvor stellte die BF1 am 28.04.2004 in Griechenland einen Asylantrag und war zuletzt im Besitz eines griechischen Aufenthaltstitels mit Gültigkeit bis 08.02.2009.

Am 24.07.2014 wurde die minderjährige BF4 in Österreich nachgeboren. Für sie wurde von ihrer gesetzlichen Vertretung am 22.08.2014 ein (erster) Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 11.10.2013, Bescheiden des BFA vom 03.12.2014 und Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18.09.2014 sowie vom 15.05.2015 wurde über die Anträge der BF1 bis BF4 auf internationalen Schutz negativ entschieden und eine Rückkehrentscheidung erlassen.

Am 23.03.2017 stellte die BF1 für sich sowie als gesetzliche Vertreterin für den BF2, die BF3 sowie die BF4 ihre zweiten Anträge auf internationalen Schutz, welche mit Bescheiden des BFA vom 06.07.2017 gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurden. Zugleich wurde den BF keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung und ein zweijähriges Einreiseverbot erlassen. Die dagegen eingebrachten Beschwerden wurden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.02.2018 mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, als die jeweiligen Spruchpunkte IV. (Einreiseverbot) behoben wurden.

Am 27.04.2018 wurde der minderjährige BF5 in Österreich nachgeboren. Seine gesetzliche Vertretung stellte für ihn einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des BFA vom 22.06.2018 negativ entschieden wurde. Gleichzeitig wurde eine Rückkehrentscheidung iVm mit einem zweijährigen Einreiseverbot verhängt.

Den gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.02.2018 gerichteten Beschwerden wurde mit Erkenntnis des Verfassungsgerichthofes vom 09.10.2018 stattgegeben und die angefochtenen Erkenntnisse aufgehoben.

Mit Erkenntnis des BVwG vom 28.02.2019 wurden die Beschwerden der BF1 bis BF5 erneut als unbegründet abgewiesen, diesmal unter Bestätigung des Einreiseverbotes.

Am 19.06.2018 beantragten die BF die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß „§ 55 Abs. 1 AsylG“, wobei ihre Anträge mit Bescheiden des BFA vom 02.05.2019 und in weiterer Folge mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 03.07.2019 gemäß § 58 Abs. 10 AsylG 2005 wegen entschiedener Sache als unzulässig zurückgewiesen wurden.

Am 23.08.2019 stellte die BF1 für sich und die BF2, BF3, BF4 und BF5 durch die BF1 als gesetzliche Vertretung Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen gemäß § 56 Abs. 1 AsylG.

Gegen die BF1 wurde mit rechtskräftigem Bescheid des BFA vom 05.12.2019 aufgrund der Stellung des Antrages vom 23.08.2019 eine Mutwillensstrafe in der Höhe von € 726,00 gemäß § 35 AVG verhängt, weil sie mutwillig die Tätigkeit einer Behörde in Anspruch genommen hat.

Mit Bescheiden vom 18.01.2020 wies das BFA die Anträge der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 Abs. 1 Asylgesetz 2005 vom 23.08.2019, Zl. 830349403 – 190868665 (ad. BF1), 830349501 – 190868711 (ad. BF2), 830349610 – 190868738 (ad. BF3), 1028950904 – 190868673 (ad. BF4), 1192254303-190868762 (ad. BF5), gemäß § 58 Abs. 10 AsylG 2005 zurück.

Die dagegen gerichteten Beschwerden wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 27.02.2020, Zl. I406 1438595-5/3E (ad. BF1), I406 1438597-5/2E (ad. BF2), I406 1438596-5/2E (ad. BF3), I406 2016667-4/2E (ad. BF4), I406 2201756-3/2E (ad. BF5), als unbegründet abgewiesen.

Trotz rechtskräftiger Rückkehrentscheidung kamen die BF ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nach, sondern halten sich weiterhin unrechtmäßig im Bundesgebiet auf.

Die BF haben über die im gegenständlichen Erkenntnis genannten Mitglieder der Kernfamilie hinausgehend keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich.

Die BF1 hat die ersten 25 Jahre ihres Lebens in Nigeria verbracht, wo sie über familiäre Anknüpfungspunkte (Tante und acht Geschwister) verfügt.

Die BF1 ist strafrechtlich unbescholten, die übrigen BF sind strafunmündig. Die BF leben von der Grundversorgung.

Die BF1 hat Deutschkenntnisse auf A2-Niveau und Freundschaften geschlossen. Der BF2 und die BF3 gehen weiterhin in die Schule, die BF4 und BF5 besuchen den Kindergarten.

Die BF leiden an keinen lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen. Der BF2 befand sich aufgrund seiner Entwicklungsverzögerung seit 30.07.2013 in gesonderter Betreuung (heilpädagogische Frühförderung, Musiktherapie und begleitete Kindergartenstunden). Seit September 2017 besucht er eine sonderpädagogische Schule. Eine medizinische (medikamentöse oder stationäre) Behandlung des BF2 wurde konnte nicht festgestellt werden.

Es konnten keine Umstände festgestellt werden, wonach die Abschiebung der BF gemäß § 50 FPG idgF in ihren Heimatstaat Nigeria unzulässig wäre. Die BF1 kann gemeinsam mit ihren Kindern, der BF2 bis BF5 und deren Vater nach Nigeria zurückkehren, sie werden dort in keine die Existenz bedrohende Lage geraten.

1.2. Zur Lage in Nigeria:

1.2.1. Sicherheitslage

Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt; sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und eskalierende Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA 16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz. Im „Middlebelt“ kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt jedoch latent konfliktanfällig. IPOB ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).

In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger, Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 16.4.2020).

Das deutsche Auswärtige Amt warnt vor Reisen auf dem Landweg in die nordöstlichen Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa. Von nicht erforderlichen Reisen in die übrigen Landesteile Nordnigerias, in die Bundesstaaten Sokoto, Katsina und Jigawa wird abgeraten. Von Reisen in die folgenden Bundesstaaten wird abgeraten, sofern diese nicht direkt auf dem Luftweg in die jeweiligen Hauptstädte führen: in Zentral-und Nord-Nigeria Kaduna, Zamfara, Kano und Taraba, in Südnigeria: Ogun, Ondo, Ekiti, Edo, Delta, Bayelsa, Rivers, Imo, Anambra, Enugu, Abia, Ebonyi und Akwa Ibom. Auch von Reisen in die vorgelagerten Küstengewässer, Golf von Guinea, Nigerdelta, Bucht von Benin und Bucht von Bonny, wird abgeraten (AA 16.4.2020).

In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 16.4.2020). Das britische Außenministerium warnt vor Reisen nach Borno, Yobe, Adamawa und Gombe, sowie vor Reisen in die am Fluss gelegenen Regionen der Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers, Akwa Ibom and Cross River im Nigerdelta, sowie Reisen nach Zamfara näher als 20km zur Grenze mit Niger. Abgeraten wird außerdem von allen nicht notwendigen Reisen in die Bundesstaaten Bauchi, Zamfara, Kano, Kaduna, Jigawa, Katsina, Kogi, Abia, im 20km Grenzstreifen zu Niger in den Bundesstaaten Sokoto und Kebbi, nicht am Fluss gelegene Gebiete von Delta, Bayelsa und Rivers, und Reisen im Bundesstaat Niger im Umkreis von 20km zur Grenze zu den Staaten Kaduna und Zamfara, westlich des Flusses Kaduna (UKFCO 15.4.2020). Gewaltverbrechen sind in bestimmten Gebieten Nigerias ein ernstes Problem, ebenso wie der Handel mit Drogen und Waffen (FH 1.2019).

In der Zeitspanne April 2019 bis April 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (2.712), Zamfara (685), Kaduna (589) und Katsina (392). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (3), Kano (7), Jigawa (7), Kwara (8), Enugu (8) und Ekiti (9) (CFR 2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        AA - Auswärtiges Amt (16.4.2020): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise

(Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_5, 16.4.2020

-        CFR - Council on Foreign Relations (2019): Nigeria Security Tracker, https://www.cfr.org/nigeria/nigeria-security-tracker/p29483, Zugriff 12.4.2019

-        EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_COI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 16.4.2020

-        FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2019, Nigeria, https://freedomhouse.org/country/nigeria/freedom-world/2019, Zugriff 17.4.2020

-        UKFCO - United Kingdom Foreign and Commonwealth Office (15.4.2020): Foreign Travel Advice – Nigeria, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria, Zugriff 16.4.2020

1.2.2. Frauen

Auch wenn die Verfassung Gleichberechtigung vorsieht (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.1.2020), kommt es zu beachtlicher ökonomischer Diskriminierung von Frauen (USDOS 11.3.2020). Frauen werden in der patriarchalischen und teilweise polygamen Gesellschaft Nigerias in vielen Rechts- und Lebensbereichen benachteiligt, v.a. dort, wo traditionelle Regeln gelten (AA 16.1.2020). So sind Frauen in vielen Landesteilen aufgrund von Gewohnheitsrecht von der Erbfolge nach ihrem Ehemann ausgeschlossen (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Vor allem im Osten des Landes müssen sie entwürdigende und die persönliche Freiheit einschränkende Witwenzeremonien über sich ergehen lassen. Z.B. werden sie gezwungen, sich den Kopf zu rasieren oder das Haus für einen bestimmten Zeitraum nicht zu verlassen oder sind rituellen Vergewaltigungen ausgesetzt. Darüber hinaus können Frauen im Norden zum Teil keiner beruflichen Betätigung nachgehen, weil sie die familiäre Wohnung ohne Begleitung eines männlichen Angehörigen nicht verlassen dürfen (AA 16.1.2020). Die geschlechtsspezifische Diskriminierung im Rechtssystem konnte allerdings reduziert werden (BS 2020; vgl. LHRL 9./10.2019).

Frauen ist es in Nigeria gesellschaftlich nicht zugedacht, Karriere zu machen. Männer gelten als Versorger der Familie (WRAPA 9./10.2019). Auf Bundesstaats- und Bezirksebene (LGA) spielen Frauen kaum eine Rolle. Jene mit Sekundär- und Tertiärbildung haben Zugang zu Arbeitsplätzen in staatlichen und öffentlichen Institutionen. Immer mehr Frauen finden auch Arbeit im expandierenden Privatsektor (z.B. Banken, Versicherungen, Medien). Einige Frauen besetzen prominente Posten in Regierung und Justiz, z.B. eine Richterin beim Obersten Gerichtshof und die Finanzministerin (BS 2020). Üblicherweise ist es für Frauen und alleinstehende Mütter möglich, Arbeit zu finden (WRAPA 9.10.2019; vgl. EMB A 9./10.2019; EMB B 9./10.2019). Die Art der Arbeit hängt von der Bildung ab (EMB A 9./10.2019). Demgegenüber steht eine hohe Arbeitslosigkeit und ein geringes Jobangebot (WRAPA 9./10.2019; vgl. EMB B).

Rechtlich ist keine Vorschrift vorhanden, die gleiche Bezahlung für Frauen und Männer für gleichwertige Tätigkeiten festschreibt. Es gibt auch kein Diskriminierungsverbot bei der Einstellung von Angestellten. Im formalen Sektor bleiben Frauen unterrepräsentiert, während sie in der informellen Wirtschaft eine bedeutende Rolle spielen (Landwirtschaft, Nahrungsmittel, Märkte, Handel) (USDOS 11.3.2020).

Das Gesetz Violence Against Persons Prohibition Act (VAPP) befasst sich mit sexueller, körperlicher, psychologischer und sozioökonomischer Gewalt sowie mit schädlichen traditionellen Praktiken. Laut dem VAPP stellen häusliche Gewalt, gewaltsames Hinauswerfen des Ehepartners aus der gemeinsamen Wohnung, erzwungene finanzielle Abhängigkeit, verletzende Witwenzeremonien, Genitalverstümmelung (FGM/C) usw. Straftatbestände dar. Opfer haben Anspruch auf umfassende medizinische, psychologische, soziale und rechtliche Unterstützung. Mit Stand September 2019 ist das Gesetz in neun Bundesstaaten ratifiziert worden. Es ist im Federal Capital Territory (FCT) und den Bundesstaaten Anambra, Benue, Ebonyi, Edo, Ekiti, Enugu, Kaduna und Oyo gültig, in anderen Bundesstaaten erst, sobald es dort verabschiedet wird (USDOS 11.3.2020). Bis dato [Stand: Oktober 2019] wurde noch kein Fall unter Anwendung des VAPP vor Gericht gebracht (WRAPA 9./10.2019).

Häusliche Gewalt ist weit verbreitet und wird sozial akzeptiert, die Polizei schreitet oft nicht ein. In ländlichen Gebieten zögern Polizei und Gerichte, in Fällen aktiv zu werden, in welchen die Gewalt das traditionell akzeptierte Ausmaß des jeweiligen Gebietes nicht übersteigt. Geschlechtsspezifische Gewalt ist in Nigeria auf nationaler Ebene nicht unter Strafe gestellt. Einige Bundesstaaten, hauptsächlich im Süden gelegene, haben Gesetze, die geschlechtsspezifische Gewalt verbieten oder versuchen bestimmte Rechte zu schützen. Für häusliche Gewalt sieht das VAPP eine Haftstrafe von maximal drei Jahren, eine Geldstrafe von höchstens 200.000 Naira oder eine Kombination von Haft- und Geldstrafe vor (USDOS 11.3.2020). Im Falle von häuslicher Gewalt kann sich das Opfer an die Polizei wenden, jedoch besteht das Risiko, dass die Betroffene wieder nach Hause geschickt wird (LHRL 9./10.2019; vgl. LNGO A 9./10.2019). Sollte sie hingegen verletzt sein, würde der Ehemann inhaftiert werden (LHRL 9./10.2019). Abuja verzeichnet die höchste Rate von häuslicher Gewalt, auch aus diesem Grund gibt es aber in Abuja viele von Frauen geführte Haushalte. Auch in anderen Städten wie Lagos oder Port Harcourt sind Frauen nun besser sensibilisiert und verlassen Beziehungen, in denen Missbrauch vorkommt. Sie können allerdings vermehrt Stalking, Gewalt oder gar Ermordung durch den Ex-Partner ausgesetzt sein. In ländlichen Gegenden ist die Sensibilisierung der Frauen weniger vorangeschritten und es ist für sie schwieriger, sich Gewalt in der Beziehung zu entziehen (WRAPA 9./10.2019).

Vergewaltigung steht unter Strafe. Gemäß dem VAPP beträgt das Strafmaß zwischen zwölf Jahren und lebenslänglicher Haft für Straftäter, die älter als 14 Jahre sind. Es sieht auch ein öffentliches Register von verurteilten Sexualstraftätern vor. Auf lokaler Ebene sorgen Schutzbeamte, die sich mit Gerichten koordinieren, dafür, dass die Opfer relevante Unterstützung bekommen. Das Gesetz enthält auch eine Bestimmung, welche Gerichte dazu ermächtigt, Vergewaltigungsopfern eine angemessene Entschädigung zuzusprechen. Da das VAPP bis dato aber nur in wenigen Bundesstaaten ratifiziert wurde, gelten in den meisten Vergewaltigungsfällen bundesstaatliche strafrechtliche Regelungen. Vergewaltigungen bleiben weit verbreitet. Aus einer Studie geht hervor, dass eines von vier Mädchen und einer von zehn Buben vor dem 18. Geburtstag sexueller Gewalt ausgesetzt war (USDOS 11.3.2020).

Das Bundesgesetz kriminalisiert seit 2015 Genitalverstümmlung (FGM/C) auf nationaler Ebene (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; GIZ 3.2020b), dieses Gesetz ist aber bisher nur in einzelnen Bundesstaaten umgesetzt worden (AA 16.1.2020), nach anderen Angaben gilt es bis dato nur im FCT. 13 andere Bundesstaaten haben ähnliche Gesetze verabschiedet (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 11.2018b). Die Regierung unternahm im Jahr 2019 keine Anstrengungen, FGM/C zu unterbinden (USDOS 11.3.2020). Andererseits wird mit unterschiedlichen Aufklärungskampagnen versucht, einen Bewusstseinswandel einzuleiten. Bei der Verbreitung gibt es erhebliche regionale Unterschiede. In einigen – meist ländlichen – Regionen im Südwesten und in der Region Süd-Süd ist die Praxis weit verbreitet, im Norden eher weniger (AA 16.1.2020). Die Verbreitung von FGM ist jedenfalls zurückgegangen (NHRC 9./10.2019; vgl. LHRL 9./10.2019; WRAPA 9./10.2019). Während im Jahr 2013 der Anteil beschnittener Mädchen und Frauen noch bei 24,8 Prozent lag, waren es 2017 nur noch 18,4 Prozent (EASO 11.2018b).

Für Opfer von FGM/C bzw. für Frauen und Mädchen, die von FGM/C bedroht sind, gibt es Schutz und/oder Unterstützung durch staatliche Stellen und NGOs, wiewohl davon auszugehen ist, dass es schwierig ist, staatlichen Schutz außerhalb des FCT zu erhalten. Die Verfassung und Gesetze sehen interne Bewegungsfreiheit für alle vor, unabhängig von Alter oder Geschlecht. Die Bewegungsfreiheit der Frauen und Kindern aus muslimischen Gemeinden in den nördlichen Regionen ist jedoch stärker eingeschränkt (UKHO 8.2019). Je gebildeter die Eltern, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie ihre Kinder beschneiden lassen. Wenn der Vater die Mutter bei ihrer Weigerung, das gemeinsame Kind beschneiden zu lassen, unterstützt, dann können die Eltern dies auch verhindern. Allerdings gab es v.a. in der Vergangenheit Einzelfälle, wo Großeltern ein Kind beschneiden ließen (NHRC 9./10.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020

-        EASO - European Asylum Support Office (11.2018b): Country of Origin Information Report - Nigeria - Targeting of individuals, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001375/2018_EASO_COI_Nigeria_TargetingIndividuals.pdf, Zugriff 11.4.2019, S129ff

-        EASO - European Asylum Support Office (2.2019): Country Guidance: Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2004112/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf, Zugriff 20.4.2020

-        EMB A - westliche Botschaft A (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)

-        EMB B - westliche Botschaft B (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020b): Nigeria - Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 20.4.2020

-        Iroko - Assoziazione onlus (21.3.2018): Oba of Benin (Edo State) revokes curses on victims of trafficking, http://www.associazioneiroko.org/slide-en/oba-of-benin-edo-state-revokes-curses-on-victims-of-trafficking/, Zugriff 20.4.2020

-        LHRL - Lokaler Menschenrechtsanwalt (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)

-        LNGO A - Repräsentantin der lokalen NGO A (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)

-        NHRC - National Human Rights Commission (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)

-        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria

-        UKHO - United Kingdom Home Office (12.2013): Operational Guidance Note - Nigeria, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1387367781_nigeria-ogn.pdf, Zugriff 21.4.2020

-        UKHO - United Kingdom Home Office (8.2019): Country Information and Guidance Nigeria: Nigeria:Female Genital Mutilation (FGM), https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/825243/Nigeria_-_FGM_-_CPIN_-_v2.0__August_2019_.pdf, Zugriff 21.4.2020

-        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html, Zugriff 20.4.2020

-        Vanguard (10.3.2019): “Our gods will destroy you”; Oba of Benin curse human traffickers, https://www.vanguardngr.com/2018/03/gods-will-destroy-oba-benin-curse-human-traffickers/, Zugriff 20.4.2020

-        WRAPA - Anisa Ari, Snr. Program Coordinator; Umma Rimi, Programme Officer, NGO Women’s Rights Advancement and Protection Alternative (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)  

1.2.3. Kinder

Die Rechte des Kindes werden in Nigeria nur unzureichend gewährleistet. Der Child Rights Act, mit dem die UN-Kinderrechtskonvention in nationales Recht umgesetzt werden soll, wurde bislang lediglich von 24 (AA 16.1.2020), nach anderen Angaben von 25 der 36 Bundesstaaten ratifiziert (USDOS 11.3.2020). Insbesondere die nördlichen Bundesstaaten sehen in einigen Bestimmungen (Rechte des Kindes gegenüber den eigenen Eltern, Mindestalter für Eheschließungen) einen Verstoß gegen die Scharia (AA 16.1.2020).

Der Child Rights Act sieht bei einer Eheschließung ein Mindestalter von 18 Jahren vor. Vor allem die nördlichen Bundesstaaten halten sich nicht an das offizielle Mindestalter auf Bundesebene (USDOS 11.3.2020). Kinderehen, in denen Mädchen in jungen Jahren mit zumeist älteren Männern verheiratet werden, sind folglich vor allem im Norden des Landes verbreitet. Insgesamt heiraten schätzungsweise 43 Prozent der Mädchen unter 18 Jahren und 17 Prozent unter 15 Jahren (AA 16.1.2020). Im Fall einer Kinderehe ist kein staatlicher Schutz verfügbar, nicht einmal im Süden, wo die Fallzahlen niedriger sind (INGO 9./10.2019).

Mit traditionellen Glaubensvorstellungen verbundene Rituale und der in Bevölkerungsteilen verbreitete Glaube an Kinderhexen, führen zu teils schwersten Menschenrechtsverletzungen (Ausgrenzung, Aussetzung, Mord) an Kindern, insbesondere an Kindern mit Behinderungen (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Entsprechende Fälle werden überwiegend aus der südlichen Hälfte Nigerias berichtet, besonders gehäuft aus dem Südosten und den Bundesstaaten Akwa Ibom und Edo (AA 16.1.2020).

Gesetzlich sind die meisten Formen der Zwangsarbeit verboten, auch die von Kindern, und es sindausreichend harte Strafen vorgesehen. Die Durchsetzung der Gesetze bleibt jedoch in weiten Teilen des Landes ineffektiv. Daher ist Zwangsarbeit –u.a. bei Kindern –weit verbreitet. Frauen und Mädchen müssen als Hausangestellte, Buben als Straßenverkäufer, Diener, Minenarbeiter, Steinbrecher, Bettler oder in der Landwirtschaft arbeiten (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

-        AA -Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl-und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        INGO E -Repräsentantin der internationalen NGO E (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation)

-        UNICEF -United Nations International Children’s Emergency Fund (o.D.): The situation, https://www.unicef.org/nigeria/protection.html

-        USDOS -U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices

1.2.4. Grundversorgung

Die nigerianische Wirtschaft hat sich 2017 allmählich aus der schlimmsten Rezession seit 25 Jahren erholt, das BIP ist um 0,55 Prozent gestiegen. Mehrere Faktoren haben dazu beigetragen, dass sich die nigerianische Wirtschaft seit Ende 2017 allmählich wieder erholt, unter anderem eine Steigerung der Erdölförderleistung, die Erholung des Erdölpreises und eine verbesserte Leistung von Landwirtschaft und Dienstleistungssektor (GIZ 3.2020c). 2018 wurde ein Wachstum von 1,9 Prozent erreicht (AA 24.5.2019c).

Etwa 80 Prozent der Gesamteinnahmen Nigerias stammen aus der Öl- und Gasförderung (AA 16.1.2019). Neben Erdöl verfügt das Land über z.B. Zinn, Eisen-, Blei- und Zinkerz, Kohle, Kalk, Gesteine, Phosphat – gesamtwirtschaftlich jedoch von geringer Bedeutung (GIZ 3.2020c). Von Bedeutung sind hingegen der (informelle) Handel und die Landwirtschaft, welche dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten (AA 16.1.2020). Der Industriesektor (Stahl, Zement, Düngemittel) machte 2016 ca. 20 Prozent des BIP aus. Neben der Verarbeitung von Erdölprodukten werden Nahrungs- und Genussmittel, Farben, Reinigungsmittel, Textilien, Brennstoffe, Metalle und Baumaterial produziert. Industrielle Entwicklung wird durch die unzureichende Infrastruktur (Energie und Transport) behindert (GIZ 3.2020c). Vor allem im Bereich Stromversorgung und Transport ist die Infrastruktur weiterhin mangelhaft und gilt als ein Haupthindernis für die wirtschaftliche Entwicklung (AA 24.5.2019c).

Über 60 Prozent (AA 24.5.2019c) bzw. nach anderen Angaben über 70 Prozent (GIZ 3.2020c) der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Agrarsektor wird durch die Regierung Buhari stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen (GIZ 3.2020c; vgl. AA 24.5.2019c). Die unterentwickelte Landwirtschaft ist jedoch nicht in der Lage, den inländischen Nahrungsmittelbedarf zu decken (AA 24.5.2019c). Das Land ist nicht autark, sondern auf Importe – v.a. von Reis – angewiesen (ÖB 10.2019). Über 95 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion kommt von kleinen Anbauflächen – in der Regel in Subsistenzwirtschaft (AA 24.5.2019c). Historisch war Lebensmittelknappheit in fast ganz Nigeria aufgrund des günstigen Klimas und der hohen agrarischen Tätigkeit so gut wie nicht existent. In einzelnen Gebieten im äußersten Norden (Grenzraum zu Niger) gestaltet sich die Landwirtschaft durch die fortschreitende Desertifikation allerdings schwierig. Experten schließen aufgrund der Wetterbedingungen, aber auch wegen der Vertreibungen als Folge der Attacken durch Boko Haram Hungerperioden für die nördlichen, insbesondere die nordöstlichen Bundesstaaten nicht aus. In Ernährungszentren nahe der nördlichen Grenze werden bis zu 25 Prozent der unter fünfjährigen Kinder wegen starker Unterernährung behandelt. Aufgrund fehlender Transportmöglichkeiten verrotten bis zu 40 Prozent der Ernten (ÖB 10.2019).

Die Prozentsätze der Unterernährung haben sich in den nördlichen Staaten im Vergleich zu 2015 verbessert und liegen nun unter der Alarmschwelle von 10 Prozent. Gemäß Schätzungen von UNICEF unterliegen zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria einem hohen Risiko von schwerer akuter Unterernährung (ÖB 10.2019).

Die Einkommen sind in Nigeria höchst ungleich verteilt (BS 2020; vgl. GIZ 3.2020b). Über 80 Prozent der ca. 190 Millionen Nigerianer leben unterhalb der Armutsgrenze - Tendenz steigend (GIZ 3.2020c). 48 Prozent der Bevölkerung Nigerias bzw. 94 Millionen Menschen leben in extremer Armut mit einem Durchschnittseinkommen von unter 1,90 US-Dollar pro Tag (ÖB 10.2019). Die Armut ist in den ländlichen Gebieten größer als in den städtischen Ballungsgebieten (GIZ 3.2020b). Mietkosten, Zugang zu medizinischer Versorgung, Lebensmittelpreise variieren ebenfalls nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat, sondern auch regional/ethnisch innerhalb jedes Teilstaates (ÖB 10.2019).

Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei den Jugendlichen im Alter von 15 bis 35 wird sie auf über 50 Prozent geschätzt (GIZ 3.2020b). Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent – in erster Linie unter 30-jährige – mit großen regionalen Unterschieden. Die Chancen, einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, staatsnahen Betrieben oder Banken zu finden, sind gering, außer man verfügt über eine europäische Ausbildung und vor allem über Beziehungen (ÖB 10.2019). Verschiedene Programme auf Ebene der Bundesstaaten aber auch der Zentralregierung zielen auf die Steigerung der Jugendbeschäftigung ab (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020).

Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als "self-employed" suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an (GIZ 3.2020b).

Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige (ÖB 10.2019). Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BS 2020). Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).

Nur Angestellte des öffentlichen Dienstes, des höheren Bildungswesens sowie von staatlichen, teilstaatlichen oder großen internationalen Firmen genießen ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Eine immer noch geringe Anzahl von Nigerianern (acht Millionen) ist im Pensionssystem (Contributory Pension Scheme) registriert (BS 2020).

Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und Nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (GIZ 3.2020c).

Die täglichen Lebenshaltungskosten differieren regional zu stark, um Durchschnittswerte zu berichten. Verdienstmöglichkeiten für Rückkehrerinnen: Eine der Berufsmöglichkeiten für Rückkehrerinnen ist die Eröffnung einer mobilen Küche für „peppersoup“, „garri“ oder „pounded yam“, für die man lediglich einen großen Kochtopf und einige Suppenschüsseln benötigt. Die Grundausstattung für eine mobile Küche ist für einen relativ geringen Betrag erhältlich. Hauptsächlich im Norden ist auch der Verkauf von bestimmten Holzstäbchen zur Zahnhygiene eine Möglichkeit, genügend Einkommen zu erlangen. In den Außenbezirken der größeren Städte und im ländlichen Bereich bietet auch „mini-farming“ eine Möglichkeit, selbständig erwerbstätig zu sein. Schneckenfarmen sind auf 10 m² Grund einfach zu führen und erfordern lediglich entweder das Sammeln der in Nigeria als „bushmeat“ gehandelten Wildschnecken zur Zucht oder den Ankauf einiger Tiere. Ebenso werden nun „grasscutter“ (Bisamratten-ähnliche Kleintiere) gewerbsmäßig in Kleinkäfigen als „bushmeat“ gezüchtet. Großfarmen bieten Tagesseminare zur Aufzucht dieser anspruchslosen und sich rasch vermehrenden Tiere samt Verkauf von Zuchtpaaren an. Rascher Gewinn und gesicherte Abnahme des gezüchteten Nachwuchses sind gegeben. Schnecken und „grasscutter“ finden sich auf jeder Speisekarte einheimischer Lokale. Für handwerklich geschickte Frauen bietet auch das Einflechten von Kunsthaarteilen auf öffentlichen Märkten eine selbständige Erwerbsmöglichkeit. Für den Verkauf von Wertkarten erhält eine Verkäuferin wiederum pro 1.000 Naira Wert eine Provision von 50 Naira. Weiters werden im ländlichen Bereich Mobiltelefone für Gespräche verliehen; pro Gespräch werden 10 Prozent des Gesprächspreises als Gebühr berechnet (ÖB 10.2019).

Im Jahr 2019 benötigten von der Gesamtbevölkerung von 13,4 Millionen Menschen, die in den Staaten Borno, Adamawa und Yobe leben, schätzungsweise 7,1 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Von den auf Hilfe Angewiesenen (7,1 Millionen) sind schätzungsweise 80 Prozent Frauen und Kinder (IOM 17.3.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019c): Nigeria - Wirtschaft, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/wirtschaft/205790, Zugriff 16.4.2020

-        BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020c): Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/nigeria/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 16.4.2020

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020b): Nigeria, Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 15.4.2020

-        IOM Nigeria - International Organization for Migration (17.3.2020): Emergency Response, 2019 Annual Reports, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/2019_annual_report_-_iom_nigeria_emergency_responsefinal.pdf, Zugriff 15.4.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

1.2.5. Medizinische Versorgung

Insgesamt kann die Gesundheitsversorgung in Nigeria als mangelhaft bezeichnet werden. Zwischen Arm und Reich sowie zwischen Nord und Süd besteht ein erhebliches Gefälle: Auf dem Land sind die Verhältnisse schlechter als in der Stadt (GIZ 3.2020b); und im Norden des Landes ist die Gesundheitsversorgung besonders prekär (GIZ 3.2020b; vgl. ÖB 10.2019). Die medizinische Versorgung ist vor allem im ländlichen Bereich vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch problematisch (AA 2.4.2020).

Es gibt sowohl staatliche als auch zahlreiche privat betriebene Krankenhäuser (AA 16.1.2020). Rückkehrer finden in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor, die im öffentlichen Gesundheitssektor allerdings in der Regel unter europäischem Standard liegt. Der private Sektor bietet hingegen in einigen Krankenhäusern der Maximalversorgung (z.B. in Abuja, Ibadan, Lagos) westlichen Medizinstandard. Nahezu alle, auch komplexe Erkrankungen, können hier kostenpflichtig behandelt werden (AA 16.1.2020; vgl. AA 2.4.2020; ÖB 10.2019). In größeren Städten ist ein Großteil der staatlichen Krankenhäuser mit Röntgengeräten ausgestattet, in ländlichen Gebieten verfügen nur einige wenige Krankenhäuser über moderne Ausstattung (ÖB 10.2019).

In den letzten Jahren hat sich die medizinische Versorgung in den Haupt- und größeren Städten allerdings sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor deutlich verbessert. So ist mittlerweile insbesondere für Privatzahler eine gute medizinische Versorgung für viele Krankheiten und Notfälle erhältlich. Es sind zunehmend Privatpraxen und -kliniken entstanden, die um zahlungskräftige Kunden konkurrieren. Die Ärzte haben oft langjährige Ausbildungen in Europa und Amerika absolviert und den medizinischen Standard angehoben. In privaten Kliniken können die meisten Krankheiten behandelt werden (AA 16.1.2020).

Die Gesundheitsdaten Nigerias gehören zu den schlechtesten in Afrika südlich der Sahara und der Welt (ÖB 10.2019). Mit 29 Todesfällen pro 1.000 Neugeborenen hat Nigeria weltweit die elfthöchste Todesrate bei Neugeborenen (GIZ 3.2020b). Die aktuelle Sterberate für Kinder unter fünf Jahren beträgt 100,2 Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten (ÖB 10.2019).

Es existiert kein mit westlichen Standards vergleichbares Psychiatriewesen, sondern allenfalls Verwahreinrichtungen auf sehr niedrigem Niveau. Dort werden Menschen mit psychischen Erkrankungen oft gegen ihren Willen untergebracht, können aber nicht adäquat behandelt werden (AA 16.1.2020). Stigmatisierung und Missverständnisse über psychische Gesundheit, einschließlich der falschen Wahrnehmung, dass psychische Erkrankungen von bösen Geistern oder übernatürlichen Kräften verursacht werden, veranlassen die Menschen dazu, religiöse oder traditionelle Heiler zu konsultieren; eine Rolle spielt hier auch der Mangel an qualitativ hochwertiger psychiatrischer Versorgung und die unerschwinglichen Kosten (HRW 11.11.2019).

Insgesamt gibt es für die inzwischen annähernd 200 Millionen Einwohner 100 Hospitäler mit psychiatrischer Abteilung (VAÖB 23.1.2019). Das in Lagos befindliche Federal Neuro Psychiatric Hospital Yaba bietet sich als erste Anlaufstelle für die Behandlung psychisch kranker Rückkehrer an. Die Kosten für einen Empfang durch ein medizinisches Team direkt am Flughafen belaufen sich auf ca. 195.000 Naira (ca. 570 Euro). Die Behandlungskosten sind jedoch je nach Schwere der Krankheit unterschiedlich. Zudem ist an diesem Krankenhaus auch die stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen mit entsprechender Medikation möglich (AA 16.1.2020).

Nigeria verfügt derzeit über weniger als 150 Psychiater (AJ 2.10.2019), nach anderen Angaben sind es derzeit 130 für 200 Millionen Einwohner (Österreich 2011: 20 Psychiater/100.000 Einwohner). Bei Psychologen ist die Lage noch drastischer, hier kamen im Jahr 2014 auf 100.000 Einwohner 0,02 Psychologen (Österreich 2011: 80 Psychologen/100.000 Einwohner). Aufgrund dieser personellen Situation ist eine regelrechte psychologische/psychiatrische Versorgung für die große Mehrheit nicht möglich, neben einer basalen Medikation werden die stationären Fälle in öffentlichen Einrichtungen im Wesentlichen „aufbewahrt“. Die Auswahl an Psychopharmaka ist aufgrund der mangelnden Nachfrage sehr begrenzt (VAÖB 23.1.2019). Die WHO schätzt, dass weniger als 10 Prozent der Nigerianer jene psychiatrische Behandlung bekommen, die sie brauchen (AJ 2.10.2019; vgl. HRW 11.11.2019).

Es gibt eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt. Die meisten Nigerianer arbeiten jedoch als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner im informellen Sektor. Leistungen der Krankenversicherung kommen schätzungsweise nur zehn Prozent der Bevölkerung zugute (AA 16.1.2020). Nur weniger als sieben Millionen der 180 Millionen Einwohner Nigerias sind beim National Health Insurance Scheme leistungsberechtigt (Punch 22.12.2017). Eine Minderheit der erwerbstätigen Bevölkerung ist über das jeweils beschäftigende Unternehmen mittels einer Krankenversicherung abgesichert, die jedoch nicht alle Krankheitsrisiken abdeckt (VAÖB 27.3.2019).

Wer kein Geld hat, bekommt keine medizinische Behandlung (GIZ 3.2020b). Selbst in staatlichen Krankenhäusern muss für Behandlungen bezahlt werden (AA 16.1.2020). Die Kosten medizinischer Betreuung müssen im Regelfall selbst getragen werden. Die staatlichen Gesundheitszentren heben eine Registrierungsgebühr von umgerechnet 10 bis 25 Cent ein: Tests und Medikamente werden unentgeltlich abgegeben, sofern vorhanden (ÖB 10.2019). Eine basale Versorgung wird über die Ambulanzen der staatlichen Krankenhäuser aufrechterhalten, jedoch ist auch dies nicht völlig kostenlos, in jedem Fall sind Kosten für Medikamente und Heil- und Hilfsmittel von den Patienten zu tragen, von wenigen Ausnahmen abgesehen (VAÖB 27.3.2019). Religiöse Wohltätigkeitseinrichtungen und NGOs bieten kostenfrei medizinische Versorgung (ÖB 10.2019).

Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Jeder Patient - auch im Krankenhaus - muss Medikamente selbst besorgen bzw. dafür selbst aufkommen. In der Regel gibt es fast alle geläufigen Medikamente in Nigeria in Apotheken zu kaufen, so auch die Antiphlogistika und Schmerzmittel Ibuprofen und Diclofenac sowie die meisten Antibiotika, Bluthochdruckmedikamente und Medikamente zur Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Leiden (AA 16.1.2020). Medikamente gegen einige weit verbreitete Infektionskrankheiten wie Malaria und HIV/AIDS können teilweise kostenlos in Anspruch genommen werden, werden jedoch nicht landesweit flächendeckend ausgegeben. Schutzimpfaktionen werden von internationalen Organisationen finanziert, stoßen aber auf religiös und kulturell bedingten Widerstand, überwiegend im muslimischen Norden (ÖB 10.2019).

Die Qualität der Produkte auf dem freien Markt ist jedoch zweifelhaft, da viele gefälschte Produkte – meist aus asiatischer Produktion – vertrieben werden (bis zu 25% aller verkauften Medikamente). Diese wirken aufgrund unzureichender Dosisanteile der Wirkstoffe nur eingeschränkt. Es gibt zudem wenig zuverlässige Kontrollen hinsichtlich der Qualität der auf dem Markt erhältlichen Produkte (AA 16.1.2020). Gegen den grassierenden Schwarzmarkt mit Medikamenten gehen staatliche Stellen kaum vor (ÖB 10.2019).

Der Glaube an die Heilkräfte der traditionellen Medizin ist nach wie vor sehr lebendig. Bei bestimmten Krankheiten werden eher traditionelle Heiler als Schulmediziner konsultiert (GIZ 3.2020b). Gerade im ländlichen Bereich werden „herbalists“ und traditionelle Heiler aufgesucht (ÖB 10.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (2.4.2020): Nigeria - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_5, Zugriff 16.4.2020

-        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

-        AJ - Al Jazeera (2.10.2019): Nigeria has a mental health problem, https://www.aljazeera.com/ajimpact/nigeria-mental-health-problem-191002210913630.html, Zugriff 16.4.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020b): Nigeria, Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 15.4.2020

-        HRW - Human Rights Watch (11.11.2019). Nigeria: People With Mental Health Conditions Chained, Abused, https://www.hrw.org/news/2019/11/11/nigeria-people-mental-health-conditions-chained-abused, Zugriff 16.4.2020

-        Punch (22.12.2017): NHIS: Health insurance still elusive for many Nigerians, https://punchng.com/nhis-health-insurance-still-elusive-for-many-nigerians/, Zugriff 16.4.2020

-        VAÖB - Vertrauensarzt der ÖB Abuja (23.1.2019): medizinische Stellungnahme

-        VAÖB - Vertrauensarzt der ÖB Abuja (27.3.2019): medizinische Stellungnahme

1.2.6. Zur aktuellen Pandemie aufgrund des Corona-Virus:

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet (https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/q-a-coronaviruses).

Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei etwa 80% der Betroffenen leicht bzw. symptomlos und bei ca. 20% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Sehr schwere oder tödliche Krankheitsverläufe treten am häufigsten bei Risikogruppen auf, zum Beispie

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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