Entscheidungsdatum
16.02.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W192 1418380-3/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.12.2020, Zl. 506470207/200930329, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG iVm. § 68 AVG als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Verfahren über den ersten Antrag auf internationalen Schutz:
1.1. Der Beschwerdeführer reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 28.09.2009 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag im Wesentlichen damit, dass er durch Angehörige der Hezb-e Islami m Leben bedroht sei.
1.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.03.2011 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF., abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt (Spruchpunkt II.). Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wurde dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.). Begründend kam die Behörde im Wesentlichen zu dem Schluss, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers unglaubwürdig sei und sich aus dem sonstigen Ergebnis der Beweisaufnahme kein Hinweis auf das Vorliegen eines asylrelevanten Sachverhalts ergeben hätte. Aufgrund der gegenwärtigen Lage in Afghanistan sei dem Beschwerdeführer als einem unbegleiteten Minderjährigen jedoch subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen.
1.3. Mit Erkenntnis des BVwG vom 23.09.2014 wurde die gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheids erhobene Beschwerde nach Durchführung einer öffentlichen Verhandlung als unbegründet abgewiesen.
Das BVwG hat seiner Entscheidung die folgenden Feststellungen zu Grunde gelegt:
„Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Pashtunen an und ist sunnitischen Bekenntnisses. Er stammt aus einem Dorf in der Provinz Laghman, wo sich die Familie des Beschwerdeführers aktuell auch aufhält.
Der Beschwerdeführer reiste illegal nach Österreich, wo er am 28.09.2009 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der Reiseweg des Beschwerdeführers kann nicht festgestellt werden.
Der Beschwerdeführer konnte keine asylrelevanten Gründe für das Verlassen seines Heimatstaates glaubhaft machen, solche werden nicht festgestellt. Es konnte vom Beschwerdeführer auch nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.“
Das Erkenntnis des BVwG erwuchs am 26.09.2014 in Rechtskraft.
1.4. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde in der Folge mehrmals verlängert, zuletzt mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 25.02.2016 bis zum 03.03.2018.
Mit Bescheid des BFA vom 17.05.2018 wurde unter Spruchpunkt I. der mit Bescheid vom 03.03.2011 der zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt, unter Spruchpunkt II. die mit Bescheid vom 25.02.2016 erteilte Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen, unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt IV. eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt V. festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, unter Spruchpunkt VI. die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt, sowie unter Spruchpunkt VII. ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
In der Begründung des Bescheides wurde der bisherige Verfahrensgang kurz wiedergegeben, sowie Feststellungen zu Afghanistan getroffen und insbesondere festgehalten, dass der Bescheidadressat rechtskräftig wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt worden sei. Aus diesem Grunde wurde unter Spruchteil I. im Sinne des § 9 Absatz 1 Z 1 Asylgesetz der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt und folglich gemäß § 9 Absatz 4 Asylgesetz die befristete Aufenthaltsberechtigung entzogen (Spruchteil II.), mangels Voraussetzungen des § 57 Asylgesetz wurde ein diesbezüglicher Aufenthaltstitel nicht erteilt (Spruchteil III.). Unter Spruchpunkt IV. wurde darauf hingewiesen, dass kein Familienleben in Österreich feststellbar sei und auch keine sonstigen privaten Bindungen in Österreich. Es könne jedoch ein grundsätzlicher Wille zur Integration festgestellt werden, zumal der Antragsteller Deutsch auf Niveau B1 spreche, gearbeitet habe und ehrenamtlicher Fußballtrainer sei, es sei jedoch auch eine Rückkehrentscheidung in Fällen von einer zehnjährigen oder längeren Aufenthaltsdauer grundsätzlich, insbesondere bei strafgerichtlichen Verurteilungen, zulässig. Weiters seien keine Umstände amtsbekannt, dass in Afghanistan landesweit eine derart extreme Gefährdungslage bestünde, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehre, einer Gefährdung im Sinne des Artikel 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre. Der Antragsteller habe als damaligen Fluchtgrund die Hezb-e Islami angegeben. Diese habe jedoch, wie aus den Länderfeststellungen zu entnehmen sei, in der Zwischenzeit Frieden mit der Regierung geschlossen. Auch nach UNHCR und dem Verwaltungsgerichtshof sei eine Rückkehr von alleinstehenden Männern nach Kabul ohne weiteres zu vertreten und möglich. Außerdem verfüge der Beschwerdeführer über eine in Afghanistan lebende Familie und sei daher in einer Zusammenschau davon auszugehen, dass er weiterhin in der Lage sein werde, sich im Herkunftsstaat zu versorgen.
1.5. Die dagegen erhobene Beschwerde hat das BVwG mit Erkenntnis vom 17.12.2018 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.10.2018 als unbegründet abgewiesen, wobei es folgende Feststellungen bzw. Beurteilungen traf:
„Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist Moslem/Sunnit. Er wurde 1994 im Distrikt L1 in der Provinz Laghman geboren, wo er auch bis zur Ausreise lebte. Er hat in Afghanistan keine Schulbildung erfahren und auch war auch nicht regelmäßig berufstätig. In seinem Asylverfahren konnten keine glaubwürdigen Fluchtgründe festgestellt werden. Er gelangte am 28.09.2009 nach Österreich und stellte sogleich einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Wien, vom 03.03.2011 wurde der Antrag auf internationalen Schutz abgewiesen, jedoch der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 03.03.2012 erteilt. Die Erteilung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde einerseits mit der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers, andererseits mit der (damaligen) allgemeinen Situation in Afghanistan begründet. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23.09.2014 wurde die gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides erhobene Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich mehrere Deutschkurse bis zum Niveau B1 absolviert und ein Sprachdiplom im Niveau A2 erworben, weiters auch den Vorbereitungskurs für den Pflichtschulabschluss, er von 2011 bis 2017 immer in der Gastronomie gearbeitet, zum Beispiel in einer Pizzeria, Café N1 im L2, sowie zuletzt bei der Firma N2 und war selbsterhaltungsfähig. Er hat auch seine Familienangehörigen unterstützt. Diese haben 2012 Afghanistan verlassen und sind nunmehr in Pakistan aufhältig, wo der Beschwerdeführer sie 2014 besuchte. Der Beschwerdeführer verfügt nach seinen eigenen Angaben über keine Familienangehörigen, Verwandte oder Freunde mehr in Afghanistan. Weiters war er ehrenamtlich als Fußballtrainer tätig, ist jedoch nicht Mitglied bei Vereinen. Er führt kein Familienleben in Österreich, war auch niemals in einer Lebensgemeinschaft, hat keine Kinder.
Mit Urteil des [zuständigen] Landesgerichtes … vom 08.02.2017 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der (versuchten) Vergewaltigung nach §§ 15, 201 Absatz 1 StGB zu einer (unbedingten) Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt, dieses Urteil wurde im Rechtsmittelweg bestätigt, ebenso die Ablehnung der Wiederaufnahme des Verfahrens.
Der Beschwerdeführer glaubt nach wie vor, unschuldig zu sein, und er selbst findet sich jedoch keineswegs als psychisch krank, es wurde aber eine Verdachtsdiagnose einer wahnhaften Denkstörung gestellt. Der Beschwerdeführer wird auch in der Haft nicht psychiatrisch oder psychotherapeutisch behandelt und liegen auch keine weiteren Befunde hinsichtlich psychischer oder geistiger Störungen des Beschwerdeführers vor.
…
Auch die – zwischenzeitlich verschlechterte – Sicherheitslage in Kabul hat noch nicht ein Ausmaß erreicht, dass von einer allgemein unzumutbaren Sicherheitssituation für jegliche Person allein aufgrund ihrer Anwesenheit ausgegangen werden kann. Soweit man geneigt ist, den jüngsten UNHCR-Guidelines eine solche Situation zu entnehmen, ist festzuhalten, dass EASO aus dem gleichen Sachverhalt andere Schlüsse zieht und im Übrigen beide Einschätzungen nicht bindende Wertungen darstellen (siehe BVwG vom 14.09.2018, W137 2133840-1/12E).
Erst kürzlich hat der Verwaltungsgerichtshof bestätigt, dass bei gesunden erwerbsfähigen Männern in Kabul eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative vorliegt (VwGH vom 24.10.2018, Ra 2018/14/0107-4 und noch jünger VwGH vom 06.11.2018, Ra 2018/01/0106 und VwGH vom 15.11.2018, Ra 2018/19/0541).
Der Beschwerdeführer hat wohl in Afghanistan keine Berufsausbildung genossen, war aber bereits in frühen Jahren in der Landwirtschaft tätig, in Österreich hat der Beschwerdeführer zumindest eine Basisbildung nachgeholt und war jahrelang im Gastgewerbe unselbständig erwerbstätig. Weiters ist er im Wesentlichen gesund und ist jedenfalls arbeitsfähig, sodass Kabul zum Entscheidungszeitpunkt als taugliche inländische Fluchtalternative im Sinne der obigen Judikatur sich darstellt, mag beim Beschwerdeführer auch der Umstand, dass er in dieser Stadt niemals gelebt hat und auch dorthin keine Bezugspunkte hat, dagegensprechen. Letztlich sind jedoch im Sinne der oben ausführlich dargestellten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (auch aus jüngster Zeit) bei dem Beschwerdeführer die für eine Annahme dieser inländischen Fluchtalternative sprechenden Gründe derzeit gerade noch überwiegend. Dazu kommt noch, dass der Beschwerdeführer der Mehrheitsethnie angehört, die notorischerweise besonders gut vernetzt ist und traditionell zur gegenseitigen Hilfsleistung verpflichtet ist.
Es war dem Beschwerdeführer daher der erteilte subsidiäre Schutz und die (verlängerte) befristete Aufenthaltsberechtigung abzuerkennen.“
1.6. Mit Urteil des zuständigen Landesgerichts vom 06.09.2019 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 16 Monaten verurteilt.
2. Verfahren über den Folgeantrag:
2.1. Am 28.09.2020 stellte der Beschwerdeführer den verfahrensgegenständlichen Folgeantrag.
Bei der Erstbefragung am 28.09.2020 gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er mit seiner Familie in Afghanistan Probleme habe, da er in Österreich ins Gefängnis gekommen sei. Er fürechte im Falle einer Abschiebung wegen der Haftstrafe wegen versuchter Vergewaltigung getötet zu werden.
2.2. Am 15.10.2020 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem BFA. Dabei gab er an, an keinen schwerwiegenden Krankheiten zu leiden. Er habe bei der Erstbefragung die Wahrheit gesagt. Der Beschwerdeführer sei seit Verbüßung der Haft immer wieder in Kontakt mit seiner Familie gewesen. Seine halbe Familie, seine Mutter, sein Bruder, seine Schwester und ein Onkel würden in Pakistan leben. Zwei Onkel würden in Jalalabad leben, wovon einer Polizist und einer Bauer sei.
Der Beschwerdeführer habe in Österreich einen Cousin, der seiner Familie gesagt habe, dass der Beschwerdeführer wegen versuchter Vergewaltigung im Gefängnis sei. Der Bruder und der Onkel des Beschwerdeführers hätten gesagt, dass sie dem Beschwerdeführer töten wollten, wenn er nach Afghanistan zurückkehre, weil sie wüssten, dass er wegen versuchter Vergewaltigung in Haft sei. Wenn die Taliban oder die Behörden davon erfahren, würden sie den Beschwerdeführer umbringen.
Der Beschwerdeführer habe durch seinen Cousin vor ca. zwei Monaten über die Bedrohung seitens seines Bruders und seitens seines Onkels gehört. Er habe dies telefonisch von diesem Cousin erfahren und danach den vorliegenden Antrag gestellt. Die Familie des Beschwerdeführers habe anfangs den Grund für die Strafhaft des Beschwerdeführers nicht gekannt, erst nachdem der Cousin den Beschwerdeführer 2018 besucht habe, habe dieser Cousin es ihnen erzählt.
Der Beschwerdeführer habe auch Onkel und Tanten mütterlicherseits und väterlicherseits, die Kinder hätten, und es gebe etwa 30 bis 40 Familien mit 200 Mitgliedern. Ein Onkel lebe in Jalalabad, ein anderer Onkel mütterlicherseits sei Lehrer in Kabul; vom Rest wisse er nichts. Im ersten Verfahren habe er nicht gesagt, dass er eine große Familie habe, er sei auch nicht gefragt worden.
Diese 200 Familienmitglieder wüssten Bescheid, weswegen der Beschwerdeführer in Haft sei. Sie würden ihm nichts antun, aber dessen Onkel väterlicherseits und dessen Bruder schon. Die Schwester und die Mutter des Beschwerdeführers würden über diese Sache nichts wissen.
Zur Aufforderung, zu beschreiben, was der Cousin dem Beschwerdeführer genau über die Bedrohung erzählt habe, brachte der Beschwerdeführer vor, dieser habe zu ihm gesagt, dass, wenn er zurücksollte, ihn sein Onkel väterlicherseits und sein Bruder töten würden. Er machte auf Nachfragen keine weiteren Angaben über dieses Gespräch.
Der Beschwerdeführer habe seiner Familie erzählt, dass er im Gefängnis sei, nicht aber den Grund genannt. Sein Cousin habe alles erzählt, nur seine Mutter und seine Schwester wüssten nichts darüber. Der Beschwerdeführer habe seiner Mutter nur gesagt, dass er im Gefängnis sei und zweieinhalb Jahre angehalten werde. Es habe dann noch einen Streit gegeben und er habe aufgrund des Urteils vom September 2019 nochmals 16 Monate zu bekommen. Die Mutter wisse, dass er im Gefängnis einen Streit gehabt habe. Er habe ihr zuvor nicht erzählt, aus welchen Gründen er eine Haft verbüße.
Auf Nachfragen nach seinem in Österreich niedergelassenen Cousin brachte der Beschwerdeführer vor, dass er erwarte, dieser würde bei einer Befragung durch die Behörde nicht die Wahrheit erzählen. Der Beschwerdeführer wolle nicht, dass der Cousin Schwierigkeiten bekomme. Der Cousin wolle nicht zur Polizei und der Beschwerdeführer wolle dies auch nicht, sonst bekomme er mit ihm Probleme. Zum Hinweis, dass eine Befragung des Cousins das Vorbringen des Beschwerdeführers belegen würde, brachte dieser vor, dass der Cousin nicht irgendwo hineingezogen werden wolle und der Beschwerdeführer dies auch nicht wolle.
Der Beschwerdeführer wurde neuerlich aufgefordert, das Gespräch mit dem Cousin, bei dem er über die Bedrohung durch den Onkel und den Bruder erfahren habe, möglichst detailgenau zu schildern, und brachte vor, dass dieser nur gesagt habe, dass der Onkel und der Bruder erfahren hätten, weshalb der Beschwerdeführer im Gefängnis sei und sie ihn bei einer Rückkehr töten wollten. Er bestätigte auf Nachfrage, dass dies das ganze Gespräch gewesen sei.
Er gab weiters an, dass er elf Jahre hier gelebt habe, sich in Afghanistan nicht integrieren könne, die (deutsche) Sprache gelernt habe und großen Respekt vor dem Staat und der Regierung habe. Der Beschwerdeführer verzichtete auf die Einsicht in Länderberichte zum Herkunftsstaat und die Abgabe einer Stellungnahme, wiederholte jedoch, dass er nicht zurückkehren könne.
Mit im Zuge der Einvernahme übergebener Verfahrensanordnung vom 15.10.2020 teilte das BFA dem Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs. 3 und § 15a AsylG mit, dass beabsichtigt sei, den Antrag auf internationalen Schutz wegen Vorliegens entschiedener Sache gemäß § 68 AVG zurückzuweisen.
Am 04.11.2020 wurde der Beschwerdeführer durch das BFA nach erfolgter Rechtsberatung im Beisein eines Dolmetschers niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er bei der Einvernahme am 15.10.2020 die Wahrheit gesagt habe. Er wurde in Kenntnis gesetzt, dass weiterhin beabsichtigt sei, den Asylantrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen. Der Beschwerdeführer brachte vor, er habe eine zweite Chance verdient, da er zehn Jahre in Österreich verbracht habe und sich in Afghanistan nicht mehr integrieren könne.
2.3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 15.12.2020 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und dieser Antrag auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt II.)
In der Begründung dieses Bescheides wurde der bisherige Verfahrensgang dargestellt und Feststellungen zur Lage in Afghanistan einschließlich aktueller Auswirkungen der COVID-19-Pandemie getroffen. Es wurde weiters festgestellt, dass sich der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt seit Rechtskraft der Vorverfahren (Erkenntnis des BVwG vom 23.09.2014 hinsichtlich Status des Asylberechtigten und Erkenntnis des BVwG vom 17.12.2018 hinsichtlich Status des subsidiär Schutzberechtigten) nicht geändert habe.
Die im vorliegenden Verfahren über den neuen Antrag vorgebrachten Verfolgungsbehauptungen des Beschwerdeführers seien keineswegs glaubhaft gewesen.
Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 16.12.2020 gegen Übernahmebestätigung ausgefolgt.
2.4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht mit Schreiben vom 18.12.2020 Beschwerde. Darin wurde den Feststellungen und der Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheids nicht entgegengetreten und lediglich vorgebracht, dass zu den Gründen für die neue Antragstellung vollinhaltlich auf die Gründe, die der Beschwerdeführerbei der Einvernahme am 15.10.2020 vor dem BFA vorgebracht hat, verwiesen werde.
Es wurde die die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde, nicht jedoch die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an, seine Muttersprache ist Paschtu. Seine Identität steht fest. Der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat keine Schule besucht. Vor seiner Ausreise aus Afghanistan hat der Beschwerdeführer mit seinen Eltern und Geschwister in Laghman gelebt. Er hat 2009 Afghanistan verlassen und stellte im September 2009 nach illegaler Einreise in Österreich einen Asylantrag.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Er ist in Österreich von 2011 bis 2017 einer Beschäftigung in Gastronomiebetreiben nachgegangen und war somit selbsterhaltungsfähig. Er hat das Sprachzertifikat A2 erworben.
Die Familie des Beschwerdeführers hat Afghanistan 2012 verlassen und lebt seither in Pakistan. Der Beschwerdeführer hat sie dort 2014 besucht.
Seit 2017 befindet der Beschwerdeführer sich in Strafhaft. Er wurde vom zuständigen Landesgericht mit Urteil vom 08.02.2017 nach §§ 15, 201 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten und weiters vom zuständigen Landesgericht mit Urteil vom 06.09.2019 nach § 84 (4) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 16 Monaten verurteilt.
Es besteht kein ausgeprägtes schützenswertes Privatleben und kein Familienleben im Bundesgebiet. Es ist seit Rechtskraft des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.12.2018 keine Stärkung der Bindungen des Beschwerdeführers zum Bundesgebiet eingetreten.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer an schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen leidet. Der Beschwerdeführer zählt weder aufgrund seines Alters zu einer Risikogruppe für eine COVID-19-Erkrankung, noch hat er relevante Vorerkrankungen. Die diesbezügliche Lage in Afghanistan ist weiters nicht derart ausgestaltet, dass eine Rückkehr jedem Afghanen allein aufgrund der COVID-19-Pandemie unzumutbar wäre.
Der erste Asylantrag des Beschwerdeführers wurde mit dem durch eine Beschwerdeentscheidung des BVwG vom 23.09.2014 (Rechtskraft: 26.09.2014) abgewiesen, wobei der Beschwerdeführer damals subsidiär schutzberechtigt war, nachdem ihm dieser Status mit Bescheid des Bundesasylamts vom 03.03.2011 im Hinblick auf seine Minderjährigkeit und die damalige Lage in Afghanistan eingeräumt worden war.
Die mit der rechtskräftigen Entscheidung des BVwG vom 17.12.2018 über die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten festgestellte zumutbare Möglichkeit des Beschwerdeführers, nach Kabul zurückzukehren, ist weiterhin gegeben.
Die zur Begründung seines Folgeantrags behauptete Bedrohung durch seinen Bruder und seinen Onkel väterlicherseits wegen der in Österreich gesetzten Straftat und der hier verbüßten Haftstrafe weist keinen glaubhaften Kern auf. Dem ist die Beschwerde nicht entgegengetreten.
Asylrelevante Gründe für das Verlassen des Herkunftsstaates und Gründe, die eine Rückführung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat unzulässig machen würden, können auch sonst nicht festgestellt werden.
Eine entscheidungswesentliche Änderung des Sachverhalts oder im Herkunftsstaat des Antragstellers ist seit den rechtskräftigen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes nicht eingetreten.
1.2. Zur maßgeblichen Lage in Afghanistan:
COVID-19:
(Stand 21.7.2020)
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan
Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).
Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).
Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe
Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).
Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).
Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).
Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).
Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).
Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).
Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans
Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).
Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).
In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).
In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).
In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).
Wirtschaftliche Lage in Afghanistan
Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).
Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).
Einreise und Bewegungsfreiheit
Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).
Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer 'strategischen Pattsituation', die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).
Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).
49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).
Der ISKP verurteilt die Taliban als 'Abtrünnige', die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).
Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).
Kabul-Stadt – Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).
Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).
Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamen Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden – so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (RFERL 2.9.2019).
In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command – Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).
Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020).
Sicherheitsbehörden
Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF – Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte (CIA 13.5.2019).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (USDOS 11.3.2020). Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanische bzw. Koalitionskräfte unterstützt (USDOD 12.2018).