TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/17 G308 2182894-1

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Veröffentlicht am 17.02.2021
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Entscheidungsdatum

17.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


G308 2182894-1/21E
G308 2182898-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Angelika PENNITZ als Einzelrichterin über die Beschwerden 1.) der XXXX , geboren am XXXX , und 2.) der XXXX , geboren am XXXX , beide Staatsangehörigkeit Irak, beide vertreten durch BBU GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.11.2017, Zahlen: 1) XXXX , und 2.) XXXX , betreffend die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.09.2020, zu Recht:

A)       

I.       Den Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX , geboren am XXXX , sowie XXXX , geboren am XXXX , jeweils gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 70/2015 iVm § 2 Abs. 1 Z 15 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 70/2015 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II.      Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 70/2015 wird festgestellt, dass XXXX sowie XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

III.    In Erledigung der Beschwerden werden die jeweiligen Spruchpunkte II. bis VI. der angefochtenen Bescheide ersatzlos aufgehoben.

B)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der volljährigen Zweitbeschwerdeführerin. Beide reisten gemeinsam mit der Schwiegertochter/Schwägerin der Beschwerdeführerinnen (deren Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht unter der Zahl G308 2150613-1 anhängig ist) sowie deren damals fünf minderjährigen Kinder (deren Beschwerdeverfahren beim Bundesverwaltungsgericht zu den Zahlen G308 2150933-1, G308 2150923-1, G308 2150925-1, G308 2150614-1 und G308 2150928-1 anhängig sind) und einem weiteren Sohn/Bruder der Beschwerdeführerinnen (dessen Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht zur Zahl G308 2176519-1 anhängig ist) gemeinsam illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie jeweils am 20.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellten.

Ein weiterer Sohn der Erstbeschwerdeführerin, der Ehemann der Schwiegertochter und Vater der mitgereisten Enkel (dessen Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht zur Zahl G308 2150612-1 anhängig ist), hielt sich bereits seit Mai 2015 im Bundesgebiet auf, wo er schon am 14.05.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte.

Am 21.09.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der beiden Beschwerdeführerinnen statt.

Die niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerinnen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, fand jeweils am 05.09.2017 statt.

Mit den oben im Spruch angeführten Bescheiden des Bundesamtes jeweils vom 24.11.2017 wurden die gegenständlichen Anträge der Erst- und Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (jeweils Spruchpunkt I.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (jeweils Spruchpunkt II.) abgewiesen, den Beschwerdeführerinnen ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Darüber hinaus wurde eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eingeräumt (Spruchpunkt VI.).

Mit dem am 27.12.2017 beim Bundesamt einlangenden Schriftsatz vom selben Tag erhoben die Beschwerdeführerinnen durch ihre damalige bevollmächtigte Rechtsvertretung das Rechtsmittel der Beschwerde gegen die sie betreffenden Bescheide des Bundesamtes. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchführen, der Beschwerde stattgeben und den Beschwerdeführerinnen den Status von Asylberechtigten oder allenfalls subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen; in eventu die angefochtenen Bescheide zur Gänze beheben und das Verfahren an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverweisen; in eventu feststellen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und den Beschwerdeführerinnen einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG zuerkennen; in eventu jedenfalls feststellen, dass die Abschiebung nach „Afghanistan“ (sic!) unzulässig ist.

Die gegenständlichen Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 14.01.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt. Sie wurden ursprünglich der Gerichtsabteilung L507 zur Entscheidung zugewiesen.

Infolge einer Unzuständigkeitsanzeige wurden die gegenständlichen Beschwerden in der Folge schließlich am 08.03.2018 der Gerichtabteilung G308 zur Entscheidung zugewiesen.

Das Bundesverwaltungsgericht stellte daraufhin am 04.12.2018 eine Anfrage an ACCORD zum Thema: Irak: Informationen zum sunnitischen Stamm „ XXXX “: allgemeine Lage; Bekanntheitsgrad; Prominent in der Politik vertretene Mitglieder; Arbeit einiger Familienmitglieder für den ehemaligen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi; Ermordung eines Familienmitgliedes am 16.10.2012 in Bagdad durch schiitische Milizen; Lage von sunnitischen Mitarbeitern der Wahlkommission „Independent High Electoral Commission“ (IHEC).

Die Anfragebeantwortung langte am 15.01.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.09.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher die Erstbeschwerdeführerin, die Zweitbeschwerdeführerin, ihre damalige bevollmächtigte Rechtsvertretung sowie ein Dolmetscher für die Sprache Arabisch teilnahmen. Das Bundesamt verzichtete auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Die Beschwerdeverfahren der Beschwerdeführerinnen wurden gemäß § 39 Abs. 2 AVG iVm
§ 17 VwGVG zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurden einige arabische Zeitungsartikel vorgelegt, in Kopie zum Akt genommen und vom Dolmetscher übersetzt. Weiters wurde eine schriftliche Stellungnahme der Beschwerdeführerinnen zu den Länderberichten, nämlich zum Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 17.03.2020, abgegeben.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurden zudem die eingeholten ACCORD-Anfragebeantwortungen vom 15.01.2019 in das Verfahren eingeführt und den Beschwerdeführerinnen die Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.

Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG.

Mit Schriftsatz der damaligen Rechtsvertretung vom 07.10.2020, am 08.10.2020 beim Bundesverwaltungsgericht einlangend, nahmen die beiden Beschwerdeführerinnen zu den Anfragebeantwortungen von ACCORD vom 15.01.2019 schriftlich Stellung.

Am 21.12.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein seitens der Erstbeschwerdeführerin am 02.11.2020 bestandenes ÖSD-Deutschzertifikat auf Niveau A1 ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerinnen führen die im Spruch jeweils angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum), sind Staatsangehörige des Irak, Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennen sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Ihre Muttersprache ist Arabisch. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der volljährigen Zweitbeschwerdeführerin (vgl. aktenkundige Kopien der irakischen Personalausweise, AS 57 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; AS 53 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 3 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 1 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 75 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 71 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 3 ff).

Die Zweitbeschwerdeführerin, ihre Schwägerin und deren damals bereits geborenen minderjährigen Kinder sowie ein Bruder der Zweitbeschwerdeführerin verließen den Irak gemeinsam schon am 02.12.2012 mit dem Bus von Bagdad über Erbil in die Türkei, wo sie sich von Dezember 2012 bis 23.08.2015 aufhielten (vgl. Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 7 ff Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 75 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 6).

Die Erstbeschwerdeführerin verließ gemeinsam einem ihrer Söhne am 17.06.2013 den Irak und reiste mit dem PKW in die Türkei, wo sie sich bis 23.08.2015 aufhielt (vgl. Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 9 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 77 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 6 und S 17).

Dann reisten die beiden Beschwerdeführerinnen gemeinsam mit der Schwiegertochter/Schwägerin, deren damals bereits geborenen fünf Kindern sowie einem Sohn/Bruder der Beschwerdeführerinnen schlepperunterstützt von der Türkei über Griechenland, Nordmazedonien, Serbien und vermutlich Ungarn bis nach Österreich, wo sie am 20.09.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten (vgl. Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 9 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin und AS 7 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 77 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin und AS 75 ff Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 6 und S 17).

Die Erstbeschwerdeführerin ist in Bagdad geboren und aufgewachsen, wo sie sechs Jahre die Grundschule besuchte, aber keine Berufsausbildung erhielt und auch keiner Erwerbstätigkeit nachging, sondern Hausfrau war. Ihr Ehemann kam mit seiner Tätigkeit als Immobilienmakler für den Lebensunterhalt der Erstbeschwerdeführerin und der gemeinsamen Kinder auf, wurde jedoch am 16.10.2012 getötet. Die Erstbeschwerdeführerin ist daher verwitwet, hat bisher nicht wieder geheiratet und insgesamt sechs volljährige Kinder (darunter unter anderem die Zweitbeschwerdeführerin) (vgl. Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 3 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 81 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 5 ff).

Die Erstbeschwerdeführerin ist gesund und arbeitsfähig. Es konnte nicht festgestellt werden, dass sie an einer behandlungsbedürftigen Erkrankung leidet. Es wird zudem festgestellt, dass sie an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung im Endstadium leidet, die im Irak nicht behandelbar wäre.

Auch die Zweitbeschwerdeführerin ist in Bagdad geboren und aufgewachsen. Sie hat dort sechs Jahre die Grundschule, drei Jahre eine Mittelschule und ein Jahr ein Gymnasium besucht und ging im Irak vor ihrer Ausreise keiner Erwerbstätigkeit nach. Sie lebte von den Einkünften ihres Vaters. Sie ist ledig und hat keine Kinder (vgl. Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 1 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 77 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 5 ff).

Die Zweitbeschwerdeführerin ist gesund und arbeitsfähig. Sie leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen im Endstadium, die im Irak nicht behandelbar wären (vgl. Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 5Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 73 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 3 f).

Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vater der Zweitbeschwerdeführerin wurde am 16.10.2012 in Bagdad zuhause durch einen Kopfschuss getötet (vgl. Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 3 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 81 Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin und AS 77 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 8 ff und in der Verhandlung vom 17.09.2020 vorgelegte arabische Sterbeurkunde vom 17.10.2012 samt deutscher Übersetzung).

Ein Sohn/Bruder, XXXX , sowie eine Tochter/Schwester der Beschwerdeführerinnen, XXXX , leben jeweils in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Tochter/Schwester XXXX lebt in der Türkei und eine ursprünglich mit den Beschwerdeführerinnen ebenfalls mit in das Bundesgebiet gereiste Cousine, XXXX , ist inzwischen in die Türkei zurückgekehrt. Im Irak leben keine nahen Verwandten der Beschwerdeführerinnen mehr, in Österreich leben zahlreiche weitere Familien aus dem Stamm der Beschwerdeführer (vgl. etwa Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 5 ff).

Einer der Söhne der Erstbeschwerdeführerin bzw. der Brüder der Zweitbeschwerdeführerin, XXXX (im Folgenden: I.), geboren am XXXX , irakischer Staatsangehöriger, reiste ebenso gemeinsam mit den Beschwerdeführerinnen in das Bundesgebiet ein und stellte hier ebenfalls am 20.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.10.2017 zur Zahl XXXX vollinhaltlich abgewiesen wurde. Das Verfahren über die dagegen erhobene Beschwerde ist beim Bundesverwaltungsgericht zur Zahl G308 2176519-1 anhängig. Er lebt in XXXX , besucht die Beschwerdeführerinnen aber regelmäßig in XXXX (vgl. dazu etwa den Fremdenregisterauszug und den Auszug aus dem Zentralen Melderegister jeweils vom 27.01.2021 sowie die Einsicht in den Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes zur Zahl G308 2176519-1; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 5 ff).

Ein weiterer Sohn der Erstbeschwerdeführerin bzw. Bruder der Zweitbeschwerdeführerin, XXXX (im Folgenden: F.), geboren am XXXX , irakischer Staatsangehöriger, reiste bereits im Mai 2015 in das Bundesgebiet ein, wo er am 14.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2017 zur Zahl XXXX vollinhaltlich abgewiesen wurde. Sohn/Bruder F. ist mit der Schwiegertochter/Schwägerin der Beschwerdeführerinnen, XXXX , geboren am XXXX , irakische Staatsangehörige, verheiratet und hat mit ihr insgesamt sechs minderjährige Kinder, und zwar

1. XXXX , geboren am XXXX im Irak,

2. XXXX , geboren am XXXX im Irak,

3. XXXX , geboren am XXXX im Irak,

4. XXXX , geboren am XXXX im Irak,

5. XXXX , geboren am XXXX in der Türkei, und

6. XXXX , geboren am XXXX in Österreich.

Die Schwiegertochter/Schwägerin sowie deren damals bereits geborenen Kinder (1.-5.) reisten gemeinsam mit den Beschwerdeführerinnen und dem Sohn/Bruder I. im September 2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie ebenfalls am 20.09.2015 Anträge auf internationalen Schutz stellten. Für die in Österreich nachgeborene Tochter wurde am 20.01.2020 ebenfalls ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht. Die Anträge wurde mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.02.2017, 20.02.2017 sowie 09.03.2020 zu den Zahlen XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX ebenfalls vollinhaltlich abgewiesen. Die Familie lebt im gemeinsamen Haushalt ebenso in XXXX wie die Beschwerdeführerinnen und besteht regelmäßig Kontakt (vgl. dazu etwa die Fremdenregisterauszüge und die Auszüge aus dem Zentralen Melderegister jeweils vom 27.01.2021 sowie die Einsicht in die Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichtes zu den Zahlen G308 2150612-1, G308 2150613-1, G308 2150933-1, G308 2150923-1, G308 2150925-1, G308 2150614-1, G308 2150928-1 und G308 2230961-1; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 5 ff).

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.02.2021, Zahlen: G308 2150612-1, G308 2150613-1, G308 2150933-1, G308 2150923-1, G308 2150925-1, G308 2150614-1, G308 2150928-1 und G308 2230961-1, wurde den Beschwerden des Sohnes/Bruders F., dessen Ehefrau (der Schwiegertochter bzw. Schwägerin der Beschwerdeführerinnen) sowie deren sechs minderjährigen Kindern stattgegeben und ihnen jeweils der Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuerkannt. Das Bundesverwaltungsgericht traf in diesem Erkenntnis auszugsweise nachfolgende Feststellungen:

„Der Erstbeschwerdeführer war von August 2009 bis Dezember 2011 Angestellter beim Amt für Jugend, Studenten und Sport, Abteilung Verwaltung, Finanzen und Controlling des Kabinetts des damaligen sunnitischen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi. Auch sein Bruder XXXX (im Folgenden: N.) war dort beschäftigt. Der Erstbeschwerdeführer hatte selten persönlichen Kontakt mit Tariq AL-HASHIMI, jedoch der direkte Vorgesetzte des Erstbeschwerdeführers, XXXX regelmäßig und häufig.

Am 25.12.2011 wurde ein Arbeitskollege des Erstbeschwerdeführers namens XXXX aus seinem Haus in Bagdad von einer unbekannten Miliz entführt. Dieser Arbeitskollege war ebenfalls Angestellter beim Amt für Jugend, Studenten und Sport, Abteilung Medien.

Der Erstbeschwerdeführer versteckte sich fortan bei der weiteren Familie und Freunden. Oft hielt er sich bei der Schwiegerfamilie auf.

Ab Oktober 2012 wurde auch nach dem Erstbeschwerdeführer und seinem Bruder N. von Milizangehörigen im Familienhaus gesucht. Sowohl der Beschwerdeführer als auch sein Bruder N. waren nicht anwesend. Eine Woche später kamen neuerlich bewaffnete Unbekannte und fragten neuerlich nach dem Erstbeschwerdeführer und seinem Bruder N. Ihr Vater gab an, dass diese nicht anwesend seien und wurde in weiterer Folge durch einen Kopfschuss getötet.

Zahlreiche Kabinetts-Mitglieder sowie sonstige Mitarbeiter, darunter auch Leibwächter, und deren Familienangehörige wurden von der Regierung AL-MALIKIS verfolgt.

Zwischen Dezember 2016 und Jänner 2017 wurde auf der Strecke zwischen Kirkuk und Bagdad die Leiche des persönlichen Anwalts von Tariq Al-Hashimi, und zwar von XXXX , der auch Journalist gewesen ist, gefunden. Er soll längere Zeit in Erbil gelebt haben und erstmals auf dem Weg nach Bagdad gewesen sein (vgl. in der mündlichen Verhandlung vom 11.12.2020 vorgelegte Zeitungsberichte samt Übersetzung des Dolmetschers, S 13 Verhandlungsprotokoll).

Die Zweitbeschwerdeführerin und die minderjährigen Beschwerdeführer haben keine eigenen Fluchtgründe und beziehen sich auf das Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers (vgl. insbesondere Niederschrift Bundesamt vom 15.12.2016, AS 55 Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin).

[…]“

Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht weiters auszugsweise aus:

„[…]

Zum Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien:

Zusammengefasst brachte der Erstbeschwerdeführer im Verlauf des gesamten Verfahrens vor, er (und auch einer seiner Brüder) sei Mitarbeiter des Kabinetts des ehemaligen irakischen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi, einem Sunniten gewesen, dem vom schiitischen Ministerpräsidenten Al-Maliki im Dezember 2011 terroristische Handlungen unterstellt und gegen den ein Haftbefehl und in weiterer Folge die Todesstrafe verhängt worden sei. Auch die Mitarbeiter des Al-Hashimi seien vom Regime des Al-Maliki bedroht gewesen. So habe man auch nach dem Erstbeschwerdeführer und seinem Bruder (aller Wahrscheinlichkeit nach durch Angehörige von schiitischen Milizen) gesucht und bei erfolgloser Suche den Vater des Erstbeschwerdeführers erschossen. Auch die Familienangehörigen, darunter Ehefrauen, Kinder, aber auch andere Verwandte wie Eltern und Geschwister wären von der Verfolgung insofern betroffen, als man diesen Gewalt androhe, um auf die eigentlichen gesuchten Personen zugreifen zu können.

Die Zweitbeschwerdeführerin und die minderjährigen Beschwerdeführer haben keine eigenen Fluchtgründe und beziehen sich ausschließlich auf die Fluchtgründe des Erstbeschwerdeführers.

Dazu ist auszuführen, dass bereits mit der Stellungnahme der damaligen Rechtsvertretung des Erstbeschwerdeführers vom 20.10.2016 an das Bundesamt ein ganzes Konvolut an arabischen Dokumenten, darunter insbesondere E-Mail-Korrespondenz aus 2009 sowie eine Liste mit konkreten Namen und Tätigkeitsbereichen/Zuständigkeiten von Arbeitskollegen des Erstbeschwerdeführers in der Administration von Vizepräsident Al-Hashimi vorgelegt wurde (vgl. dazu die Ausführungen in der Stellungnahme vom 20.10.2016, AS 155 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer sowie das beiliegende Konvolut arabischer Dokumente samt deutscher Übersetzungen, AS 161 ff und 223 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer).

Das Bundesamt widerspricht sich in seiner Beweiswürdigung selbst erheblich, wenn es erst ausführt, es erachte die Tätigkeit des Erstbeschwerdeführers für die Administration des Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi für glaubhaft (vgl. Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid des Erstbeschwerdeführers, AS 354 Verwaltungsakt), und einige Absätze später (vgl. Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid des Erstbeschwerdeführers, AS 356 f Verwaltungsakt) dann jedoch ausführt, die Tätigkeit für Al-Hashimi werde vom Bundesamt in Frage gestellt. Außerdem wäre der Erstbeschwerdeführer nicht persönlich verfolgt worden und auch sicher kein Leibwächter oder hochrangiger Mitarbeiter gewesen sei, sodass für ihn deswegen keine Gefahr bestanden hätte.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden zahlreiche weitere arabische Dokumente, darunter teilweise auch im Original, vorgelegt und zusammengefasst vom Dolmetscher übersetzt. Darunter befindet sich eine Bestätigung des Büros Tariq Al-Hashimis, der nunmehr in Qatar im Exil lebt, dass der Erstbeschwerdeführer für sein Kabinett gearbeitet hat. Weiter legte der Erstbeschwerdeführer eine Liste von Kabinetts-Mitarbeitern und deren Funktion vor. Einige der Namen decken sich mit jenen in der ACCORD-Anfragebeantwortung vom 15.01.2019. Auch ist der Erstbeschwerdeführer auf einem offiziellen Foto des Kabinetts Al-Hashimi zu sehen (vgl. aktenkundige Kopie des Fotos sowie Verhandlungsprotokoll vom 11.12.2020, S 12).

Auch der in der mündlichen Verhandlung am 11.12.2020 vernommene Zeuge, der der Bruder des ehemaligen direkten Vorgesetzten des Erstbeschwerdeführers im Kabinett Al-Hashimi gewesen ist ( XXXX ), machte im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht einen glaubwürdigen Eindruck und gab an, dass sein Bruder ein Berater von Al-Hashimi gewesen ist und ebenfalls aus dem Irak flüchten habe müssen (sowie auch der Zeuge als dessen Bruder). Der Berater lebe nun in der Türkei und komme dem Zeugen als dessen Bruder in Österreich der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu. Der Erstbeschwerdeführer wurde als „die rechte Hand“ des direkten Beraters von Al-Hashimi beschrieben.

Für das erkennende Gericht haben die Beschwerdeführer damit jedenfalls glaubhaft dargetan, dass der Erstbeschwerdeführer für das Kabinett des Al-Hashimi tätig gewesen ist und dies – entgegen der Ansicht des Bundesamtes - nicht nur in einer völlig untergeordneten Position.

Sowohl der Erstbeschwerdeführer als auch die Zweitbeschwerdeführerin haben zudem im Verlauf des gesamten Verfahrens im Wesentlichen gleichlautend angegeben, dass der Erstbeschwerdeführer als ehemaliger Kabinettsmitarbeiter von Al-Hashimi im Irak gefährdet ist und dies auch die übrigen Familienmitglieder, insbesondere die Zweitbeschwerdeführerin und die minderjährigen Beschwerdeführer betrifft. Auch immer gleichlautend und konsistent war das Vorbringen in Bezug auf die Ermordung des Vaters des Erstbeschwerdeführers. Dass es sich bei den Mördern höchstwahrscheinlich um Angehörige einer schiitischen Miliz bzw. der ehemaligen Regierung Al-Malikis gehandelt hat, ist in Anbetracht dessen, dass explizit nach dem Erstbeschwerdeführer und seinem Bruder verlangt wurde, die beide die einzigen gewesen sind, die in der Familie der Beschwerdeführer für Al-Hashimi gearbeitet haben, in Zusammenschau mit den Länderberichten, insbesondere den diesbezüglichen ACCORD-Anfragebeantwortungen, für das erkennende Gericht maßgeblich wahrscheinlich.

Auch kann dem Umstand, dass der Erstbeschwerdeführer erst Mitte des Jahres 2013 den Irak in Richtung Türkei verließ, die übrigen Beschwerdeführer jedoch schon Anfang Dezember 2012, vor dem glaubhaft dargelegten Hintergrund, der Erstbeschwerdeführer und auch die Zweitbeschwerdeführerin hätten sich bereits ab Dezember 2011 im Zuge der Ereignisse um den ehemaligen Vizepräsidenten Al-Hashimi bei den Eltern der Zweitbeschwerdeführerin bzw. der Erstbeschwerdeführer immer ständig wechselnd bei Freunden versteckt, und habe der Erstbeschwerdeführer nach der Ermordung seines Vaters die notwendigen finanziellen Mittel für einen Aufenthalt der Familie in der Türkei beschafft, in dem er eines der beiden Familienhäuser in Bagdad über einen Mittelsmann verkaufte, keine maßgebliche Bedeutung beigemessen werden.

Aus der festgestellten ACCORD-Anfragebeantwortung vom 15.01.2019 ergibt sich, dass irakische Sicherheitskräfte im Dezember 2011 nach Erlassung eines Haftbefehls durch Premierminister Al-Maliki gegen den Vizepräsidenten Al-Hashimi gleichzeitig dutzende von Al-Hashimis Mitarbeitern und Leibwächtern verhaftet und an geheime Orte gebracht worden sind. Sie wären alle mehrere Monate, ohne Kontakte zur Außenwelt festgehalten und Folter ausgesetzt worden. Dabei sei ihnen auch gedroht worden, dass ihre Frauen und Mütter verhaftet und vor ihren Augen vergewaltigt würden. Alle Festgenommenen seien zum Tode verurteilt worden. Wie sich aus einem Bericht von Alkamara vom 26.05.2020 ergibt (vgl. dazu insbesondere S 7 ff https://www.ecoi.net/de/dokument/2033888.html vom 26.05.2020), Zugriff am 28.01.2021) befanden sich zum Zeitpunkt der Berichterstattung (daher Mitte des Jahres 2020) noch immer einige der 19 jedenfalls zwischen November 2011 und März 2012 von irakischen Sicherheitskräften festgenommenen Personen, welchen eine Verbindung zum vormaligen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi unterstellt wurden, trotz internationaler Interventionen in Haft und wurde über diese, neben Folter und anderer Drohungen zur Erzwingung von Geständnissen jeweils die Todesstrafe verhängt.

Das erkennende Gericht geht daher davon aus, dass die, insbesondere den Erstbeschwerdeführer, aber auch die übrigen Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Irak treffende Verfolgungsgefahr nach wie vor aktuell ist, zumal die Beschwerdeführer laut der ACCORD-Anfrage vom 15.01.2019 einem der größten und bekanntensten sunnitischen Stämme im Irak angehören und als solche leicht zugeordnet werden können.

Die aktuelle Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer stellt sich für das Bundesverwaltungsgericht als unstrittig dar. In Zusammenschau mit der aktuellen Lage hinsichtlich der ehemaligen Mitarbeiter von Al-Hashimi und der allgemeinen Lage im Herkunftsland ergibt sich für das erkennende Gericht, dass die, die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Irak treffende, Verfolgungsgefahr nach wie vor aktuell ist.

[…]“

Die Beschwerdeführerinnen halten sich seit ihrer Einreise ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Sie sind strafgerichtlich unbescholten und leben auch zum Entscheidungszeitpunkt nach wie vor beide im gemeinsamen Haushalt und von der Grundversorgung. Keine der Beschwerdeführerinnen ging bisher einer sozialversicherten Erwerbstätigkeit nach (vgl. aktenkundige Auszüge aus dem Zentralen Melderegister, aus dem Strafregister sowie den Sozialversicherungs- und Grundversorgungsdaten jeweils vom 27.01.2020).

Außer untereinander sowie zum in XXXX lebenden Sohn/Bruder I. und zu der Familie des ebenfalls in XXXX lebenden Sohnes/Bruders F. der Beschwerdeführerinnen bestehen in Österreich bzw. Europa keine nachweisbaren engeren weiteren familiären Bindungen.

Die Söhne/Brüder F. und N. der Beschwerdeführerinnen waren von August 2009 bis Dezember 2011 Angestellte beim Amt für Jugend, Studenten und Sport, Abteilung Verwaltung, Finanzen und Controlling des Kabinetts des damaligen sunnitischen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi. F. hatte selten persönlichen Kontakt mit Tariq Al-Hashimi, jedoch der direkte Vorgesetzte des F., XXXX regelmäßig und häufig.

Nach dem Sturz Al-Hashimis Ende des Jahres 2011 wurde ab Oktober 2012 auch nach F. und N. von Milizangehörigen im Familienhaus gesucht. Sowohl F. als auch sein Bruder N. waren nicht anwesend. Eine Woche später kamen neuerlich bewaffnete Unbekannte und fragten neuerlich nach den Brüdern F. und N. Ihr Vater gab an, dass diese nicht anwesend seien und wurde in weiterer Folge durch einen Kopfschuss getötet.

Zahlreiche Kabinetts-Mitglieder sowie sonstige Mitarbeiter, darunter auch Leibwächter, und deren Familienangehörige wurden von der Regierung Al-Malikis verfolgt.

Als nahe Angehörige des F. und des N. droht auch den Beschwerdeführerinnen im Irak eine entsprechende Verfolgung.

Hingegen konnte nicht festgestellt werden, dass den Beschwerdeführerinnen im Irak die Zwangsheirat konkret droht oder sie Verfolgung/Bedrohung infolge westlicher Orientierung zu befürchten hätten.

Zur entscheidungsrelevanten Lage im Irak:

Zur allgemeinen Lage im Irak werden die vom Bundesverwaltungsgericht mit Ladung zur mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführten Länderberichte, nämlich aktuelle Länderinformationen und zwar das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 17.03.2020 sowie die im gegenständlichen Fall eingeholten ACCORD-Anfragebeantwortungen vom 15.12.2019 auch als entscheidungsrelevante Feststellungen zum endgültigen Gegenstand dieses Erkenntnisses erhoben.

Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 17.03.2020 ergibt sich auszugsweise:

„[…] 1  Politische Lage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).

Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).

Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).

Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).

Quellen:

[…]

1.1     Parteienlandschaft

Letzte Änderung: 17.3.2020

Laut einer Statistik der irakischen Wahlkommission beläuft sich die Zahl der bei ihr registrierten politischen Parteien und politischen Bewegungen auf über 200. 85% davon, national und regional, haben religiös-konfessionellen Charakter (RCRSS 24.2.2019).

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (eng. SCIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander – eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen ist verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon (ein Bündnis aus der Sadr-Bewegung und der Kommunistischen Partei) unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fatah-Koalition des Führers der Badr-Milizen, Hadi al-Amiri und der Nasr-Allianz unter Haider al-Abadi und der Dawlat al Qanoon-Allianz des ehemaligen Regierungschefs Maliki (LSE 7.2018).

[Grafik gelöscht, Anm]

Quellen:

[…]

1.2     Kurdische Region im Irak (KRI) / Autonome Region Kurdistan

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Kurdische Region im Irak (KRI) wird in der irakischen Verfassung, in Artikel 121, Absatz 5 anerkannt (Rudaw 20.11.2019). Die KRI besteht aus den Gouvernements Erbil, Dohuk und Sulaymaniyah. sowie aus dem im Jahr 2014 durch Ministerratsbeschluss aus Sulaymaniyah herausgelösten Gouvernement Halabja, wobei dieser Beschluss noch nicht in die Praxis umgesetzt wurde. Verwaltet wird die KRI durch die kurdische Regionalregierung (KRG) (GIZ 1.2020a).

Das Verhältnis der Zentralregierung zur KRI hat sich seit der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in der KRI und einer Reihe zwischen Bagdad und Erbil „umstrittener Gebiete“ ab dem 25.9.2017 deutlich verschlechtert. Im Oktober 2017 kam es sogar zu lokal begrenzten militärischen Auseinandersetzungen (AA 12.1.2019). Der langjährige Präsident der KRI, Masoud Barzani, der das Referendum mit Nachdruck umgesetzt hatte, trat als Konsequenz zurück (GIZ 1.2020a).

Der Konflikt zwischen Bagdad und Erbil hat sich im Lauf des Jahres 2018 wieder beruhigt, und es finden seither regelmäßig Gespräche zwischen den beiden Seiten statt. Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind jedoch weiterhin ungelöst zwischen Bagdad und der KRI (AA 12.1.2019).

Die KRI ist seit Jahrzehnten zwischen den beiden größten Parteien geteilt, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), angeführt von der Familie Barzani, und deren Rivalen, der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die vom Talabani-Clan angeführt wird (France24 22.2.2020; vgl. KAS 2.5.2018). Die KDP hat ihr Machtzentrum in Erbil, die PUK ihres in Sulaymaniyah. Beide verfügen einerseits über eine bedeutende Anzahl von Sitzen im Irakischen Parlament und gewannen andererseits auch die meisten Sitze bei den Wahlen in der KRI im September 2018 (CRS 3.2.2020). Der Machtkampf zwischen KDP und PUK schwächt einerseits inner-kurdische Reformen und andererseits Erbils Position gegenüber Bagdad (GIZ 1.2020a). Dazu kommen Gorran („Wandel“), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert (KAS 2.5.2018; vgl. WI 8.7.2019), sowie eine Reihe kleinerer islamistischer Parteien (KAS 2.5.2018).

Auch nach dem Rücktritt von Präsident Masoud Barzani teilt sich die Barzani Familie die Macht. Nechirvan Barzani, langjähriger Premierminister unter seinem Onkel Masoud, beerbte ihn im Amt des Präsidenten der KRI. Masrour Barzani, Sohn Masouds, wurde im Juni 2019 zum neuen Premierminister der KRI ernannt (GIZ 1.2020a) und im Juli 2019 durch das kurdische Parlament bestätigt (CRS 3.2.2020).

Proteste in der KRI gehen auf das Jahr 2003 zurück. Die Hauptforderungen der Demonstranten sind dabei gleich geblieben und drehen sich einerseits um das Thema Infrastrukturversorgung und staatliche Leistungen (Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitswesen, Straßenbau, sowie die enormen Einkommensunterschiede) und andererseits um das Thema Regierungsführung (Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruption) (LSE 4.6.2018). Insbesondere in der nordöstlichen Stadt Sulaymaniyah kommt es zu periodischen Protesten, deren jüngste im Februar 2020 begannen (France24 22.2.2020).

Quellen:

[…]

2        Sicherheitslage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Quellen:

[…]

2.1     Islamischer Staat (IS)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

Quellen:

[…]

2.2     Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).

[Grafik gelöscht, Anm]

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).

[Grafik gelöscht, Anm]

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).

[Grafik gelöscht, Anm]

Quellen:

[…]

2.3     Sicherheitslage Bagdad

Letzte Änderung: 17.3.2020

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

[Anm.: Weiterführende Informationen zu den Demonstrationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]

Quellen:

[…]

2.4     Sicherheitslage in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

Letzte Änderung: 17.3.2020

In Erbil bzw. Sulaymaniyah und unmittelbarer Umgebung erscheint die Sicherheitssituation vergleichsweise besser als in anderen Teilen des Irak. Allerdings kommt es immer wieder zu militärischen Zusammenstößen, in die auch kurdische Streitkräfte (Peshmerga) verwickelt sind, weshalb sich die Lage jederzeit ändern kann. Insbesondere Einrichtungen der kurdischen Regionalregierung und politischer Parteien sowie militärische und polizeiliche Einrichtungen können immer wieder Ziele terroristischer Attacken sein (BMEIA 19.2.2020).

Im Juli 2019 führte der IS seine seit langem erste Attacke auf kurdischem Boden durch. Im Gouvernement Sulaymaniyah attackierte er einen Checkpoint an der Grenze zu Diyala, der von Asayish [Anm.: Inlandsgeheimdienst der Kurdischen Region im Irak (KRI)] bemannt war. Bei diesem Angriff wurden fünf Tote und elf Verletzte registriert (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurde in Sulaymaniyah ein Vorfall mit einer IED verzeichnet, wobei es keine Opfer gab (Joel Wing 9.9.2019). Im November 2019 wurde ein weiterer Angriff im Gouvernement Sulaymaniyah verzeichnet. Der Vorfall ereignete sich im südlichen Sulaymaniyah, an der Grenze zu Diyala. Asayesh-Einheiten, die einen Mörserbeschuss untersuchten, wurden von Heckenschützen beschossen. Drei Personen, darunter ein Kommandant, starben, acht Personen, fünf Asayesh und drei Zivilisten wurden verletzt (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Ekurd 30.11.2019).

Im Gouvernement Erbil wurde im Jänner 2020 ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer verzeichnet. Als Vergeltung für die Tötung des iranischen Generalmajors Qassem Soleimani und des stellvertretenden Leiters der Volksmobilisierungskräfte (PMF)-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis durch die USA feuerte der Iran Raketen auf die US-Militärbasis nahe dem Internationalen Flughafen Erbil ab (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Al Monitor 8.1.2020). Im Februar 2020 wurden drei Vorfälle mit sieben Verletzten im südlichen Distrikt Makhmour verzeichnet. Dabei handelte es sich um einen Raketenangriff pro-iranischer PMF auf einen US-Militärstützpunkt (Joel Wing 5.3.2020), um die Detonation zweier IEDs in einem Dorf mit sechs Verletzten (Joel Wing 5.3.2020; vgl. BasNews 26.2.2020) und um einen Angriff des IS auf ein IDP Lager, mit einem verletzten Zivilisten (Joel Wing 5.3.2020; vgl. BasNews 2.2.2020).

Seit dem Abbruch des Friedensprozesses zwischen der Türkei und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Jahr 2015 kommt es regelmäßig zu türkischen Militäroperationen und Bombardements gegen Stellungen von PKK-Kämpfern in Qandil und in den irakischen Grenzgebieten (Kurdistan24 8.11.2019). Im Kreuzfeuer solcher Angriffe werden immer wieder kurdische Dörfer evakuiert, da manchmal auch Zi

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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