TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/19 W216 2179044-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.02.2021
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Entscheidungsdatum

19.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
BFA-VG §18 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3
FPG §55 Abs1a

Spruch


W216 2179044-2/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marion STEINER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, p.A. Leopold Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.01.2021, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste am 09.11.2015 gemeinsam mit seinem älteren Bruder unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge als Bundesamt bezeichnet) vom 10.11.2017 vollinhaltlich abgewiesen wurde. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt. Gleichzeitig wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde vom 04.12.2017 wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.03.2019 als unbegründet abgewiesen.

Am 31.10.2017 wurde das Bundesamt durch die Landespolizeidirektion Wien darüber informiert, dass der Beschwerdeführer wegen eines Suchtmitteldeliktes angezeigt worden sei.

Am 26.11.2017 wurde das Bundesamt durch die Landespolizeidirektion Wien darüber informiert, dass der Beschwerdeführer wegen eines Deliktes nach dem Waffengesetz angezeigt worden sei.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 14.03.2018, GZ XXXX , wurde der Beschwerdeführer als junger Erwachsener rechtskräftig wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 15 StGB, § 27 Abs. 2a Suchtmittelgesetz – SMG, des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG und des Vergehens des unerlaubten Waffenbesitzes nach 50 Abs. 1 Z 2 Waffengesetz – WaffG zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe gemäß § 43 Abs. 1 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 12.06.2018, GZ XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe gemäß § 43 Abs. 1 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Die Vorhaft vom 10.05.2018 bis 12.06.2018 wurde auf die verhängte Strafe angerechnet. Gleichzeitig wurde die mit dem oben genannten Ersturteil gewährte Probezeit auf fünf Jahre verlängert. Für die Dauer der Probezeit wurde Bewährungshilfe angeordnet.

Am 01.08.2018 wurde der Beschwerdeführer auf frischer Tat beim Verkauf von Suchtmitteln betreten.

Am 03.08.2018 wurde der Beschwerdeführer wegen Suchtgiftmitteldelikten in Untersuchungshaft genommen.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 04.09.2018, GZ XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen Suchtgiftmitteldelikten nach §§ 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall, 27 Abs. 2a, 27 Abs. 3 SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 5 Monaten verurteilt.

Am 23.10.2018 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachtes des Betruges angezeigt.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 08.05.2019, GZ XXXX wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall, Abs. 2a, Abs. 3 SMG, § 15 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 8 Monaten verurteilt. Gemäß § 53 Abs. 1 StGB iVm § 494a Abs. 1 Z 4 StPO wurden die bedingten Strafnachsichten zu den Urteilen des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 14.03.2018 zu GZ XXXX und vom 12.06.2018 zu GZ XXXX widerrufen.

Am 23.05.2019 wurde seitens der afghanischen Botschaft ein Heimreisezertifikat für den Beschwerdeführer ausgestellt.

Mit Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 01.07.2019, GZ XXXX wurde dem Beschwerdeführer gem. § 39 Abs. 1 Z 1 SMG Strafaufschub gewährt, allerdings aufgrund der Umstände, dass der Beschwerdeführer aus dem sofortigen Therapieabbruch und der neuerlichen Inhaftierung im Zusammenhang mit seiner Gewöhnung an Suchtmittel entsprechende Voraussetzungen schuf, der gewährte Strafaufschub am 27.03.2020 widerrufen.

Mit am 04.11.2020 zugestelltem Schreiben vom 03.11.2020 übermittelte das Bundesamt dem Beschwerdeführer zur Wahrung des Parteiengehörs eine Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme hinsichtlich der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, der Verhängung der Schubhaft und der Abschiebung und räumte ihm eine Frist von sieben Tagen ab Erhalt des Schreibens zur schriftlichen Stellungnahme ein.

Der Beschwerdeführer nahm mit Schreiben vom 05.11.2020 zum übermittelten Parteiengehör Stellung und führte insbesondere aus, dass er ledig sei, jedoch eine Freundin und mit dieser ein gemeinsames Kind habe. Seine Freundin wohne derzeit im Mutter-Kind-Haus. Darüber hinaus habe er einen Bruder in Österreich, der bei Pflegeeltern wohne. Weiters gab der Beschwerdeführer an, dass sein Vater von den Taliban ermordet worden sei und er zu seiner Mutter keinen Kontakt mehr habe und daher auch nicht wisse, wo sie sich aufhalte. Er habe 9 Jahre die Schule in Afghanistan besucht und in Österreich Deutschkurse sowie für 8 Monate eine landwirtschaftliche Fachschule besucht. Da er keine Arbeitserlaubnis habe, habe er kein Geld und habe zwischendurch von Unterstützung seines Bruders gelebt. In Afghanistan könne er aufgrund des dort herrschenden Krieges nicht arbeiten, außerdem habe er dort niemanden. Er sei gesund und nehme keine Medikamente.

Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid des Bundesamtes vom 15.01.2021 wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt I.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gleichzeitig wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z. 5 FPG ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.). Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde nicht gewährt (Spruchpunkt V.) und die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 2 Z. 1 BFA-VG aberkannt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines wiederkehrenden gesetzwidrigen Verhaltens in Österreich eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle und dies seine privaten Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet bei Weitem übersteige. Aufgrund des Ermittlungsverfahrens könne keinesfalls eine günstige Zukunftsprognose attestiert werden, weshalb die Verfügung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot die einzig adäquate Maßnahme darstelle, um auf die vom Beschwerdeführer ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu reagieren. Es seien keine ausreichenden Anhaltspunkte zu erkennen, die für eine positive Wandlung in absehbarer Zeit sprechen und damit eine Änderung seines Verhaltens in Aussicht stellen könnten.

Der Beschwerdeführer sei ledig, habe einen Bruder in Österreich und – seinen Angaben in dem ihm eingeräumten Parteiengehör zufolge – eine Freundin und ein im September 2020 geborenes Kind, welche beide serbische Staatsangehörige seien. Weder in der Geburtsurkunde noch im Auszug aus dem Geburtseintrag seien Angaben zum Vater enthalten. Eine gemeinsame Adresse sowie ein Abhängigkeitsverhältnis lägen nicht vor. Eine nachhaltige Integrationsbereitschaft habe aufgrund der wiederkehrenden Straffälligkeit des Beschwerdeführers definitiv nicht festgestellt werden können. Ein schützenswertes Familienleben könne unter Berücksichtigung der serbischen Freundin des Beschwerdeführers und der Geburt des Sohnes im September 2020 nicht festgestellt werden, zumal der Beschwerdeführer die Relativierung dieser Beziehung mit seinem Verhalten bewusst in Kauf genommen habe. Seine familiären Bindungen im Bundesgebiet würden sich letztendlich nicht als derart intensiv erweisen, dass ein im öffentlichen Interesse liegender Eingriff in sein Familienleben etwa ungerechtfertigt wäre. Sein Gesamtfehlverhalten – alleine schon im Hinblick auf seine rechtskräftigen Verurteilungen wegen Übertretung des Suchtmittelgesetzes – würden eine derart schwerwiegende Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bewirken, dass seine familiären Interessen hinter die öffentlichen Interessen treten müssten.

Der Beschwerdeführer sei in der islamischen Gesellschaft Afghanistans sozialisiert worden und habe den Großteil seines Lebens außerhalb des Bundesgebiets verbracht. Dem Beschwerdeführer sei es zumutbar, in einem hinreichend sicheren urbanen afghanischen Gebiet durch eigene Erwerbstätigkeit seine Existenz zu sichern.

Während seines erst fünfjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet würden mittlerweile vier Verurteilungen im Zusammenhang mit seiner Person im Strafregister der Republik Österreich aufscheinen und seien gewerbsmäßige Suchtmitteldelikte und der unerlaubte Waffenbesitz unter keinen Umständen mit den Werten der hier lebenden Menschen kompatibel. Das vom Beschwerdeführer gesetzte Verhalten stelle einen klaren Bruch der österreichischen Rechtsordnung und eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre und stelle der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar. Das gegen den Beschwerdeführer erlassene Einreiseverbot sei somit angemessen, verhältnismäßig und erforderlich.

Mit Schreiben vom 10.02.2021 erhob der Beschwerdeführer durch seinen ausgewiesenen Rechtsvertreter Beschwerde gegen den Bescheid vom 15.01.2021 und brachte im Wesentlichen vor, dass seine Beziehung zwischenzeitlich in die Brüche gegangen sei, er jedoch ein gemeinsames Kind habe, das im September 2020 geboren worden sei. Darüber hinaus habe er in Österreich einen Bruder, der über den Status eines Asylberechtigten verfüge. Der Beschwerdeführer bereue seine Taten zu tiefst; er nehme keine Drogen mehr und habe den Kontakt zu seinen falschen Freunden abgebrochen. Seit dem abweisenden Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts habe sich die Lage in Afghanistan entscheidungswesentlich verschlechtert, insbesondere im Zusammenhang mit der COVID-19-Situation, die sich unter anderem negativ auf Beschäftigungsmöglichkeiten und die sozio-ökonomische Situation auswirke.

Das Bundesamt habe Verfahrensvorschriften verletzt, indem es den Beschwerdeführer nicht einvernommen, sondern ihm lediglich ein schriftliches Parteiengehör eingeräumt habe. Auch die Rückkehrsituation des Beschwerdeführers sei von Seiten des Bundesamtes nicht konkret eruiert worden. Tatsächlich würde der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr – auch unter dem Gesichtspunkt der herrschenden COVID-19-Pandemie – in eine ausweglose Lage geraten, die seine Rechte gemäß Art. 3 EMRK verletzten würde.

Die angefochtene Entscheidung leide darüber hinaus unter inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Im Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung habe das Bundesamt den angefochtenen Bescheid auf Grundlage eines mangelhaft geführten Verfahrens und einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung erlassen. Der angefochtene Bescheid sei inhaltlich rechtswidrig, weil die belangte Behörde verkannt habe, dass durch eine Rückkehrentscheidung der Beschwerdeführer in seinen Rechten nach Art 8 EMRK verletzt werde. Die belangte Behörde habe eine mangelhafte Interessensabwägung vorgenommen und sei daher zu Unrecht zu dem Schluss gelangt, dass die Verhängung einer Rückkehrentscheidung zulässig wäre.

Bei richtiger rechtlicher Beurteilung hätte dem bestehenden Familienleben des Beschwerdeführers mit seinem Kind eine hohe Bedeutung beigemessen werden müssen. Ferner hätte die Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers in Österreich von über fünf Jahren entsprechend berücksichtigt werden müssen, auch wenn der Beschwerdeführer seit etwa zwei Jahren über kein Aufenthaltsrecht mehr in Österreich verfüge. Es werde auch zu beachten sein, dass der Bruder des Beschwerdeführers in Österreich lebe und ihn zwischendurch unterstützt habe, was zumindest auf ein schützenswertes Privatleben zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Bruder hinweise.

Es hätte auch Bedacht darauf genommen werden müssen, dass der Beschwerdeführer aufgrund der derzeitigen sozio-ökonomischen Lage in Afghanistan und insbesondere in Mazar-e Sharif keine realistische Aussicht darauf habe, sich bei einer Wiederansiedlung in Afghanistan eine angemessene Existenzgrundlage zu schaffen.

Trotz der Straffälligkeit des Beschwerdeführers hätte die Behörde bei angemessener Abwägungsentscheidung daher zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Erlassung der Rückkehrentscheidung ihn in seinem Recht auf Privat- und Familienleben verletze und ihm daher eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG erteilen müssen.

Hinsichtlich der Erlassung eines auf die Dauer von 10 Jahren befristeten Einreiseverbotes moniert der Beschwerdeführer im Wesentlichen, dass die Ausschöpfung der Höchstdauer im gegenständlichen Fall unverhältnismäßig sei. Die belangte Behörde habe die Grenzen des ihr eingeräumten Ermessens überschritten.

Der Beschwerdeführer beantragte unter anderem eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen, den angefochtenen Bescheid bezüglich des Spruchpunktes II. bzw IV. zu beheben, in eventu die ausgesprochene Rückkehrentscheidung aufzuheben, die Abschiebung nach Afghanistan für unzulässig zu erklären und die Dauer des Einreiseverbots auf eine angemessene, geringere Dauer zu reduzieren.

Das Bundesamt legte am 12.02.2021 dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde sowie den Verwaltungsakt zur Entscheidung vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Er führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und spricht Dari als Muttersprache.

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Baghlan geboren und ist dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern — zwei Brüder und zwei Schwestern – aufgewachsen. Der Beschwerdeführer besuchte neun Jahre lang die Schule. Der Beschwerdeführer war in Afghanistan nicht beruflich tätig.

Der Beschwerdeführer ist ledig, gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer verfügt nach wie vor über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Der Vater des Beschwerdeführers ist im Jahr 2015 verstorben. Die Mutter des Beschwerdeführers, die als Ärztin tätig ist, sowie ein Bruder und eine Schwester des Beschwerdeführers leben nach wie vor an dessen Heimatort in der Provinz Baghlan. Die andere Schwester des Beschwerdeführers lebt in der Provinz Khost. Beide Schwestern sind verheiratet.

Der Beschwerdeführer hat weiters zwei Onkel väterlicherseits, eine Tante und zwei Onkel mütterlicherseits, die alle in der Provinz Baghlan leben. Der Mann der Tante ist Verkäufer, ein Onkel mütterlicherseits war Dolmetscher in XXXX bei kanadischen Soldaten, der zweite Onkel mütterlicherseits ist Bauer. Der eine Onkel väterlicherseits ist bei XXXX einer Hilfsorganisation tätig, und der zweite Onkel väterlicherseits ist Landwirt.

Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seinen Angehörigen bzw. kann diesen wiederherstellen.

Die Familie des Beschwerdeführers ist Eigentümerin eines Hauses und von Grundstücken im Ausmaß von 4 Jirib.

Der Beschwerdeführer ist – gemeinsam mit seinem älteren Bruder – als Minderjähriger unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und hält sich seit zumindest 09.11.2015 durchgehend in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer wurde nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedlung außerhalb von Baghlan in Mazar-e Sharif oder Herat Stadt besteht für den Beschwerdeführer als alleinstehenden leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf weiterhin keine Bedrohungssituation und liefe der Beschwerdeführer auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Der Beschwerdeführer lebt in Österreich nicht in einer Familiengemeinschaft oder einer familienähnlichen Lebensgemeinschaft. Im österreichischen Bundesgebiet hält sich sein Bruder auf, der über den Status eines Asylberechtigten verfügt. Die beiden Brüder leben nicht in einem gemeinsamen Haushalt und es besteht kein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis.

Der Beschwerdeführer gab an, Vater eines im September 2020 geborenen Sohnes einer serbischen Staatsangehörigen mit subsidiärem Schutzstatus in Österreich zu sein. Weder in der Geburtsurkunde des Kindes, Zl. XXXX , ausgestellt vom Standesamt XXXX noch im Auszug aus dem Geburtseintrag vom XXXX sind Angaben zum Vater enthalten. Ein gemeinsamer Haushalt mit dem Kind und der Kindesmutter, welche derzeit im Mutter-Kind-Heim wohnen, bestand nie und liegt auch kein Abhängigkeitsverhältnis vor. Die Beziehung zur Kindesmutter ist nicht mehr aufrecht.

Angesichts des sehr jungen Alters des Kindes, das XXXX geboren wurde und daher aktuell XXXX alt ist, und der Tatsache, dass der Beschwerdeführer vom 24.03.2020 bis zum 12.02.2021 durchgehend inhaftiert war, kann von einer tatsächlichen familiären Beziehung des Beschwerdeführers zu seinem angeblichen Sohn nicht gesprochen werden. Angesichts der wiederholten Straffälligkeit des Beschwerdeführers liegt ein zukünftiges Familienleben mit dem Beschwerdeführer und seinem angeblichen Sohn, welches bisher nicht bestanden hat, nicht im Interesse des Kindeswohls.

Eine schützenswerte verfestigte Integration des Beschwerdeführers kann nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer hat Deutschkurse und 8 Monate lang eine landwirtschaftliche Fachschule besucht. Er geht und ging in Österreich zu keiner Zeit einer Erwerbstätigkeit nach. Er bezieht seit seiner Einreise mit Unterbrechungen Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung. Der Beschwerdeführer wurde mehrfach vom Landesgericht für Strafsachen in Wien rechtskräftig verurteilt und stellen sich seine Aufenthalte in Justizanstalten wie folgt dar:

20.10.2020 – 12.02.2021  JA Korneuburg

24.03.2020 – 20.10.2020  JA Wien – Josefstadt

31.03.2019 – 09.07.2019  JA Wien – Josefstadt

01.08.2018 – 01.10.2018  JA Wien – Josefstadt

10.05.2018 – 12.06.2018  JA Wien – Josefstadt

Das wiederkehrende gesetzwidrige Verhalten des Beschwerdeführers stellt eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar und übersteigt seine privaten Interessen an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet.

Der Beschwerdeführer ist gesund, er leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten.

Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

1.2. Zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers:

1.2.1. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 14.03.2018, GZ XXXX , wurde der Beschwerdeführer als junger Erwachsener rechtskräftig wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgift nach § 15 StGB, § 27 Abs. 2a SMG, des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgift nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG und des Vergehens des unerlaubten Waffenbesitzes nach 50 Abs. 1 Z 2 WaffG zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe gemäß § 43 Abs. 1 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Bei der Strafbemessung wurden mildernd das Alter unter 21 Jahren, der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, die bisherige Unbescholtenheit des Beschwerdeführers und die teilweise geständige Verantwortung erschwerend jedoch das Zusammentreffen von mehreren Straftaten gewertet.

1.2.2. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 12.06.2018, GZ XXXX wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe gemäß § 43 Abs. 1 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Die Vorhaft vom 10.05.2018 bis 12.06.2018 wurde auf die verhängte Strafe angerechnet. Gleichzeitig wurde die mit dem oben genannten Ersturteil gewährte Probezeit auf fünf Jahre verlängert. Für die Dauer der Probezeit wurde Bewährungshilfe angeordnet.

Bei der Strafbemessung wurden mildernd das Alter unter 21 Jahren zum Tatzeitpunkt und die grundsätzliche Verantwortungsübernahme, erschwerend jedoch die einschlägige Vorstrafe und der rasche Rückfall gewertet.

1.2.3. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 04.09.2018, GZ XXXX wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen Suchtgiftmitteldelikten nach §§ 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall, 27 Abs. 2a, 27 Abs.3 SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 5 Monaten verurteilt, die am 28.12.2018 vollzogen war.

1.2.4. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 08.05.2019, GZ XXXX wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall, Abs. 2a, Abs. 3 SMG, § 15 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 8 Monaten verurteilt. Gemäß § 53 Abs. 1 StGB iVm § 494a Abs. 1 Z 4 StPO wurden die bedingten Strafnachsichten zu den Urteilen des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 14.03.2018 zu GZ XXXX und vom 12.06.2018 zu GZ XXXX widerrufen.

Bei der Strafbemessung wurden mildernd das Alter unter 21 Jahren zum Tatzeitpunkt, die geständige Verantwortung, der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist und die teilweise Sicherstellung des Suchtgiftes, erschwerend jedoch das Zusammentreffen mehrerer Vergehen, die doppelte Qualifikation im § 27 SMG (öffentlich und gewerbsmäßig), drei einschlägige Vorstrafe und der rasche Rückfall gewertet.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Überstellung in seine Herkunftsprovinz Baghlan aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfindenden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Dem Beschwerdeführer steht jedoch als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in die Städte Mazar-e Sharif und Herat zur Verfügung, wo es ihm möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem Beschwerdeführer droht bei seiner Rückkehr in diese Städte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.

Der Beschwerdeführer ist jung und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif und Herat – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der Beschwerdeführer hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr – neben den eigenen Ressourcen – auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise. Auch seine Familie kann ihn finanziell unterstützen. Er hat neun Jahre lang die Schule besucht.

Der Beschwerdeführer ist gesund und läuft im Falle einer Ansiedelung in Mazar-e Sharif oder Herat nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten, oder dass sich eine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern wird. Es sind auch sonst keine objektivierten Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere schwerwiegende körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80 % der Betroffenen leicht und bei ca. 15 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5 % der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf. Die Feststellungen zu den derzeitigen Informationen betreffend COVID-19 sind amtsbekannt und der weltweiten Gesamtberichterstattung zu entnehmen. Der Beschwerdeführer ist körperlich gesund und gehört mit Blick auf sein junges Alter und das Fehlen einschlägiger physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht sowie vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020 wiedergegeben:

"[...] 3 COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf, folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.09.2020; vgl. WB 28.06.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.09.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.06.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.09.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.09.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis ...) um 18 bis 31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.07.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.09.2020; vgl. WB 15.07.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.09.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.09.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.08.2020; vgl. NYT 31.07.2020, IMPACCT 14.08.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.09.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.07.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.09.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.07.2020). Mit Stand 22.09.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.09.2020). [...]

4 Politische Lage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 06.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.02.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.02.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.03.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt, um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.07.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.03.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.03.2020, AA 01.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa 4 Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.03.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Nach monatelangem erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.02.2020; vgl. FH 04.03.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.07.2020), und so ließen sich am 09.03.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.05.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.07.2020; vgl. NZZ 20.04.2020, DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.05.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.07.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.06.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004; USDOS 20.06.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.07.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.07.2020; vgl. DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.07.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020; REU 06.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida, keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.02.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 06.10.2020; vgl. AJ 05.10.2020, BBC 22.09.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 05.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.09.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 06.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.09.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 05.10.2020). [...]

5 Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).

Für den Berichtszeitraum 01.01.2020 - 30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.07.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonalen Trends gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.03.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.01.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020). [...]

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuss (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.07.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 01.07.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fan

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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