TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/24 L519 2222241-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.02.2021
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Entscheidungsdatum

24.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


L519 2222241-2/16E

L519 2222243-2/11E

L519 2222244-2/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr.ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , StA Türkei, 2. XXXX , geb. XXXX , StA Türkei und 3. XXXX , geb. XXXX , StA Türkei, alle vertreten durch RA DDr.LUKITS, LL.M., gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.07.2020, Zlen. XXXX , XXXX und XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.10.2020 betreffend Anträge auf internationalen Schutz und Erlassung von Rückkehrentscheidungen, zu Recht:

A) Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin (BF1) ist die Mutter des unmündigen minderjährigen Zweitbeschwerdeführers (BF2) und der unmündigen minderjährigen Drittbeschwerdeführerin (BF3). Sämtliche Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Türkei, der kurdischen Volksgruppe zugehörig und sunnitischen Glaubens.

2. Die drei BF stellten im Gefolge ihrer legalen Einreise am 20.09.2018 in das Bundesgebiet am 29.11.2018 Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln aus Gründen des Art 8 EMRK gem. § 55 Abs 1 AsylG.

Gegen die abweisenden Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.06.2019 wurden fristsgerecht Beschwerden erhoben.

Diese wurden vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 02.01.2020, L524 2222241-1/5E als unbegründet abgewiesen.

3.1. Am 05.02.2020 stellte die BF1 für sich und ihre minderjährigen Kinder die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz und erfolgte am gleichen Tag die niederschriftliche Erstbefragung.

Dabei gab die BF1 an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehörige der Türkei zu sein. Sie sei am XXXX in XXXX geboren, Angehörige der kurdischen Volksgruppe und sunnitischen Glaubens. Sie sei geschieden und hätte im Herkunftsland acht Jahre die Schule besucht. Sie hätte keinen Beruf erlernt und wäre nie berufstätig gewesen. Zu den Gründen ihrer Ausreise befragt führte die BF1 aus, dass sie ständig von ihrem Ex-Gatten bedroht worden wäre. Sie wäre in der Türkei alleine mit den beiden Kindern gewesen und hätte niemanden gehabt, der auf sie aufpasst. Der ehemalige Gatte hätte ihr auch mit dem Tod gedroht. Bei einer Rückkehr hätte sie Angst um ihr Leben.

3.2. Zum BF2 gab die BF1 an, dass dieser den Namen XXXX führe und Staatsangehöriger der Türkei sei. Er sei am XXXX in XXXX geboren, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und sunnitischen Glaubens. Zur BF3 führte die BF1 aus, dass diese den Namen XXXX führe und am XXXX geboren wäre. Die BF3 sei ebenfalls Staatsangehörige der Türkei und sunnitischen Glaubens. Beide Kinder werden gesetzlich von der Mutter vertreteten und gab diese zu den Fluchtgründen des BF2 und der BF3 bekannt, dass diese keine eigenen hätten und deswegen ihre Gründe auch für die Kinder Geltung hätten.

4. Nach Zulassung des Verfahrens wurde die BF1 am 03.07.2020 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen.

Zu den Gründen ihrer Antragstellung befragt gab die BF1 an, dass sie von ihrem alkoholkranken Mann mehrmals geschlagen worden wäre. Einmal wäre er auch mit einem Messer auf sie losgegangen, ein anderes Mal hätte er ihr während des Essens die Gabel in ihr Bein gestochen, die Kinder hätten dies mit angesehen und wären sehr traurig gewesen. Ihr Gatte wäre fast ein Jahr wegen Suchgiftdelikten im Gefängnis gesessen. Die Gewalttätigkeiten hätten sich über Jahre fortgesetzt und hätte er die BF1 dann auch mehrmals mit dem Tod bedroht, wenn sie sich scheiden lassen würde. Sie hätte auch den Kindern keine Kleidung, kein Spielzeug und keine Lebensmittel kaufen können, weil sie von ihm kein Geld bekommen hätte. Geld hätte sie von ihrem Vater oder ihrer Schwester bekommen, die es ihr geschickt hätten. Sie hätte wegen der häuslichen Gewalt auch einmal die Polizei aufgesucht, diese hätte jedoch nichts unternommen. Weil es der ehemalige Gatte nicht erlaubte, wäre sie keiner Arbeit nachgegangen.

Bezüglich der Fluchtgründe des BF2 und der BF3 teilte die BF1 mit, dass die von ihr bekanntgegebenen Fluchtgründe auch für ihre Kinder gelten. Die Kinder hätten keine eigenen Fluchtgründe.

5. Von den BF wurden keine Stellungnahmen zu den aktuellen länderkundlichen Informationen eingebracht.

6. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.07.2020 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurden die Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei ebenso abgewiesen (Spruchpunkt II). Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurden nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurden Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkt VI).

Begründend führte das Bundesamt aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass den BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität droht. Eine Verfolgung von staatlicher Seite wurde nicht behauptet, sonstige aslyrelvante Gründe konnten nicht glaubhaft gemacht werden.

In der Beweiswürdigung wurde diesbezüglich dargelegt, das die BF1 am 28.11.2018 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK stellte und schlussendlich die gegen den negativen Bescheid des Bundesamtes eingereichte Beschwerde am 02.01.2020 mit Erkenntis des BVwG abgewiesen wurde. Erst nach der rechtskräftigen Abweisung, zudem noch weitere vier Wochen zuwartend, wurden Anträge auf internationalen Schutz eingebracht. Weiter sei nicht nachvollziehbar, dass die BF1 erst im September 2018 nach Österreich reiste, obwohl die häusliche Gewalt schon 2011 begonnen hätte und die Scheidung auch schon 2015 oder 2016 erfolgt wäre. Das Vorbringen ist aus diesen Gründen nicht glaubwürdig und ergeht deswegen die Feststellung, dass die von der BF1 geschilderten Geschehnisse in ihrer Gesamtheit nicht glaubhaft sind.

Im Zuge des Familienverfahrens wird bei den BF2 und BF3 auf die Ausführungen zur BF1 verwiesen.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, die BF haben keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Den BF sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, weil keine Bedrohung iSd § 8 AsylG glaubhaft gemacht werden konnte. Auch sonstige, in der Person der BF liegende Merkmale, wären diesbezüglich nicht hervorgekommen. Es hätten sich zusammenfassend keine Anhaltspunkte ergeben, dass die BF im Herkunftsstaat mit einer Verletzung der ihnen aus Art 3 EMRK zustehenden Rechte zu rechnen hätten. Bei den BF könnte zudem nicht davon ausgegangen werden, dass eine Alternativvoraussetzung gem § 57 Abs 1 AsylG erfüllt sei, weswegen schließlich auch kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt werden kann.

7. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei traf die belangte Behörde ausführliche, aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.

8. Gegen die den BF am 27.07.2020 zugestellten Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die fristgerecht eingebrachten Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht.

In diesen werden inhaltliche Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, die angefochtenen Bescheide abzuändern und den Anträgen auf internationalen Schutz Folge zu geben und den Beschwerdeführern den Status von Asylberechtigten oder hilfsweise den Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen und die jeweiligen Spruchpunkte III. aufzuheben oder hilfsweise festzustellen, dass Rückkehrentscheidungen auf Dauer unzulässig seien und daher festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltstiteln aus Gründen des Art 8 EMRK gegeben wären. Eventualiter die Bescheide ersatzlos zu beheben und zur neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.

Das BFA hätte die Pflicht zur amtswegigen Ermittlung in mehrfacher Weise verletzt, so bei den Problemen mit der Schutzsuche in Frauenhäusern, auch sei das Kindeswohl unzureichend berücksichtigt worden und wären die Länderfeststellungen unvollständig und unrichtig.

Zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit wird angeführt, dass die BF1 wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen, die von Ehrenmord bedroht sind, jedenfalls die Definition eines Flüchtlings im Sinne der GFK zutreffe. Die in diesem Fall vorliegende Häufung von Benachteiligungen und Schikanen sind als Verfolgung zu werten. Auch würde keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen, weil sich die Verfolgung auf das ganze Staatsgebiet beziehe.

Im Hinblick auf die Beweiswürdigung der angefochtenen Bescheide wird in den Beschwerden ausgeführt, dass das BFA nicht begründet hätte, warum es das Vorbringen der BF1 nicht für glaubwürdig hält.

9. Mit Eingabe vom 28.09.2020 langte der vorbereitende Schriftsatz der aktuellen rechtlichen Vertretung ein. Inhaltlich wird moniert, dass die letzte Misshandlung in der Türkei nicht „2018 Juli-Aug“, sondern „zuletzt 2018 Juli-Aug“ heißen müsse. Zudem wäre bei der Erstbefragung die Seite 8 der Niederschrift nicht rückübersetzt worden. Auch hätte sich die damalige rechtliche Vertretung eines nicht geeigneten Dolmetschers bedient, so sei fälschlicherweise ausgeführt worden, dass auch der BF2 geschlagen worden wäre. Auch hätten nicht die Eltern eine Haftungserklärung unterzeichnet, sondern nur der Vater. Fehlen würde ferner, dass die BF1 von sich aus einmal zur Polizei gegangen wäre und würden auch die Angaben über die Anzahl der Geschwister der BF1 nicht stimmen. Moniert werde weiters die Situation in der Einvernahme vor dem Bundesamt, weites wurden Ausführungen zur Herkunftsregion, zum Fehlen einer innerstaatlichen Fluchtalternative und zum Privat- und Familienleben getätigt.

10. Am 05.10.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein der BF1 samt deren rechtsfreundlicher Vertretung sowie eines Dolmetschers für die türkische Sprache durchgeführt. Dabei wurde auch ein nicht näher bezeichnetes Schriftstück der klinischen Psychologin Mag. XXXX den BF2 betreffend vorgelegt. Darin wird mitgeteilt, dass sich beim BF2 das akute Zustandsbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1 nach ICD-10) zeige.

11. Mit Eingabe vom 12.10.2020 langte ein mit Protokollanmerkungen bezeichnetes Schriftstück der rechtsfreundlichen Vertretung ein. Darin wird ua. moniert, dass der Vater der BF1 vom Sicherheitspersonal unter Verweis auf bestehende Corona-Maßnahmen am Betreten des BVwG gehindert worden wäre. Auch lägen Protokollierungs-/Übersetzungsfehler zu den Themen Beginn der Verfolgung, einvernehmliche Scheidung, letzter Übergriff vor der Ausreise und Information der Familie vor. Demenstprechende Rügen wären in der Verhandlung vom Dolmetscher nicht berücksichtigt worden. Zudem wird der Antrag auf Einvernahme des Rechtsvertreters als Zeugen gestellt.

12. Hinsichtlich des Verfahrensganges im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1. Zu den Beschwerdeführern:

Die Erstbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX , ist Staatsangehörige der Türkei und Angehörige der kurdischen Volksgruppe und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung. Sie wurde am XXXX in XXXX geboren und lebte dort mit den Kindern. Die 2009 mit dem Vater von BF2 und BF3 eingegangene Ehe wurde 2016 geschieden. Die Identität der BF1 steht fest.

Die Erstbeschwerdeführerin ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

Die Erstbeschwerdeführerin besuchte acht Jahre die Schule. Sie hat keine Berufsausbildung.

In der Türkei leben der Großvater väterlicherseits, eine Tante und zwei Onkel.

Am 20.09.2018 verließ die Erstbeschwerdeführerin mit ihren beiden Kindern die Türkei legal auf dem Luftweg und reiste mit einem bis 19.11.2018 gültigen Visum C nach Österreich, wo sie am 28.11.2018 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK stellte. Vom BFA wurde dieser Antrag am 24.06.2019 abgewiesen, die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom BVwG mit Erkenntnis vom 02.10.2020 als unbegründet abgewiesen, woraufhin die BF1 am 05.02.2020 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Der Zweitbeschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist Staatsangehörige der Türkei und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und sunnitischer Glaubensrichtung. Er wurde am XXXX in XXXX geboren und lebte dort mit der Erstbeschwerdeführerin und bis 2016 auch mit dem Vater zusammen. Die Identität des BF2 steht fest.

Für den Zweitbeschwerdeführer wurde ein nicht näher bezeichnetes Schriftstück eingebracht, indem inhaltlich mitgeteilt wird, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Ansonsten ist er gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

Die Drittbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX , sie ist Staatsangehöriger der Türkei und Angehörige der kurdischen Volksgruppe und sunnitischer Glaubensrichtung. Sie wurde am XXXX in XXXX geboren und lebte dort mit der Erstbeschwerdeführerin und bis 2016 auch mit dem Vater zusammen. Die Identität der BF3 steht fest.

Der BF3 ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

Der BF2 und die BF3 verließen gemeinsam mit ihrer Mutter am 20.09.2018 die Türkei und stellte die BF1 als gesetzliche Vertretung für den BF2 und die BF3 am 05.02.2020 die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

Alle BF verfügen über türkische Reisepässe.

Die BF1 ist in Österreich strafrechtlich unbescholten, BF2 und BF3 sind strafunmündig. Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet war und ist nicht nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

Die Beschwerdeführer gehören keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatten in ihrem Herkunftsstaat vor der Ausreise keine Schwierigkeiten mit staatlichen Organen, Sicherheitskräften oder Justizbehörden zu gewärtigen.

Die Beschwerdeführer gehören nicht der Gülen-Bewegung an und waren nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer vor der Ausreise Schwierigkeiten aufgrund ihres Bekenntnisses zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam bzw. ethnischen Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe zu gewärtigen hatten. Auch wurden keine Schwierigkeiten wegen einer behaupteten Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe einer alleinstehenden geschiedenen Frau mit unmündigen Kindern festgestellt.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass die BF1 durch ihren Ex-Gatten jahrelang häusliche Gewalt erlitten hätte.

Den Beschwerdeführern droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe.

Die BF1 ist gesund und eine arbeits- und anpassungsfähige Person mit grundlegender Schulbildung. Die BF1 besuchte acht Jahre lang die Schule und kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder. Ihr bisheriges Leben wurde von der Verwandtschaft, primär vom Vater, finanziert. Die BF verfügen über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage in ihrem Herkunftsstaat und eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft. Der BF1 ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung ihres Auskommens möglich und zumutbar.

Die Beschwerdeführer halten sich seit dem 20.09.2018 durchgehend in Österreich auf.

Die BF1 ist nicht legal erwerbstätig, hat keine Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt in Aussicht und lebt von ihrem Vater, der auch ihr Leben in der Türkei finanzierte. In Österreich wohnen die Eltern, eine Schwester und ein Bruder, sowie Tanten und Onkel der BF1. Die BF1 hat keine Kontakte zu österreichischen Personen, absolvierte keine Deutschkurse und ist in keinem Verein und keiner Organisation tätig. Sie ist außer für ihre Kinder für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig.

Im gegenständlichen Fall ergab sich weder eine maßgebliche Änderung bzw. Verschlechterung in Bezug auf die die BF betreffende asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Herkunftsstaat, noch in sonstigen in der Person der BF gelegenen Umständen gegenüber dem erstinstanzlichen Bescheid.

Ebenso ergab sich keine sonstige aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation der BF.

Eine relevante Änderung der Rechtslage konnte ebenfalls nicht festgestellt werden.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass den BF eine aktuelle sowie unmittelbare persönliche und konkrete Gefährdung oder Verfolgung in ihrem Heimatland Türkei droht. Ebenso konnte unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei der Gefahr einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt wären.

Weiter konnte unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Des Weiteren liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ nicht vor und ist die Erlassung von Rückkehrentscheidungen geboten. Die Abschiebung der BF in die Türkei ist zulässig und möglich.

Weitere Ausreisegründe und/oder Rückkehrhindernisse kamen bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht hervor.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat:

1.       Politische Lage

Letzte Änderung am 29.11.2019

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 14.6.2019). Diese Entwicklung wurde mit der Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Juni 2018 abgeschlossen, u.a. wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft (bpb 9.7.2018).

Die Venedig Kommission des Europarates zeigte sich in einer Stellungnahme zu den Verfassungsänderungen besorgt, da mehrere Kompetenzverschiebungen zugunsten des Präsidentenamtes die Gewaltenteilung gefährden, und die Verfassungsänderungen die Kontrolle der Exekutive über Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft in problematischerweise verstärken würden. Ohne Gewaltenkontrolle würde sich das Präsidialsystem zu einem autoritären System entwickeln (CoE-VC 13.7.2017).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden Stimmen stärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die unter Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und es der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).

Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustands sind viele seiner Verordnungen in die ordentliche Gesetzgebung aufgenommen worden. Das neue Präsidialsystem hat etliche der bisher bestehenden Elemente der Gewaltenteilung aufgehoben und die Rolle des Parlaments geschwächt. Dies hat zu einer stärkeren Politisierung der öffentlichen Verwaltung und der Justiz geführt. Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen; gegen Gesetze Veto einzulegen, und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z.B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind inzwischen dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019).

Zunehmende politische Polarisierung, insbesondere im Vorfeld der Gemeinderatswahlen vom März 2019, verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft. Laut europäischer Kommission muss die parlamentarische Immunität gestärkt werden, um die Meinungsfreiheit der Abgeordneten zu gewährleisten (EC 29.5.2019).

Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018).

Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands in Gewahrsam genommen und mehr als 78.000 wegen Terrorismusbezug verhaftet, von denen 50.000 noch im Gefängnis sitzen (EC 29.5.2019). Die rund 50.000 wegen Terrorbezug Inhaftierten machen 17% aller Gefängnisinsassen aus (AM 4.12.2018).

[siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 4.10.2019

?        Anadolu Agency (23.6.2019): CHP's Imamoglu wins Istanbul’s mayoral poll, https://www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/1513613, Zugriff 4.10.2019

?        AM – Al Monitor (4.12.2018): Turkey can't build prisons fast enough to house convict influx, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/11/turkey-overcrowded-prisons-face-serious-problems.html, Zugriff 4.10.2019

?        bpb – Bundeszentrale für politische Bildung (9.7.2018): Das "neue" politische System der Türkei, https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/255789/das-neue-politische-system-der-tuerkei, Zugriff 3.10.2019

?        CoE-VC – council of europe - european commission for democracy through law (venice commission) (13.7.2017): Turkey - Opinion - The Amendments to the Constitution adopted by the Grand National Assembly on 21 January 2017 and to be submitted to a National Referendumon 16 April 2017 [Opinion No. 875/2017], S.29, Abs.130, https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=cdl-ad(2017)005-e, Zugriff 3.10.2019

?        EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 3.10.2019

?        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage-fuer-erdogans-akp-in-istanbul-16250529.html, Zugriff 4.10.2019

?        HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 4.10.2019

?        HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 4.10.2019

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 4.10.2019

?        NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.6.2019): Niederlage für Erdogans AKP: CHP-Kandidat Imamoglu gewinnt erneut die Bürgermeisterwahl in Istanbul, https://www.nzz.ch/international/niederlage-fuer-erdogans-akp-chp-kandidat-imamoglu-gewinnt-erneut-die-buergermeisterwahl-in-istanbul-ld.1490981, Zugriff 4.10.2019

?        OSCE – Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 4.10.2019

?        OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey – Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 4.10.2019

?        OSCE/ODIHR – Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (21.9.2018): Turkey, Early Presidential and Parliamentary Elections, 24 June 2018: Final Report,https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/397046?download=true, 3.10.2019

?        Der Standard (1.4.2019): Erdo?ans AKP verliert bei türkischer Kommunalwahl die Großstädte, https://derstandard.at/2000100581333/Erdogans-AKP-verliert-die-tuerkischen-Grossstaedte, Zugriff 4.10.2019

?        Der Standard (23.6.2019): Opposition gewinnt Wahlwiederholung in Istanbul, https://derstandard.at/2000105305388/Imamoglu-bei-Auszaehlung-der-Wahlwiederholung-in-Istanbul-in-Fuehrungin-Istanbul, Zugriff 4.10.2019

?        ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 4.10.2019

2.       Sicherheitslage

Letzte Änderung am 29.11.2019

Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie – in sehr viel geringerem Ausmaß – auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und A?r? (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen A?r?, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbak?r, Gaziantep, Hakkâri, Kilis, Mardin, ?anl?urfa, Siirt, ??rnak, Tunceli und Van, wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019).

Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 8.10.2019

?        AA – Auswärtiges Amt (8.11.2019a): Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/tuerkeisicherheit/201962#content_1, Zugriff 8.10.2019

?        BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (8.11.2019): Türkei – Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 8.10.2019

?        EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 3.10.2019

?        EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (4.10.2019): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 4.10.2019ICG – Internal Crisis Group (4.10.2019): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer, Zugriff 7.10.2019

?        IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (1.2.2017): IHD’s 2016 Report on Human Rights Violations in Eastern and Southeastern Anatolia Region, https://ihd.org.tr/en/ihds-2016-report-on-human-rights-violations-in-eastern-and-southeastern-anatolia/, Zugriff 4.10.2019

?        IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (24.5.2018): 2017 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_balance-sheet-1.pdf, Zugriff 4.10.2019

?        IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (19.4.2019): 2018 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-SUMMARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf, Zugriff 4.10.2019

2.1.    Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Letzte Änderung am 29.11.2019

Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei, PKK, die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 haben PKK-Attentate und Operationen mehr als 40.000 militärische und zivile Opfer gefordert. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2019).

Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 6.2019)

2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch HDP-Politiker zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der AKP im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2019). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2019).

Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den südostanatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich im Berichtszeitraum (2018) fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH-D 6.2019).

Quellen:

?        BMIBH-D - Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat [Deutschland] (6.2019): Verfassungsschutzbericht 2018, https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2018.pdf, Zugriff 9.10.2019

?        BMI-D - Bundesministerium des Innern [Deutschland] (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsbericht-2015.pdf, Zugriff 25.10.2019

?        ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 25.10.2019

2.2.    Terroristische Gruppierungen: TAK - Teyrêbazên Azadiya Kurdistan – (Freiheitsfalken Kurdistans)

Letzte Änderung am 29.11.2019

TAK ist eine mit der PKK verbundene terroristische Vereinigung. Die TAK wurde Berichten zufolge 1999 von PKK-Führern gegründet, nachdem der PKK-Gründer, Abdullah Öcalan, verhaftet worden war. Im Jahr 2004 beschuldigte die TAK die PKK jedoch des Pazifismus und spaltete sich öffentlich von der PKK ab. Die TAK soll aus jungen städtischen Rekruten bestehen. Seit 2004 hat sie mehr als ein Dutzend tödlicher Angriffe im ganzen Land verübt, darunter der Beschuss eines türkischen Militärkonvois im Februar 2016 in Ankara und die Bombenanschläge vom Dezember 2016 vor einem Sportstadion in Istanbul. Die türkische Regierung bestreitet die Trennung von TAK und PKK und behauptet, die TAK sei ein terroristischer Stellvertreter ihrer Mutterorganisation, der PKK. Sicherheitsanalysten zufolge ist die TAK mit der PKK durch ideologische Doktrin, militärische Ausbildung, Rekrutierung und die Lieferung von Waffen verbunden, allerdings koordiniert und führt sie selbstständig Angriffe durch. Die TAK wurde von den USA, der Türkei und der EU als terroristische Organisation eingestuft (CEP 15.10.2018).

Die TAK gilt als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operiert die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).

Quellen:

?        CEP – Counter Extremism Project (15.10.2018): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/sites/default/files/country_pdf/TR-10152018.pdf, Zugriff 9.10.2019

?        AM – Al Monitor (29.2.2016): Who is TAK and why did it attack Ankara? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/02/turkey-outlawed-tak-will-not-deviate-line-of-ocalan.html, Zugriff 9.10.2019

3.       Rechtsschutz/Justizwesen

Letzte Änderung am 6.4.2020

Der zwei Jahre andauernde Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hat zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit geführt (EP 13.3.2019; vgl. PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 29.5.2019, USDOS 11.3.2020). Negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten und der Justiz wurden nicht angegangen (EC 29.5.2019). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme wie der Missbrauch der Untersuchungshaft verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).

Neben der Aushöhlung der verfassungsrechtlichen und strukturellen Garantien zur Wahrung der Unabhängigkeit der Richter und Maßnahmen, die sich direkt auf diese Unabhängigkeit ausgewirkt haben, wie z.B. fristlose Entlassungen und Einstellungen, gibt es Hinweise auf eine zunehmende Parteilichkeit der Justiz gegenüber politischen Interessen, was durch die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bestätigt wurde (CoE-CommDH 19.2.2020). Das Europäische Parlament (EP) verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind (EP 13.3.2019). Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (bianet 24.2.2020).

Obwohl die Autonomie der Justiz eingeschränkt ist, entschieden die Richter in wichtigen Fällen im Jahr 2019 manchmal auch gegen die Regierung, beispielsweise in den Fällen, in denen Akademiker ein Ende der staatlichen Gewalt in kurdischen Gebieten im Jahr 2016 gefordert hatten (FH 4.3.2020).

Die Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems trug zu den Bedenken bei, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden. Die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz ist nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) zu stärken. An der Einrichtung der Friedensrichter in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i), die zu einem parallelen System werden könnten, wurden keine Änderungen vorgenommen (EC 29.5.2019).

Die Entlassung von mehr als 4.800 Richtern und Staatsanwälten führt auch zu praktischen Problemen, da für die notwendigen Nachbesetzungen keine ausreichende Zahl an entsprechend ausgebildeten Richtern und Staatsanwälten zur Verfügung steht (Erfordernis des zwei-jährigen Trainings wurde abgeschafft). Die im Dienst verbliebenen erfahrenen Kräfte sind infolge der Entlassungen häufig schlichtweg überlastet. In einigen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonierten Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa denjenigen, betreffend Terrorismusvorwürfe, leidet die Qualität der Urteile häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und oberflächlicher Beweisführung (ÖB 10.2019).

Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Art. 138 der Verfassung regelt die Unabhängigkeit der Richter (AA 14.6.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die EU-Delegation in der Türkei kritisiert jedoch, dass diese Verfassungsbestimmung durch einfach-rechtliche Regelungen unterlaufen wird. U.a. sind die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2019). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf der 22 Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet, Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK teils vom Staatspräsidenten, teils vom Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen der Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde auf 13 reduziert (AA 14.6.2019).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Dan??tay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyu?mazl?k Mahkemesi) (ÖB 10.2019). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 14.6.2019).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde in der Hauptsache auf Strafkammern übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen (ÖB 10.2019). Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (EC 29.5.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019). Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2019).

Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Auch andere höhere Gerichte werden von untergeordneten Instanzen der Rechtsprechung ignoriert. Entgegen dem Urteil des Obersten Kassationsgerichtes bestätigte im November 2019 ein untergeordnetes Gericht in Istanbul seine Verurteilung von zwölf Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet, denen unterschiedliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorgeworfen wurden (AM 21.11.2019).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte – jedenfalls in Terrorprozessen – bei den Verteidigungsmöglichkeiten. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der PKK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Beweisanträge dazu werden zurückgewiesen. Insgesamt kann – jedenfalls in den Gülenisten-Prozessen – nicht von einem unvoreingenommenen Gericht und einem fairen Prozess ausgegangen werden (AA 14.6.2019).

Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 11.4.2020). So wird gegen Anwälte strafrechtlich ermittelt, sie werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft. Die Gerichte beteiligen sich an diesem Angriff gegen die Anwaltschaft, indem sie die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismusvorwürfen verurteilen. Die Beweislage hierbei ist meist dürftig und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Dieser Missbrauch der Strafverfolgung gegen Anwälte wurde von Gesetzesänderungen begleitet, die das Recht auf Rechtsbeistand für diejenigen untergraben, die willkürlich wegen Terrorvorwürfen inhaftiert wurden (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 gibt es eine Verhaftungskampagne, die sich gegen Anwälte im ganzen Land richtet. In 77 der 81 Provinzen der Türkei wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Bis heute wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und 599 Anwälte festgenommen. Bisher wurden 321 Anwälte wegen ihrer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (CCBE 1.9.2019).

Nach Änderung des Antiterrorgesetzes vom Juli 2018 soll eine in Polizeigewahrsam (angehaltene) befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer U-Haft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung der Polizeigewahrsam ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, z.B. bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal, zu je vier Tagen, möglich, insgesamt daher maximal zwölf Tage Polizeigewahrsam. Während des Ausnahmezustandes waren es bis zu 14 Tagen, mit einmaliger Verlängerung nach sieben Tagen. Die maximale U-Haftdauer beträgt gem. Art. 102 (1) der türkischen Strafprozessordnung (SPO) bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, ein Jahr. Aufgrund von besonderen Umständen kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) SPO beträgt die U-Haftdauer höchstens zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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